Die Geschichte von KISS. Gene Simmons

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Название Die Geschichte von KISS
Автор произведения Gene Simmons
Жанр Изобразительное искусство, фотография
Серия
Издательство Изобразительное искусство, фотография
Год выпуска 0
isbn 9783854454441



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sie einen Vertrag mit Epic Records in der Tasche hatten, wurden Gene und Paul sich der Tatsache bewusst, dass Wicked Lester nie ihrer musikalischen Vision würde gerecht werden können. Sie traten ihren Deal mit Epic in die Tonne – und Wicked Lester waren Geschichte.

      GENE SIMMONS: Paul und ich waren unglücklich mit der Platte. Die Songs waren okay, aber es war alles nicht so cool wie die Sachen dieser ganzen englischen Bands. Es hatte so einen Westküsten-Hippie-Sound und erinnerte an Three Dog Night und die Doobie Brothers. Es war zu eklektisch. Gruppen wie The Who oder die Rolling Stones hatten einen definierten Sound und einen wiedererkennbaren Look. Wicked Lester fehlte einfach ein typischer Sound, eine Identität mit Wiedererkennungswert.

      PAUL STANLEY: Das Problem von Wicked Lester war, dass die Band ein Frankenstein-Monster war, das sich im Studio weiterentwickelte. Wir verbrachten ein Jahr im Studio, um mit einem Produzenten zu arbeiten, der viel mehr Erfahrung als wir hatte, der aber weniger als wir auf eine bestimmte Richtung festgelegt war. Und an diesem Punkt waren wir mehr als bereit, alles auszuprobieren. Das Album ist der Beweis dafür. Es war völlig unkoordiniert. Komplett ziellos.

      GENE SIMMONS: Wir waren am Ende. Es fühlte sich nicht mehr richtig an. Wir waren vom Weg abgekommen. Wir hatten kein Image. Wenn ich mir das Wicked-Lester-Zeug anhöre, dann fällt mir auf, dass auf „She“ Flöten zu hören sind, und „Love Her All I Can“ war ein Dance-Track. Wir waren ins Schwimmen gekommen. Schließlich sahen Paul und ich einander an und sagten: „Wir müssen die Band auflösen.“

      PAUL STANLEY: Die Band entwickelte sich nirgendwohin. Also warum an etwas arbeiten, das von Anfang an fehlerhaft war? Und so lösten wir in unserer dreisten Naivität die Band auf. Zuerst feuerten wir die anderen Typen. Einer von ihnen, Tony [Zarrella], sagte: „Ich werde meinen Vertrag erfüllen.“ Also sagten wir [lacht]: „Dann steigen eben wir aus.“ Egal wie, wir zogen einen Schlussstrich unter diese Band.

      GENE SIMMONS: Ich kann es ehrlich nicht erklären, warum wir diese Klarheit und diesen Weitblick besaßen, denn die meisten hätten so einem geschenkten Gaul nicht mehr ins Maul geschaut. Wir hatten einen Plattenvertrag bei einem Major-Label. Man muss schon sehr arrogant, weltfremd oder verrückt sein, so einen Plattendeal sausen zu lassen. Aber es war nicht das, was wir wollten. Also entschieden Paul und ich uns zu diesem Quantensprung, die Band aufzulösen und eine neue Band zu gründen, die dann KISS war. Es erinnert mich an diese Szene in 2001: Odyssee im Weltraum, in der der Monolith erscheint und die Affen sich ihm grundlos nähern und ihn berühren, was ihnen diesen immensen Sprung vorwärts in der Evolution beschert. Wicked Lester waren Geschichte, und Paul und ich verschwendeten keine Zeit. Wir hatten immer noch das Loft. Ich bezahlte die Miete, weil alle anderen pleite waren. Paul arbeitete in einem Sandwich-Laden; nachts fuhr er Taxi und schlief dann meist den Tag durch. Ich hatte einen Job als Assistent des Direktors des Puerto Rican Interagency Councils, eines von der Regierung finanzierten Forschungsprojekts. Ich verdiente ganz gut dort, 23 000 Dollar im Jahr, was damals ein schönes Sümmchen war. Ich war begabt. Ich tippte auf Tonband aufgezeichnete Gespräche ab und arbeitete auch am Matrizendrucker und an der Vervielfältigungsmaschine. Ich kannte mich damit aus, weil ich als Junge Fantasy- und Science-Fiction-Fanzines herausgegeben hatte.

      PAUL STANLEY: Der erste Punkt, der uns beschäftigte, war, unsere Musik zu definieren, wobei sich schnell herausstellte, dass sie sehr gitarrenlastig sein würde. Humble Pie waren eine der Inspirationen für den Sound von KISS. Sie im Fillmore live zu sehen und Steve Marriott dabei zu beobachten, wie er das Publikum dirigierte und ihm predigte, inspirierte mich. Seine Herangehensweise war etwas, das ich auch probieren wollte, aber eben auf meine Art. Wir wollten also eine Band mit heavy Gitarren, aber Songs mit starken Melodien und Refrains. Das war auch das, womit ich aufgewachsen war. Es basierte mehr auf den Autoren im Brill Building und deren Sound als auf Headbanging. Es ging mir um einen Song mit einem packenden Refrain. Es heißt ja nicht umsonst „Hook“: Es soll dich packen und dich nicht mehr vom Haken lassen. Die Idee war also, das Feeling alter Tin Pan Alley/Brill Building-Sachen mit den Beatles zu kombinieren und die Gitarren mehr zu betonen, etwa wie bei Led Zeppelin oder den Stones oder The Who. Interessanterweise lag der Schwerpunkt auf der Rhythmusgitarre, die das Fundament von allem ist. Ohne sie fällt alles auseinander.

      GENE SIMMONS: In unserem Sound war auch etwas von Slade, Songs wie „Gudbuy T’Jane“ oder „Mama Weer All Crazee Now“. Wenn man diese Songs hörte, wusste man sofort, dass es genau passte: zwei Gitarren, Bass, Drums, diese Art von Texten. „Mama Weer All Crazee Now“ ist so eine Art Schwesternsong zu „Rock and Roll All Nite“. Die Lyrics, „you drive us wild, we’ll drive you crazy“ – das schlägt in dieselbe Kerbe.

      PAUL STANLEY: Ich stand total auf alles, was aus England kam, visuell und musikalisch. Alles Britische eben, von den Beatles zu The Who, von den Stones zu den Kinks, über The Move zu den Small Faces. Es gab sogar Bands, die mir gar nicht so gefielen, aber trotzdem meine Aufmerksamkeit auf sich zogen. Ich hörte Dave Dee, Dozy, Beaky, Mick & Tich, die damals riesigen Erfolg in England hatten. Ich fand zwar keinen Zugang zu ihnen, aber wie sie aussahen und diese Kameraderie, die unter ihnen bestand, sprach mich an. Es erinnerte mich an die Beatles. Die meisten britischen Bands verströmten diese Aura von Brüderlichkeit. Sie zogen sich alle gleich an. Es war wie ein Club, bei dem man gerne dabei gewesen wäre. Wir mussten uns darauf fokussieren, wer wir sein wollten.

      GENE SIMMONS: Paul und ich entschlossen uns, aus dem Bauch heraus zu handeln. Wir würden es wissen, wenn wir es hörten. Wir würden es wissen, wenn wir es fühlten. Das Gefühl, das einen aufhören lässt, wenn man am Radio herumdreht. Ohne es auszusprechen, war es genau das, wofür Paul und ich uns entschieden, als wir KISS zusammenstellten. Paul und mir war es bewusst, dass die Bands, die wir verehrten, nicht nur großartige Platten veröffentlichten, sondern auch live zu überzeugen vermochten – Leute wie The Who oder Jimi Hendrix. Uns fiel auf, dass wir uns nicht nur über ihre Songs unterhielten, sondern auch über ihre Bühnenshows. Die visuelle Komponente war wichtig: „Hast du Pete Townshend gesehen, wie er durch die Luft sprang und seine Gitarre zertrümmerte?“ Wir fragten uns gegenseitig: „Hast du diese Band live gesehen?“

      PAUL STANLEY: Ganz einfach – wir wollten die Band sein, die wir selbst gerne live gesehen hätten, die es aber noch nicht gab.

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      Paul Stanleys original handgeschriebene Lyrics für den Wicked-Lester-Song „Keep Me Waiting“ Mit freundlicher Genehmigung von Ross Koondel

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      Wicked-Lester-Tapebox Mit freundlicher Genehmigung von Brad Estra

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      Eine Werbeanzeige für die Electric Lady Studios. Auch Genes und Pauls Band Wicked Lester wird erwähnt Mit freundlicher Genehmigung von Ross Koondel

      3: Irgendwo in Manhattan

      Paul und Gene ließen Wicked Lester hinter sich und arbeiteten an Ideen für eine Gruppe, die die Power von Slade, Humble Pie und The Who zusammen mit den Theatereffekten von Alice Cooper, David Bowie und The Crazy World of Arthur Brown unter einen Hut bringen sollte. Schlagzeuger Peter Criss gab zur gleichen Zeit eine Anzeige im Rolling Stone auf („Erfahrener Rock & Roll-Schlagzeuger sucht Band für softe & harte Musik“), die in der Ausgabe vom 31. August 1972 abgedruckt wurde. Paul und Gene meldeten sich bei ihm; fortan gehörte er zum Grundstock der geplanten Band.

      1972 war Criss ein Schlagzeuger auf der Suche nach einer Band. Seine Gruppe Chelsea, die 1970 ein Album auf Decca herausgebracht hatte, hatte sich aufgelöst, und nun kam er gerade mal so über die Runden, indem er in ein paar unbedeutenden Bands in den Kaschemmen rund um NYC auftrat. Dann, mitten in einer Party, die er und seine Frau Lydia gaben, klingelte das Telefon.

      PETER CRISS: Gene rief mich an, während eine wilde Party bei mir im Gange war. Wir tranken Mateus-Wein, der damals ziemlich angesagt war. Auf dem Flaschenetikett war eine Katze abgebildet. Gene legte gleich richtig los.

      GENE SIMMONS: