Название | Revolverhelden auf Klassenfahrt |
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Автор произведения | Hartmut El Kurdi |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783862871186 |
Im Zusammenhang mit dem Gejammer über die political correctness fällt auch gerne das Wort »Gutmensch«. Zugegeben: Eine Zeitlang haben auch vernünftige Leute diesen Begriff benutzt, um linksevangelische Heuchelei zu geißeln. Inzwischen ist es aber das Lieblingsschimpfwort von Junge-Freiheit-Redakteuren und NPDlern. Was nicht überrascht, weil es wohl auch Goebbels schon gebrauchte.
Deswegen hat es auch keinen Sinn, mit Doofmenschen, die das Wort »Gutmensch« verwenden, zu diskutieren. Paranoiker sind Argumenten nicht zugänglich. Bleibt eigentlich nur, sie zu hänseln, aber auch da muss man aufpassen. Der Doofmensch ist empfindlich. So traute sich Thilo Sarrazin nach Erscheinen seines Buches »Deutschland schafft sich ab« nur noch mit einem ZDF-Kamerateam nach Kreuzberg, selbstverständlich nicht, um in irgendeine Art von Dialog zu treten, sondern um eine »Ich werde verfolgt«-Doku zu drehen. Aber als »Die Hard«- und Bruce Willis-Fan hätte Herr Sarrazin eigentlich wissen müssen, was passiert, wenn man mit einem »I hate niggers«-Schild durch Harlem läuft.
Interessanterweise passierte aber genau das nicht. Viele Menschen, denen Sarrazin in Kreuzberg begegnet, argumentieren dem erbarmungswürdig stammelnden Misanthropen gegenüber sehr sachlich und klar. Nur zwischendurch wurde der Pöbler ein bisschen angepöbelt. Mehr nicht. Und sofort fordert die Springerpresse, Kreuzberg dürfe nicht zur »No-Go-Area« für Sarrazin werden. Was es aber lustigerweise schon lange ist – durch Sarrazins eigene Entscheidung. Seinen Aussagen zufolge hatte er Kreuzberg zuvor das letzte Mal in den 90er Jahren besucht.
Linden. Eine Sommerliebe
Ode an einen besonderen Stadtteil
SEIEN WIR EHRLICH: HANNOVER hat keinen guten Ruf. Es gilt nicht grade als die sexieste Stadt des Universums. Nichts zum Schwärmen, nichts zum Verlieben, nichts zum Oden singen. Trotzdem habe ich mich verknallt. Nicht direkt in die etwas dröge Tante Hannover, aber dafür in ihre charmante Schmuddelnichte Linden.
Passiert ist es vor gut fünf Jahren. Im Sommer. Und ich muss gestehen, die Liebe hält immer noch an. Nur zur Klärung: Obwohl ich ein extrem emotionales Kerlchen bin, neige ich üblicherweise nicht zu übertrieben emotionsgeladenen Äußerungen. Vielleicht besteht da auch ein Zusammenhang. Der Araber in mir empfindet und fühlt zwar, äußert sich aber selten. Das tut dann sicherheitshalber meine andere Hälfte, der zum Understatement neigende Nordhesse, der dem stoischen Niedersachsen ja nicht unähnlich ist.
Würde ich meinen mediterranen Gefühlen auch äußerlich freien Lauf lassen, müsste ich den ganzen Tag abwechselnd Leute anschreien, umarmen oder herzen, Ohrfeigen verteilen, verstört den Kopf schütteln oder durch die Straßen tanzen. Das wäre mir zu anstrengend. Und zu albern. Und ist als Standardverhalten in unserer Gesellschaft auch nicht unbedingt akzepiert. Deswegen versuche ich, den Emotionsball verbal flach zu halten. Aber manches muss dann doch mal raus.
Wo wir grade bei Geständnissen sind: Bevor ich nach Hannover zog, wohnte ich vierzehn Jahre in Braunschweig. Den Nichtniedersachsen unter meinen Lesern muss ich jetzt erklären, dass Braunschweig und Hannover ein ähnliches Verhältnis haben wie Gelsenkirchen und Dortmund. Auch, aber nicht nur im Fußball. Und obwohl ich aus guten Gründen von Braunschweig nach Hannover zog, hatte ich keine Lust, den Kronzeugen und Verräter im albernen Niedersachsen-Lokalderby zu geben. Es reicht ja, wenn sich die 96- und Eintrachtfans seit Jahrzehnten regelmäßig auf die Fresse hauen. Bei sowas muss man weder praktisch noch theoretisch mitmachen. Also dachte ich: Bloß weil ich aus verschiedenen Gründen nicht mehr in Braunschweig leben wollte, musste ich Hannover ja nicht toll finden. Und schon gar nicht wollte ich mich Hannover an den Hals werfen. Tja, und dann kam Linden, das Luder, und warf sich mir an den Hals.
Ich habe mich wirklich widersetzt, habe mich mit Händen und Füßen gewehrt, habe gezischt: »Baby, das wird nix mit uns.« Ich habe klargestellt, dass ich mich nicht verarschen lasse, dass Linden doch nur hilflos versucht, Kreuzberg zu spielen oder die Schanze nachzuäffen, dass ich zu alt für diesen Scheiß bin, für dieses pseudo-südländische Rumgebummel, dieses Späthippie-Getue. Ich wollte als geborener Skeptiker auf Distanz bleiben und nicht auf diesen Ganzjahreskarneval reinfallen. Alles Kokolores. Alles umsonst. Ich bin in die Knie gegangen – und hab mich Hals über Kopf verschossen.
Und nichts konnte bisher meine Verknalltheit in Frage stellen. Weder der sich auf geheimnisvolle Weise selbstreproduzierende Sperrmüll auf der Straße, noch die sorgfältig und nach einem raffinierten Muster verteilten Hundekackhäufchen, auch nicht überflüssige Biosupermarktketten-Filialen oder Schnöselbauprojekte, nicht das allwöchentliche, chaotische Gelbe-Sack-Elend, nach dem jedesmal der Müll durch Lindens Straßen weht wie Tumbleweed durch eine verlassene Westernstadt. Oder das an meinem Fenster vorbeiziehende, breitgekiffte halbstarke Teenie-Partyvolk. Auch nicht die alternativen Alt-Lindener, die rentneresk jammern, früher sei alles besser gewesen in Linden. Und selbst diesem hirnlosen musikalischen Marodeur, der im letzten Sommer direkt hinter unserem Haus mitten in der Nacht (!) Dudelsack (!) spielte, ist es nicht gelungen, mir meine romantischen Gefühle zu vermiesen.
Interessant ist: Meine Liebe zu Linden färbt auch auf den Rest Hannovers ab. Nicht, dass ich jetzt zwingend die Bausünden hinter dem Hauptbahnhof, die Passarelle (die einzige mir bekannte tiefergelegte Fußgängerzone der Welt) oder einen Stadtteil wie Roderbruch toll finde. Aber eine Stadt, in der so etwas wie Linden möglich ist, kann nicht ganz böse sein.
Deswegen lebe ich inzwischen auch recht gerne in Hannover und bewege mich durchaus auch außerhalb meines Stadtteils. Und fairerweise muss man sagen: Linden wäre ohne Hannover ja nicht lebensfähig. Auch wenn Linden früher eine eigene Stadt und dort schon immer »alles anders war«, wie viele nicht müde werden zu betonen, ist der gelegentlich aufflammende Lindener Kommunal-Separatismus und das ahistorische Wichtiggetue mancher seiner Bewohner mehr als albern. Hätte sich die Arbeiterstadt Linden 1920 nicht freiwillig Hannover angeschlossen, wodurch es Teil einer Großstadt wurde, dann wäre es vermutlich nur ein heruntergekommener ehemaliger Industriestandort wie Castrop-Rauxel oder Wanne-Eickel und nicht das, was es heute ist, nämlich das bunte, durchgeschepperte, laute, dreckige, lebenslustige Rückzugsghetto für einen in sich sehr heterogenen Menschenschlag, den die Halbmillionenstadt Hannover zwar aufgrund ihrer Größe zwangsläufig produziert, dem sie aber sonst nicht viel anzubieten hat.
Hannover wiederum wäre ohne Linden so etwas wie Bielefeld. Und das ist gar nicht so fies gemeint, wie es klingt. Auch Bielefeld ist okay, ich kenne Menschen, die da ganz gerne leben. Wenn man einen Grund hat, dort zu wohnen, kann man es sich ganz nett einrichten. So wie in Hannover. Aber Linden kann man eben auch gut finden, ohne dass einen die Lebensumstände gezwungen haben, hier seine Zelte aufschlagen zu müssen. Ich habe immer wieder auswärtige Gäste, die sagen: »Och Gottchen, hier ist es aber nett. Damit haben wir jetzt aber gar nicht gerechnet ...« Und das hat nichts mit Gentrifizierung, einem modischen »Szene«-Hype oder Linden als »Partyzone« zu tun, sondern schlicht mit dem unaufgeregten, pluralistischen und stimmungsaufhellenden Alltag hier.
Man kann im Sommer bei schönem Wetter auf die Limmerstraße gehen – auch ohne dies modisch »limmern« zu nennen – und sich einfach daran freuen, dass man genau zu diesem Zeitpunkt an just diesem Ort ist. Man sitzt wahlweise auf einer Bank, einem Treppchen, in einem vermeintlich oder tatsächlich hippen Café oder in der eher prekären »Backfactory«, sieht das Lindener Panoptikum an sich vorüberziehen und denkt zufrieden: Wer hätte gedacht, dass Niedersachsen, die Heimat Christian Wulffs und Eckhart von Klaedens, so vielfältig sein kann. Man bewundert großflächige, freskenartige Tätowierungen, gewagte Piercing-Experimente, erwachsene Männer in Tretautos mit Hunden auf dem Beifahrersitz, blumengeschmückte Fahrräder, Jesus-Lookalikes, seidenglänzende Jogginganzugskollektionen, gigantische Walrossschnauzbärte, Afro-Mikrofonfrisuren und kuriose Kopfbedeckungen zwischen Religiosität und Exzentrik.
Man