Wahrnehmung und Gedächtnis. Timo Storck

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Название Wahrnehmung und Gedächtnis
Автор произведения Timo Storck
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783170307421



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über die menschliche Psyche oder anderen Konzeptionen von Veränderung durch psychotherapeutische Prozesse als nutz- oder aussichtslos zu diskreditieren. Die Darstellung von »Wahrnehmung und Gedächtnis« sowie von »Denken und Lernen« (im von uns verfassten Band derselben Reihe; Storck & Billhardt, 2021) aus allgemeinpsychologischer und psychoanalytischer Perspektive kann hier als paradigmatisch genommen werden: Die Unterschiede beider Zugänge werden immer wieder deutlich werden. Dass das Grundanliegen beider, bereits zu Freuds Zeiten, jedoch sehr ähnlich ist, wird sich ebenso zeigen.

      Deshalb möchten wir mit dem vorliegenden Band einen Beitrag zur interdisziplinären Betrachtung der genannten Gegenstandsbereiche beitragen. Vor allem geht es uns darum, psychoanalytisches Denken auf eine Weise zugänglich zu machen, die Interesse weckt und zu kreativer Weiterentwicklung im klinischen und forscherischen Bereich anregt.

      Bedanken möchten wir uns bei Cord Benecke, der den Anstoß für die Zusammenarbeit und die grobe inhaltliche Ausrichtung gegeben hat, sowie ihm und den weiteren Herausgebenden (Lilli Gast, Marianne Leuzinger-Bohleber und Wolfgang Mertens) für die Einladung zur Beteiligung an der Reihe »Psychoanalyse im 21. Jahrhundert«. Ferner gilt Guido Hesselmann unser Dank für eine kritische Durchsicht der Abschnitte zur Allgemeinen Psychologie. Außerdem danken wir Annika Grupp und Ruprecht Poensgen vom Kohlhammer Verlag für die gewohnt angenehme Zusammenarbeit.

      Heidelberg und Kassel, im Frühjahr 2021

      

      1 Einleitung

      Einführung

      Freuds Anliegen ist es von Beginn an gewesen, Erkenntnisse über allgemeine psychische Prozesse, wie das Denken, die Wahrnehmung und das Gedächtnis, zu gewinnen. Zur Untersuchung dieser Prozesse wählte er die Perspektive ihrer konflikthaften und damit dynamisch unbewussten Aspekte. Folgt man diesem Verständnis der Psychoanalyse als allgemeiner Theorie der Psyche, ergeben sich auch in zeitgenössischer Perspektive Verbindungen zwischen Psychoanalyse und Allgemeiner Psychologie.

      Lernziele

      • Eine Perspektive auf die Psychoanalyse als allgemeine Theorie der menschlichen Psyche einnehmen, die über Krankheitslehre hinaus reicht

      • Ein Verständnis dafür entwickeln, an welchen Punkten sich Psychoanalyse und Allgemeine Psychologie berühren und an welchen Stellen Abgrenzungen zwischen den Disziplinen bestehen

      Mit den Bereichen Denken, Lernen, Wahrnehmung und Gedächtnis sind vier jeweils große Bereiche der menschlichen Psyche benannt (vgl. zu Denken und Lernen im Besonderen: Storck & Billhardt, 2021). Unsere Wahrnehmung der äußeren und inneren Welt und wie wir in Auseinandersetzung mit ihr denken, lernen, wahrnehmen und erinnern, berührt alle Bereiche der Psychologie und alle Bereiche unseres täglichen Lebens. Neben dem Gefühlsleben bilden diese Prozesse die Grundlage für viele Merkmale unserer Individualität, etwa dafür, wie wir zu anderen Menschen und zu uns selbst in Beziehung treten und für unser Gefühl von persönlicher Identität.

      Psychische Vorgänge finden nicht innerhalb eines von der Außenwelt abgeschnittenen Bezugsrahmens statt, sondern basieren maßgeblich auf der Wahrnehmung unserer Umwelt und auf Erinnerungen an vergangene Eindrücke und Beziehungserfahrungen. Unser Erleben beruht dabei ebenso auf der äußeren Wahrnehmung dessen was wir sehen, hören und spüren als auch auf der Interozeption, also der Wahrnehmung von inneren Reizen, wie Körperempfindungen und Emotionen. Neben der Wahrnehmung von gegenwärtigen Eindrücken wird unser Leben auch von unserer Geschichte bestimmt, die durch Prozesse des Erinnerns – und Nicht-Erinnerns – Einfluss auf unsere Gedanken, Wahrnehmungen und Emotionen ausüben kann.

      Die Allgemeine Psychologie befasst sich mit psychischen Prozessen, die allen Menschen gemein sind. Entsprechend stellen Wahrnehmung und Gedächtnis einen zentralen Forschungsbereich für sie dar. Aber auch die Psychoanalyse beschäftigt sich seit Freuds Zeiten mit ihnen (vgl. zur Skizze einer »allgemeinen Psychoanalyse« Storck & Billhardt, in 2021, Kap. 2). Freud wählte zwar mit dem Ausgangspunkt im klinischen Arbeiten einen anderen Forschungsansatz als die Allgemeine Psychologie, ihm lag aber immer auch daran, etwas Allgemeines über die menschliche Psyche herauszufinden. Bereits in seinem 1895 verfassten und zu Lebzeiten unveröffentlichten Entwurf einer Psychologie geht es ihm um eine Gesamttheorie der Psyche, damals noch auf unter starkem Einbezug eines biologisch-neurologischen Modells, ein Ansatz, den er aufgrund des damaligen unzufriedenstellenden Forschungsstandes jedoch bald zurückstellte und sich der Untersuchung des Psychischen zuwandte (Freud, 1950a), ohne gleichwohl die Biologie gänzlich fallen zu lassen. Das Anliegen, eine allgemeine Theorie des Psychischen und damit einhergehend mit den Prozessen des Wahrnehmens und des Erinnerns, zu entwickeln, steht also am Ausgangspunkt und im Zentrum der psychoanalytischen Theorie.

      In der Darstellung der psychoanalytischen und allgemeinpsychologischen Perspektiven auf Gedächtnis und Wahrnehmung wird sich immer wieder zeigen, dass neben Bewusstem auch Unbewusstes berührt wird. Dabei wird jedoch auch deutlich werden, dass das Verständnis des Unbewussten in Psychoanalyse und Allgemeiner Psychologie voneinander abweicht. Neben den unbewussten Aspekten von Wahrnehmung und Gedächtnis müssen wir im vorliegenden Band darauf verzichten, eine umfassende Gegenüberstellung von psychoanalytischen und allgemeinpsychologischen Theorien des Bewussten und Unbewussten vorzulegen, auch wenn Theorien des Bewusstseins in der jüngeren Vergangenheit zunehmend in den Fokus der Allgemeinen Psychologie rücken (zu einer psychoanalytisch begründeten interdisziplinären Sicht auf das Unbewusste vgl. Leuzinger-Bohleber & Weiß, 2014, in der vorliegenden Reihe).

      Die genannten Berührungspunkte zwischen Allgemeiner Psychologie und Psychoanalyse lassen einen interdisziplinären Austausch naheliegend erscheinen und werfen die Frage auf, wieso es bisher nur vereinzelt und überwiegend auch erst in jüngerer Zeit zu einem solchen gekommen ist. Anstelle von Interdisziplinarität ist die Geschichte von Psychoanalyse und Allgemeiner Psychologie von einer teils scharfen Abgrenzung der beiden Disziplinen gegenüber einander gezeichnet. Dies liegt vermutlich auf Seiten der Allgemeinen Psychologie im hohen Abstraktionsgrad der psychoanalytischen Konzepte begründet, der ihre Überführung in experimentell überprüfbare Untersuchungsdesigns erschwert. Auf psychoanalytischer Seite lassen sich als Gründe für die Abgrenzungsbestrebungen einerseits ein anderes Wissenschaftsverständnis identifizieren sowie andererseits vermutlich die Vorstellung, dass eine interdisziplinäre Verbindung, anstelle einer stärkeren Einbindung in den akademischen Diskurs, zu einem Verlust der Eigenständigkeit der Psychoanalyse führen könnte.

      Unsere Perspektive ist es, dass eine Annäherung von Psychoanalyse und Allgemeiner Psychologie für beide Disziplinen gewinnbringend sein kann. Die Allgemeine Psychologie könnte etwa davon profitieren, über die Vermittlung von psychoanalytischen Konzepten ihren Forschungsbereich auf das dynamisch Unbewusste auszuweiten, während die Psychoanalyse durch die Rezeption von allgemeinpsychologischer Forschung eine Anreicherung oder Konkretisierung ihres theoretischen Fundaments erreichen könnte. Granzow (1994) befasst sich mit der Aufnahme von allgemeinpsychologischen Befunden in die psychoanalytische Theorie und stellt fest, dass eine Integration auf vier Ebenen möglich ist (a. a. O., S. 197):

      • auf einer deskriptiven Ebene (bzgl. der Befunde)

      • auf der Ebene der (gemeinsamen) Modellbildung

      • auf der Ebene einer Reformulierung der psychoanalytischen Gedächtnistheorie angesichts kognitionspsychologischer Befunde

      • auf der Ebene einer Reformulierung der psychoanalytischen Metapsychologie (mit dem Ziel des Schaffens einer gemeinsamen methodologischen Rahmung).

      Eine Integration auf der deskriptiven Ebene, also eine Beschreibung und Gegenüberstellung des Status quo der psychoanalytischen und allgemeinpsychologischen Theorien, ist eine notwendige Voraussetzung, um eine gemeinsame Modellbildung oder eine Aufnahme allgemeinpsychologischer Befunde in psychoanalytische Theorien zu ermöglichen. Im vorliegenden Band nehmen wir eine solche deskriptive Integration von Allgemeiner Psychologie und Psychoanalyse im Hinblick auf die Bereiche Wahrnehmung und Gedächtnis vor. Dabei geht es uns neben einer Bestandsaufnahme und einer Gegenüberstellung der Theorien auch darum, Wege für eine weiterführende interdisziplinäre