Vollmilchschokolade und Todesrosen. Franziska Dalinger

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Название Vollmilchschokolade und Todesrosen
Автор произведения Franziska Dalinger
Жанр Книги для детей: прочее
Серия
Издательство Книги для детей: прочее
Год выпуска 0
isbn 9783862567416



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ich das meine? Ich könnte zum Beispiel gar nicht sagen, ob meine Schwester Tabita hübsch ist. Weil ich sie täglich sehe. Oder wie mein eigenes Gesicht auf andere wirkt – keine Ahnung. Wenn ich es auf einem Foto sehen würde und für einen Moment vergessen könnte, wer das ist – ja, dann könnte ich vielleicht beurteilen, ob ich attraktiv bin oder nicht.

      Manchmal versuche ich, mich mit fremden Augen zu sehen. Aber so richtig gelingt mir das nie. Mir fällt dann bloß auf, was peinlich ist. Es muss nur ein ganz kleiner Pickel sein, aber ich stelle mir vor, dass alle nur darauf starren.

      Unsinn, ich weiß.

      Aber so bin ich nun mal. Sobald ich jemanden kenne, ist er nicht mehr hübsch oder hässlich, sondern einfach nur normal. Außer Tom natürlich. Aber den kenne ich ja auch nicht richtig. Ich sehe ihn immer nur von weitem und er sieht gleichbleibend umwerfend aus. Im Vergleich mit Tom kommen mir alle anderen Jungs einfach nur langweilig und uninteressant vor.

      Bis dieser recht große, blonde Junge über unseren Schulhof marschiert.

      Wir sind eine große Schule und der Hof wird auch vom Gymnasium und der Hauptschule benutzt. Man kann gar nicht alle kennen, aber die meisten sind einem vom Sehen her vertraut. Da gibt es keinen Zweifel: Wir sind uns sofort alle einig, dass dieser Blonde neu ist.

      »Den habe ich ja noch nie hier gesehen.« Kim zieht die Stirn kraus. »Gehört der zu uns oder zum Gymnasium?«

      Wir sehen ihm nach, wie er sich durch die Massen an Schülern schiebt.

      »Gymnasium«, meint Steffi und seufzt. »Bestimmt. Wir gehen immer leer aus.«

      »Der ist sowieso zu alt, um noch auf die Realschule zu gehen«, finde ich. »Bestimmt ist er in der Oberstufe.«

      »Mr. Right«, schmachtet Steffi. »Endlich mal einer, der groß genug ist für mich. Herrje, es geschehen noch Wunder. Ich danke dir, lieber Gott!«

      »Ein paar Schuhnummern zu groß für dich«, sagt Kim, ohne irgendjemand Bestimmtes anzusprechen. Vermutlich meint sie mich. Wie gemein. Ob jemand von uns sein Typ ist, kann man ja nicht wissen. Wenn der Blonde zwei, drei Jahre älter ist als wir, sind wir ihm wahrscheinlich zu jung. Aber auch das ist schließlich bloß eine Vermutung.

      »He!« Ich beschließe, mich zu wehren. Kim ist nicht immer die Netteste; wenn man nicht aufpasst, bekommt man von ihr so einiges ab. Verbal zurückschlagen ist gefährlich, denn sie hat recht wenig Humor. Doch wenn man alles einsteckt, verliert sie jeden Respekt vor einem und hört gar nicht mehr auf. »Wer sagt das? Du willst ihn wohl für dich, wie?«

      »Ach Messie, an den traust du dich ja doch nicht heran«, meint sie.

      »Du wirst ja sehen«, sage ich.

      »So wie bei Tom?«

      Dazu schweige ich. Trotz aller ihrer Sticheleien habe ich es immer noch nicht fertig gebracht, auch nur ein einziges Wort zu ihm zu sagen. Kein Wunder, dass Kim glaubt, ich wäre generell zu feige, um mit Jungs zu sprechen. Sie ist nicht dabei gewesen, als Steffi und ich herumgealbert haben. Kim würde mir das gar nicht zutrauen. Sie denkt pausenlos, ich wäre zu feige für alles und jedes. Das bin ich nicht! Nur bei Tom – das ist etwas anderes. Eine Abfuhr von Tom würde ich nicht so schnell verkraften. Bei Tom bekomme ich weiche Knie. Solange er nichts davon weiß, kann ich wenigstens ungestört von ihm träumen. Mandy hat mich zwar gewarnt, aber Träume sind hartnäckig und lassen sich nicht einfach abstellen.

      Und manchmal sind Träume eben doch ein guter Ersatz für die harte Wirklichkeit, die einen unweigerlich einholen wird. Ich bin sechzehn und kein Kind mehr. Dass sie einem einreden, man könnte alle seine Träume verwirklichen, wenn man nur fest genug daran glaubt – tja, mit mir nicht.

      Die Welt ist viel dunkler und geheimnisvoller als das. Und es gibt keine Macht, die einen auf einen Schlitten setzt und durch den Schnee zieht.

      Manchmal stelle ich mir vor, wie das wäre. Man sitzt also auf dem Schlitten und Gott, eine Papafigur mit weißem Bart, eingehüllt in einen dicken Mantel mit Pelzkragen und einer russischen Pelzmütze, zieht einen durchs Leben.

      Und wenn man während der Fahrt aufsteht, fällt man mit dem Gesicht in den Schnee. Weich.

      Das ist das, was Papa sonntags predigt. Dass wir schon mal fallen, aber nie tiefer als in Gottes Hand.

      Woher will er das wissen? Es klingt gut, aber wenn ich mir vorstelle, dass ich falle, ist da gar nichts. Nur kalter Schnee, als würde man von einer Horde johlender Jungs über den Schulhof gejagt und eingeseift.

      Man weint. Und die Lehrer kümmert es nicht. Für die Lehrer ist man unsichtbar.

      So ist das Leben.

      Jedenfalls kommt es mir meistens so vor.

      »Aber du hast ja himmlischen Beistand«, spottet Kim und grinst. Kim, die einen Kopf kleiner ist als ich und trotzdem so stark, dass sich kein Junge an sie herantraut. Bestimmt haben sie alle Angst davor, ihr Exfreund zu sein.

      Außerdem kann man bei ihr für einen dummen Anmachspruch buchstäblich eins auf die Schnauze bekommen.

      »Gilt das auch für mich?«, fragt Steffi lauernd. Sie ist ja, wie gesagt, besonders empfindlich, was Bemerkungen über ihr Äußeres angeht. »Glaubst du, ich brauche himmlischen Beistand?«

      Kim lacht bloß. »Jetzt bin ich aber gespannt, wer schneller ist, Mädels.«

      Kim tut immer so, als würde ihr überhaupt niemand gefallen, dabei weiß ich genau, dass das nicht stimmt. Sie hat mir einmal anvertraut, dass sie heimlich Schlager hört. Deutsche Liebeslieder, bei denen sie den Text mitsingt. Ich ziehe sie natürlich nicht damit auf. Sie kann boxen, das vergesse ich nie.

      »In der Mensa könnt ihr euch ja auf ihn stürzen«, sagt Mandy trocken. Mandy, die in letzter Zeit auffällig wenig sagt. Geht es ihr nicht gut?

      Manchmal denke ich, ich sollte nicht so genau hinsehen. Das Leben ist leichter, wenn man nicht so viel sieht. Wenn man Scheuklappen anlegt und einfach losmarschiert. Sonst kommt man nie irgendwo hin.

      Die Pausenglocke ruft uns zurück ins Klassenzimmer, und ich habe den hübschen Neuen eigentlich schon wieder vergessen. Bis er in der Mensa plötzlich vor mir steht. Wie immer ist dort ein einziges Gedränge und Geschiebe. Der Lärm könnte von einem Rudel Löwen stammen, die in eine schmerzhafte Falle geraten sind. Zusätzlich, überlege ich, hat man ein Dutzend Affen in die Grube geworfen, die keine Lust haben, als Löwenfutter zu enden, aber auch nicht die steilen Wände hochkommen. Und als Gratis-Dreingabe noch ein paar an den Schwänzen zusammengebundene Katzen und Hunde.

      So in etwa. Jedenfalls verursacht mir das Getöse Kopfschmerzen, und ich habe keine Lust, mich wie meine Freundinnen in der Schlange für Spaghetti Bolognese anzustellen. Da ich mir nur einen Salat genommen habe, suche ich schon nach einem Tisch mit vier freien Plätzen. Da hinten ist alles besetzt. Die Gänse-Clique labt sich an Salat ohne Öl. Typisch. Lisa-Marie sieht halb verhungert aus. Gut, ich werde zwar auch bloß einen Salat essen, aber wenigstens mit einer richtigen Soße. Ohne ist es nur Grünzeug und schmeckt nach nix. Aber ich habe auch nicht vor, Kalorienzählen und Diättipps zu meinem einzigen Gesprächsthema zu machen.

      »Na, hast du dich verirrt?«, fragt Lisa-Marie höhnisch.

      Zu denen setze ich mich bestimmt nicht. Ich drehe mich um und da taucht der Neue plötzlich auf. Aus der Nähe besehen ist er – und das kommt echt selten vor, glaube ich – sogar noch attraktiver. Und jünger. Viel älter als ich kann er eigentlich nicht sein. Seine Augen sind graublau. Oder doch eher blau?

      Warum schaue ich ihn überhaupt an? Um es Steffi nachher zu erzählen? Um Kim zu beweisen, dass ich keine Angst habe? Ich habe sowieso nicht vor, ihn anzusprechen. Nicht im Traum.

      Zu dumm, dass ich in Tom verliebt bin, denke ich. Der hier könnte mir auch gefallen.

      »Miriam? Ich hab ja gleich gewusst, dass du es bist.«

      Meint er mich? Hat er gesprochen, Mr. Traumprinz? Ich starre ihn an und merke,