Gesammelte Werke (Über 800 Titel in einem Band). Joachim Ringelnatz

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Название Gesammelte Werke (Über 800 Titel in einem Band)
Автор произведения Joachim Ringelnatz
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9788027203697



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– das allerschönste war – das andere Abenteuer – das eigentlich nie gewesen war, das versäumt und verträumt war. Das erträumt und versäumt bleiben sollte. – »Ten o'clock Wilberforce-Monument.«

      München und Buchhalter

       Inhaltsverzeichnis

      Frau Müller sandte prompt Geld, so daß ich mein Hotel bezahlen und langsam vierter Klasse nach München reisen konnte.

      Ich wußte, daß Telschow inzwischen dort eine Anstellung gefunden hatte. Er nahm mich freudig in seiner Wohnung auf, bis ich eine Stellung fände. Er war ein anhänglicher Mensch und ein spaßiger Kauz. Noch immer pflegte er seine Kleider aufs peinlichste und brachte jeden Morgen eine halbe Stunde damit zu, seine gelben Schuhe mit Milch zu behandeln. Er kaufte sofort eine Flasche Müller Extra.

      Telschow wohnte im Osten der Stadt, wo die kleinen Leute hausen. An deren bescheidenen Freuden nahmen wir nun teil. Wir tranken in den großen Kellern unsere Maß, aßen Radi dazu und versuchten den Dialekt und die derbe bayrische Gemütlichkeit nachzuahmen. Sonntags gingen wir in die Berge oder auf die Schwammerlingsuche.

      Es gab in München ein Revolverblatt, betitelt »Grobian«. Dieser Zeitung sandte ich satirische Gedichte und Witze ein. Alles wurde sofort abgedruckt. Als ich wochenlang das Blatt en masse beliefert hatte, ohne bisher ein Honorar erhalten zu haben, meinte ich nun, mir ein gutes Sümmchen abholen zu können und machte mich auf den Weg. In einem Haus am Stachus fragte ich nach der Redaktion. Man wies mich nach einer kleinen Baracke im Hinterhof. Dort stand ein Arbeiter vor einer Druckmaschine. Der bewegte unaufhörlich einen Hebel vor und zurück.

      »Verzeihung, können Sie mir sagen, wo ich den Chefredakteur des ›Grobian‹ finde?«

      »Das bin ich selbst«, sagte der Arbeiter mürrisch, ohne seine Arbeit zu unterbrechen. »Was wollen Sie?«

      Ich nannte meinen Namen und brachte mein Anliegen vor.

      »Honorar? Honorar?« sagte er voll Verachtung. »Nun, meinetwegen.« Damit drückte er mir fünf Mark in die Hand.

      Zwei Tage lang war ich Stadtreisender für eine kleine Kaffeehandlung. Man gab mir zwei Probedosen mit Kaffeebohnen in die Hand, und ich mußte damit treppauf und treppab von Tür zu Tür gehen, um den Leuten eine Bestellung auf ein Pfund oder zwei Pfund Kaffee abzuringen. Mir war ein Stadtgebiet zugewiesen, wo sehr arme Leute hausten. Man sammelte derzeit für den Wiederaufbau des abgebrannten Zeppelin.

      »Guten Tag«, sagte ich, wenn die Tür geöffnet wurde. »Sie haben doch sicher von der Zeppelin-Kollekte gehört?« Die Leute zogen schon ein langes Gesicht.

      »Nun, damit habe ich gar nichts zu tun. Sondern ich wollte Ihnen nur empfehlen, ein Pfund von diesem oder jenem billigen Kaffee zu kaufen.«

      Damit hatte ich ein paarmal Erfolg. Aber die armen Leute taten mir leid, und da meine Prozente sowieso ganz minimal waren, gab ich die Tätigkeit wieder auf.

      Ich trat dem Handelsgehilfen-Verein bei, denn ich wollte mich um eine kaufmännische Stellung bewerben. Dazu mußte ich einen Fragebogen ausfüllen. Gewissenhaft gab ich an, was ich gelernt hatte, welche Fächer ich berherrschte und welche nicht. Aber Telschow zerriß das Formular und sagte: »So macht man das nicht. Du mußt alles können.« Ich füllte also ein neues Formular derart aus, daß ich einfache Buchführung, doppelte Buchführung, amerikanische Buchführung, kurz gesagt, nahezu alle Fächer beherrschte.

      Dadurch kam ich im August 1908 zu der Stellung eines Buchhalters und Korrespondenten im Reisebüro von C. Bierschenk am Karlsplatz.

      Herr Bierschenk war Vertreter der Red Star Line und anderer Schiffahrtslinien. Außer mir war nur noch ein Lehrling angestellt. Der verstand mehr als ich von der Buchführung und konnte mir vieles erklären, wenn sich heimlich Gelegenheit dazu fand. Aber diese Gelegenheit fand sich leider nur selten, da Herrn Bierschenks Stehpult neben meinem stand. Als der Chef mir zwei Billetts zum Eintragen gab und dann zusah, wie ich, hilflos nach dem Lehrling schielend, das große Hauptbuch von vorn nach hinten durchblätterte, da sagte er mir auf den Kopf zu, daß ich meinem Posten nicht gewachsen wäre, und kündigte mir für März.

      Ich glaube, Herr Bierschenk war schon vorher immer mürrisch zu mir gewesen. Von nun an war er es jedenfalls. Zu Weihnachten beschenkte er nur den Lehrling und hatte auch kein freundliches Wort für mich. Sein Verhalten war zu verstehen, da ich mich wirklich bei ihm blamiert hatte. Weniger nett aber fand ich es, daß er sehr ungehalten über mich war, als ich einmal sechs Stunden im Garderoberaum blieb, weil meine Nase so lange ununterbrochen blutete. Auch hätte er mich ja nach einer Aussprache über das, was zu machen war, freundlich unterrichten können. Denn das war in ein paar Stunden zu erlernen. Und ich hätte dann mit einem Eifer gearbeitet, den ich nun nicht aufbrachte.

      Nebenbei dichtete ich humoristische Sachen. Die einzigen, die darüber lachten, waren Telschow und ich. Ich hatte mir das Pseudonym Fritz Dörry zugelegt, in Erinnerung an meinen verehrten Lehrer im Tollerschen Institut.

      Telschow teilte alle Freuden und Leiden mit mir. Wir hatten uns Mandolinen angeschafft. Und dann kam auch unser gemeinsamer Freund Freudling zu Besuch nach München. Der war selbst ein geborener Münchner und machte uns mit lustigen Kerlen bekannt.

      Wir wagten uns nun auch in bessere Lokale. Da war eine Bar in der Sonnenstraße. Wir gingen am Nachmittag vor dem Eingang auf und ab und überlegten, was man wohl da drinnen tränke. Und ob es erschwinglich für uns wäre. Weil aber eine so süße Musik lockte, traten wir ein. Wir waren die einzigen Gäste. Drei Musiker spielten. Wir bestellten Mokka. Der Ober stellte uns eine Kaffeemaschine hin, entzündete darunter eine Spiritusflamme und zog sich diskret zurück. Da saßen wir nun sehr beklommen, weil die Einrichtung so vornehm war. Wir bemühten uns zwar auch, recht vornehm und sicher auszusehen, dachten aber schweigend darüber nach, was geschehen würde, wenn wir den Mokka nicht bezahlen konnten. Die Technik der Kaffeemaschine war uns unbekannt. Plötzlich explodierte diese Maschine laut und bespritzte unser weißes Tischtuch und unsere Anzüge und zwei weitere Tischtücher in der Nachbarschaft mit Mokka. Der Ober sah unser Entsetzen. Er riß die Tür auf, und ohne Geld zu fordern, rief er: »Marsch, hinaus, ihr Lausbuben!«

      An einem anderen Nachmittag schlenderten wir durch die Türkenstraße. Da lasen wir ein gelbes Plakat an der Tür eines Restaurants: »Simplizissimus-Künstlerkneipe«, illustriert durch einen roten Hund, der eine Sektflasche zu entkorken suchte.

      Künstlerkneipe! Künstlerleben! Das war ja, was wir ersehnten. Wir wagten uns hinein. In dem spärlich beleuchteten Zimmer standen die Stühle noch auf den Tischen. Eine Kellnerin gab uns Auskunft. Die Künstler und Gäste kämen erst abends gegen zehn Uhr.

      Wir fanden uns abends wieder dort ein. Das Lokal war brechend voll, so daß wir im vorderen Zimmer bleiben mußten. An den Wänden hing Bild an Bild, und an den Tischen saß Gast an Gast, dicht gedrängt, meistens Studenten. Die Wirtin in Bauerntracht begrüßte die Neuankommenden und redete alle, auch uns, mit »Du« an. Man nannte sie Kathi. Sie war eine stattliche Frau und schien überaus liebenswürdig zu sein.

      Eine dreiköpfige Kapelle spielte Wiener Lieder. Dann verteilte Kathi den Text zu einem Simplizissimuslied, das vom Freiherrn von Osten-Sacken verfaßt war. Wir tranken Bowle und gerieten in wonnige Stimmung.

      Am nächsten Abend eilte ich nach Geschäftsschluß wieder dorthin. Lockend und verheißend winkte die rote Lampe vorm Eingang, vor dem eine lange Reihe von Privatautos angefahren war. Wieder war das Lokal überbesetzt. Ein schmaler Gang führte nach dem Hinterzimmer. Es gelang mir so weit vorzudringen, daß ich dieses übersehen konnte. Künstler, Studenten, Mädchen, elegante Herrschaften. Das saß eng gepreßt um weiß gedeckte Tische. Auf einem dieser Tische stand ein schmächtiger Mann mit wildem Vollbart, stechenden Augen und feinen Händen. Der trug ein Gedicht vor. »War einmal ein Revoluzzer.« Ich fragte einen neben mir stehenden Studenten, wer der Vortragende sei.

      »Das wissen Sie nicht? Sie sollten sich schämen!«

      Ich schämte mich wirklich. Ein herumgehendes