Die verschwundene Melodie. Arno Alexander

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Название Die verschwundene Melodie
Автор произведения Arno Alexander
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9788711625989



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beachtet zu werden, im Stillen geschaltet und gewaltet, hatte bewiesen, daß sie mehr konnte, als nur einer verlotterten Wirtschaft vorzustehen. Sie hatte selbst die Verhandlungen mit den Gläubigern geführt, und dieselben Leute, die ihrem Mann keinen Aufschub von acht Tagen mehr gewährt, erklärten sich schließlich zu langfristigen Zahlungsstundungen bereit; einzig und allein aus dem Grunde, weil sie sahen, daß Mrs. Isatschik mit eisernem Willen an die Regelung der Verpflichtungen ging.

      Seitdem war es im Hause der Isatschiks still und einsam geworden. Kein lautes Lachen, kein fröhliches Scherzwort erklang mehr in den vornehmen, mit altertümlichen Möbeln ausgestatteten Räumen. Sogar der alte Dick, der einzige von der Dienerschaft, der ungeachtet des Spottlohnes all die Jahre hindurch geblieben war, schlich leise umher und wagte kein Wort zu äußern, wenn Mrs. Isatschik jeden dritten Tag feierlich erklärte, heute gäbe es zur Abwechslung nur Pellkartoffeln mit Zwiebeltunke.

      Man konnte nicht behaupten, daß die letzten, im Kampfe mit Gläubigern verbrachten zwölf Jahre auf den Charakter dieser Frau vorteilhaft gewirkt hätten. Aus der anfangs so notwendigen Sparsamkeit war Geiz und Habsucht, aus der Tatkraft kleinliche Herrschsucht geworden, und die steten Zwistigkeiten mit allerlei Leuten, die Geld forderten, hatten sie die gesamte Menschheit — mit Ausnahme ihres Sohnes — hassen gelehrt.

      Wilbur seufzte leise.

      „Nun“, fragte Mrs. Isatschik, der sein Schweigen viel zu lange dauerte, „nun, würdest du mir die Reise nach Europa gönnen?“

      „Yes, dear mother“, antwortete Wilbur sanft. „Fahr, wohin du willst; aber ich glaube kaum, daß es in Europa besseres Essen gibt.“

      In diesem Augenblick blieb das Auto stehen, und der Wagenlenker öffnete den Schlag. Nach einem prüfenden Blick auf die Taxameteruhr bezahlte Mrs. Isatschik den genauen Betrag. Der Wagenlenker blieb mit leicht vorgestreckter Hand auf seinem Platz stehen.

      „Wilbur, dieser Mensch erwartet ein Trinkgeld!“ rief sie schnarrend. „Hast du Kleingeld bei dir?“

      „No, dear mother“, erwiderte der Sohn wahrheitsgemäß.

      „Wilbur hat kein Kleingeld“, sagte die Mutter bedauernd zum Wagenlenker. „Nächstes Mal gebe ich Ihnen etwas“. Sie wandte sich hastig um und schritt, gefolgt von Wilbur, durch den Garten zur Eingangstür der kleinen Villa „Manhattanhouse“.

      Lux empfing die beiden mit einer ehrerbietigen Verbeugung.

      „Bitte, treten Sie näher“, sagte er, nachdem er ihnen die Mäntel abgenommen hatte, und stieß eine Tür auf. Mrs. Isatschik kniff die Augen zusammen und blickte prüfend durch ihr Lorgnon. Mit hoheitsvoller Miene überschritt sie die Schwelle, blieb hier aber wie angewurzelt stehen. Der Saal war voll von Leuten, und die Blicke aller waren mit unverkennbarer Schadenfreude auf die Eintretenden gerichtet.

      Aus einem Ledersessel erhob sich der Hausherr und kam schmunzelnd seinen neuen Gästen entgegen.

      „Guten Tag, liebe Schwester!“ rief er heiter und gutgelaunt. „Es freut mich, daß auch du meiner bescheidenen Einladung Folge geleistet hast. Es ist wirklich nett von dir, daß du beschlossen hast, Vergangenes ruhen zu lassen. Wie sagtest du doch damals, vor fünfzehn Jahren, als der hohe Familienrat mich mit Schimpf und Schande aus dem Schoß der Seinen ausstieß ...“

      „Das ist längst vergessen, lieber Frederick“, unterbrach ihn Mrs. Isatschik hastig.

      „Um so besser!“ meinte Mr. Manhattan erfreut. „Bitte, nimm Platz! Ah, der junge Mann hier an deiner Seite ist wohl der kleine Wilbur?“

      „Es ist mein Sohn“, bestätigte die Mutter eifrig.

      „Schau, schau! Ganz hübsch groß, genau wie der Vater. Überhaupt — verblüffende Ähnlichkeit mit dem Isatschik! Auch sonst nach ihm geraten? Gibt wohl ’n bißchen viel Geld aus, was?“

      ‚Mein Sohn ist sehr sparsam“, erklärte die Mutter. „Nicht wahr, Wilbur, das bist du doch?“

      „Ich bin sehr sparsam, Onkel Frederick“, wiederholte Wilbur vorschriftsmäßig und dachte darüber nach, wie man wohl sparen könne, wenn man noch nie einen Dollar in bar sein eigen genannt habe.

      „Verblüffend! Wirklich verblüffend!“ rief Manhattan erstaunt. „So wenig nach seinem Vater geschlagen? War ja ein ganz toller Knabe, der Isatschik! Was der so in einer Nacht am grünen Tisch verspielte, hätte vollkommen genügt, mir mein Auskommen zu sichern. Aber wenn ich ihn darum bat, hatte er immer kein Geld ...“

      „Er war etwas herzlos“, warf Mrs. Isatschik dazwischen.

      „Möglich“, sagte Manhattan zerstreut. „Und dann erzählte er einmal, daß seine Frau ihm strengstens untersagt habe, mir, dem Habenichts und Tunichtgut, auch nur einen Cent zu geben.“

      „Das muß ein Irrtum sein!“ rief Mrs. Isatschik bestürzt. „Nicht wahr, Wilbur, das ist ein Irrtum?“

      „Ganz bestimmt ist das ein Irrtum“, bestätigte der Sohn ernst.

      „Ich glaube es euch“, erwiderte der Hausherr mit Trauer in der Stimme. „Es ist seltsam, daß sich solche Irrtümer erst nach langen Jahren aufklären und auch dann nur unter gewissen Voraussetzungen. Aber was rede ich da?“ unterbrach er sich erschrocken. „Ihr müßt doch auch meine übrigen Gäste begrüßen. Vorstellen wird nicht nötig sein: wir sind ja ganz unter uns — alles nahe Verwandte. Höchstens die Jüngsten, die damals vor fünfzehn Jahren bei unserm letzten Beisammensein noch Küken waren ... Hier, die kleine Doris Elmhurst, meine reizende Nichte; dort, Frank Leroy, von Beruf Schauspieler, aber sonst ein ganz anständiger Mensch. Übrigens — mein größter Neffe, — er ist so groß wie ein Telegraphenmast! Steh mal auf, Frank, laß dich bewundern!“

      Ein junger Mann erhob sich und verneigte sich ehrerbietig vor Mrs. Isatschik. Er war wirklich ungewöhnlich groß, sein Gesicht zeugte von Tatkraft und Entschlossenheit, wobei es aber einer gewissen Anmut nicht entbehrte. Seine Kleidung war einwandfrei, doch nicht auffallend, hatte aber jenes gewisse Etwas, das unfehlbar die Blicke aller auf sich lenkt, auch wenn niemand erklären kann, woran es eigentlich liegt.

      Mrs. Isatschik begrüßte ihre Verwandten mit einem süßsauren Lächeln im runzlichen Gesicht. Sie hatte Mühe, an sich zu halten, — so empört war sie darüber, daß Manhattan nicht nur sie und Wilbur, sondern auch alle übrigen Verwandten eingeladen, und daß er es wagte, sie in taktlosester Weise vor aller Ohren an unangenehme Dinge zu erinnern. Aber sie mußte gute Miene zum bösen Spiel machen: Manhattan war reich und alt, Wilbur dagegen arm und jung. Er brauchte noch viel Geld, und es gab, wie sie nur zu gut wußte, keinerlei andere Möglichkeit, dieses zu erlangen, als den alten Manhattan zu beerben.

      „Es ist angerichtet“, eröffnete jetzt Lux mit feierlicher Miene.

      „Bitte, meine Damen und Herren, zu Tisch!“ rief Manhattan.

      Eine große Doppeltür wurde aufgeschoben, und gemeinsam betraten alle das Eßzimmer. An einer langen, reich mit Blumen geschmückten Tafel nahm man Platz; die Sitzordnung war im Voraus durch kleine geschriebene Kärtchen bestimmt.

      Doris kam neben Frank Leroy zu sitzen. Es waren außer ihr und Mrs. Isatschik nur wenig Damen anwesend, und sie fühlte sich in der ungewohnten, prunkvollen Umgebung etwas beengt, aber ihr Tischherr, der ihre Verlegenheit sogleich bemerkt hatte, widmete sich ihr in so liebenswürdiger Weise, daß sie bald alle Hemmungen verlor und sich so natürlich wie immer gab.

      „Wie kommt es, daß wir uns miteinander gleich so nett unterhalten können?“ fragte sie plötzlich, mitten aus einem anregenden Gespräch heraus. „Sollte es die Verwandtschaft machen? Aber wir kennen uns doch noch gar nicht ...“

      „Eben deshalb“, antwortete Leroy und lächelte kaum merklich. „So lebhaft wie wir beide können sich nur Mensehen unterhalten, die sich sehr wenig oder — hm — außerordentlich gut kennen.“

      „Vielleicht haben Sie recht“, sagte Doris nachdenklich.

      Es entstand eine Pause.

      „Sie haben doch eine Schwester?“