Die Nackten und die Schönen. Will Berthold

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Название Die Nackten und die Schönen
Автор произведения Will Berthold
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9788711727010



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nein«, antwortet Gremlitzka. »Ich hab’ im Lift nur auf den falschen Knopf gedrückt.« Er geht die Treppe hoch, erreicht die Straße und sieht im gleichen Moment einen Polizeiwagen vor dem Haus vom Verkehr eingeklemmt. Er zwingt sich, langsam zu gehen und im Trubel der Passanten nicht aufzufallen. Erst als er feststellt, daß die Polizisten weiterfahren, geht er schneller und flüchtet in den »Frankfurter Hof« wie auf eine Insel.

      »Sind Herr Gärig oder Herr Dr. Kupski im Haus?« fragt er an der Rezeption.

      »Nein.«

      »Bitte bestellen Sie den Herren, daß sie mich nach ihrer Ankunft sofort anrufen oder am besten gleich in mein Apartment kommen möchten – es ist dringend.« Gremlitzka geht nach oben, entnimmt der Hausbar zwei Magenbitter, kippt sie hintereinander weg und fühlt sich etwas wohler. Vielleicht hat er durch sein Verhalten alles noch schlimmer gemacht, als es ist, aber als Glück im Unglück empfindet er es, daß der Filmanwalt zur Zeit in Frankfurt ist, und irgendwie wird ihn der Jurist schon aus dieser gräßlichen Situation herauspauken.

      4

      Die Vorführung von »Liebe am Lago« beginnt Punkt vierzehn Uhr. Der Vorsitzende begrüßt die Filmleute zuvorkommend, jedenfalls ist ihm nicht anzumerken, daß er unter dem Druck einer Pressekampagne steht. Als Nurell feststellt, daß zu den heutigen Juroren auch der erzkonservative Dr. Schwarzeder gehört, weiß er, daß die Prüfung nicht glatt über die Runden gehen wird. Der Wortführer der Interessengruppe »Saubere Leinwand« – er gilt als persönlich integer und humorlos und zeigt stiernackige Konsequenz spielt sich in seiner Partei als Rechtsaußen auf, gilt selbst in ihren Reihen als ein ungeliebter Inquisitor, wenn es auch nur um die geringste Liberalisierung im Kulturleben geht. MdB Schwarzeder ist zudem der Intimfeind des Rechtsanwalts Dr. Kupski; die Streithähne kreuzen nicht nur aus sachlichen, sondern auch aus persönlichen Gründen bei jeder Gelegenheit die Klingen. Wenn der vielbeschäftigte Kulturpolitiker – wie immer im dunklen Anzug – heute keinen seiner ministrierenden Erfüllungsgehilfen in die Sitzung schickt und den Zensurtermin persönlich wahrnimmt, sind Vorführung und anschließende Diskussion auf Zusammenstoß programmiert.

      Nach dem Vorspann, in dem R. V. Nurell erstmals als Autor und Regisseur genannt wird, kommt gleich der Hauptdarsteller ins Bild: Es ist Rudolf Prack, der schon vor dem Sturz geläutert wirkt, ein Star, dessen Gesicht einen ganzen Film trägt. Er spielt einen verheirateten Industriellen, der sich in seine Sekretärin verliebt hat und ziemlich ausweglos zwischen zwei Frauen steht. Die Sekretärin, von der jungen Ulla Klaiber gespielt, schätzt ihren Chef sehr und vermeint ihn zu lieben, hat aber Hemmungen, die Konsequenz daraus zu ziehen, weil der Chef verheiratet ist. Auf der Leinwand spielt Ulla eine Jungfrau, im Leben ist sie als eine Entdeckung Gremlitzkas bestens erfahren im Umgang mit Filmmäzenen.

      Nun will der erfolgreiche Unternehmer endlich zur Tat schreiten und täuscht eine Geschäftsreise nach Mailand vor, fährt aber in Wirklichkeit über das Wochenende mit der angebeteten Brigitte nach Stresa am Lago Maggiore. Die Isola Bella und herrliche Landschaftsbilder, untermalt von schwülstiger Musik, sollen endlich seine Liebeswerbung zum Erfolg führen. Es ist eine Rechnung ohne die Frau des Wirtschaftstitanen, die ihrem Mann auf die Schliche kam und ihm heimlich nachreist – doch nicht allein, sondern in Gesellschaft eines zehn Jahre jüngeren, gut aussehenden Mannes, der wie ein Verführer – Adrian Hoven, wie er leibt und lebt – wirkt, aber diese Rolle gegen ein bescheidenes Honorar nur vortäuscht, um den Gatten auf Abwegen eifersüchtig zu machen.

      Ohne einander zu sehen, begegnen sich die Paare einige Male – und steigern die Erwartung der Zuschauer. Schließlich kommt es zum unausweichlichen Zusammenstoß. Nach einem heftigen Wortwechsel erkennt Rudolf Prack, daß er seine Frau immer noch liebt, und die Sekretärin Brigitte erfaßt, daß sie viel besser zu dem jüngeren Mann paßt, der ihr auf Anhieb so gut gefällt. Arm in Arm verschwindet sie mit ihm; die Liebe auf den ersten Blick wird anschließend im Silberlicht des Mondes am Strand des Lago Maggiore zelebriert – sacht, ziemlich lang und genügend deutlich, wenigstens für die Herren der Selbstkontrolle, die daran Anstoß nehmen sollen. Die AUWAG wird dem Rechnung tragen, um durch Entgegenkommen bei der Kastration dieser Szene andere gewagte Stellen durchzubringen. Ein Schacher nach dem Motto: Haut um Haut, Busen um Busen, Po um Po.

      Die Vorführung dauert fünfzehn Minuten länger, als der Streifen lang ist, weil der Vorsitzende auf Wunsch einiger Prüfer Passagen wiederholen läßt.

      »Na ja, Herr Nurell«, leitet er dann die Diskussion ein, »die Goldene Palme haben Sie für diesen Streifen wohl nicht angestrebt?«

      »Natürlich nicht«, erwidert der Regisseur und Autor. »Es handelt sich schließlich um einen kommerziellen Film, und wir –«

      »Also um einen unmoralischen Schmachtfetzen, dessen einziger Zweck das Geldverdienen ist«, unterbricht ihn Schwarzeder.

      »Da kann ich nur mit Nietzsche sagen: ›Dem Reinen ist alles rein, den Schweinen wird alles schwein‹«, ruft Dr. Kupski über den Tisch.

      »Bitte unterbrechen Sie Herrn Nurell künftig nicht mehr«, wiegelt der Vorsitzende ab und setzt mit einer bedauernden Geste hinzu: »Wir kommen sonst nicht weiter.«

      »Kommerzielle Filme für minderwertig zu halten«, fährt Nurell fort, »ist kultureller Hochmut, und jede Art von Nudität abzulehnen, die Brustwarzen zu vermessen, die Popofalten nachzuzählen und jeden pointierten Dialog als anstößig zu verdächtigen ist schiere Heuchelei. Meine Herren, Sie werden ja wohl nicht den berüchtigten ›Zwickelerlaß‹ wieder einführen wollen, durch den sich die Weimarer Republik einst unsterblich blamiert hat.« Er merkt die Unruhe im Raum und mäßigt sich: »Die Besucher gängiger Unterhaltungsfilme sind in der Regel die Menschen, die das Wirtschaftswunder schaffen und am wenigsten daran teilnehmen. Denken Sie an das Ruhrgebiet, aus dem zur Zeit unser Reichtum kommt: Da kriechen die Kumpel erschöpft aus den Schächten, zwängen sich die Angestellten aus ihren engen Büros, strömen die Arbeiter in unwirtliche Walzwerke und lärmende Fabrikhallen. Sind sie Banausen, wenn sie wenigstens in ihrer Freizeit den Mief über dem Kohlenpott mit herrlichen Bildern von wunderschöner Landschaft vergessen wollen – um zwei Stunden lang im Kino zu erleben, was die Nutznießer ihrer Überstunden ständig haben? Für eine bemessene Zeit wollen sie sich in eine heile Welt flüchten und den Alltag mit seinen Trümmern und Schuttbergen vergessen, bevor sie sich wieder mit ihren kleinen brüchigen Wohnungen abfinden und dann eine Woche weitermalochen bis zum nächsten Wochenende mit dem nächsten Heimatfilm.«

      »Was für eine Rede!« spottet Schwarzeder. »Sie haben die heile Welt beschworen, Herr Nurell. Dazu gehört freilich auch eine heile Moral. Was wir aber hier sehen, ist verlogener Kitsch ohne eigentlichen Bezug zur Wirklichkeit.«

      »Diese Bewertung ist Sache der Filmkritiker«, schränkt der Vorsitzende ein. »Wir haben hier nur zu beurteilen und zu verhindern, was anstößig oder unzüchtig ist.« Nach einer kurzen Pause stellt er fest: »Ich will den Herren nicht vorgreifen, aber ich bin sicher, daß wir die Nacktszene auf keinen Fall so passieren lassen können.«

      »Sie ist dramaturgisch bedingt«, erklärt der Schöpfer der Edelschnulze.

      »Ihre Dramaturgie ist Ferkelei, Halbpornographie«, wettert der Mann aus Bonn. »Sie appelliert an die niedersten Instinkte im Menschen, lockt sie ins Kino, nur damit verantwortungslose Geschäftemacher Geld scheffeln. Filme wie dieser verseuchen die Phantasie der Jugend! Wenn’s nach mir ginge, würden solcherlei Schmutzprodukte selbst für Erwachsene unzugänglich. Wir«, verfällt der Sittenwächter in den Politton, »sind auch erwachsenen Bürgern gegenüber zu einer gewissen Formung und Bildung verpflichtet.«

      »Jetzt reicht’s mir aber!« fällt ihm Kupski ins Wort. »Ein Filmtheater ist weder eine Schule noch eine Kirche –«

      »Aber auch kein Bordell«, attackiert ihn sein Gegenspieler.

      »Meine Herren, ich bitte um Mäßigung«, greift der Vorsitzende wieder ein.

      »Ich finde Filme wie ›Liebe am Lago‹ minderwertig, geschmacklos, ja geradezu obszön«, konstatiert Schwarzeder.

      »Ich will Ihnen einmal sagen, was obszön ist, Herr Abgeordneter«, eröffnet der Anwalt