Manchmal gehört mir die ganze Welt. Mecka Lind

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Название Manchmal gehört mir die ganze Welt
Автор произведения Mecka Lind
Жанр Книги для детей: прочее
Серия
Издательство Книги для детей: прочее
Год выпуска 0
isbn 9788711464885



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verschlafener Jörgen neben ihr auf. Sie schafft es gerade noch, ihm die Hand auf den Mund zu legen, ehe seine Fragen, die schon unterwegs waren, herauskommen. Dann zieht sie ihn hinter sich her in sein Zimmer und macht die Tür zu.

      »Hör mir zu, Jörgen«, sagt sie und verstrubbelt ihm zärtlich die Haare. »Ich bringe dich heute in die Schule. Ich sage deiner Lehrerin, daß Mama krank ist, und daß du deshalb zu spät kommst. Aber du mußt versprechen, hier zu Hause kein Wort zu sagen, damit Mama oder dieser Typ nicht aufwachen.«

      Das verspricht Jörgen nur zu gern. Aber dann bekommt er Angst. »Du darfst mich nicht alleine lassen, Sanne«, sagt er ernsthaft.

      »Das würde ich doch nie tun, das weißt du doch«, murmelt Sanne und zieht ihn zu sich. »Aber jetzt mußt du ein großer Junge sein und mir helfen. Wir reden weiter, wenn wir draußen auf der Straße sind.«

      Jörgen zieht sich lautlos an, und Sanne packt ihre rote Sporttasche mit dem Notwendigsten. Während Jörgen in der Küche frühstückt, sucht Sanne den Sommermantel ihrer Mutter im Flurschrank. Sie steckt die Hand in die linke Manteltasche und seufzt vor Erleichterung, als ihre Finger auf den Packen mit Scheinen stoßen. Die Mutter hat gottlob das Versteck seit dem letzten Mal nicht gewechselt. Sie zählt dreihundert Kronen ab, das muß reichen. In der Küche schnappt sie sich eine Plastiktüte und dann durchforstet sie gründlich den Kühlschrank.

      »Nimm du die Hackfleischbällchen!« flüstert Jörgen. »Sie wird mir schon wieder welche machen.«

      Sanne lächelt ihren Bruder an, der fertig gefrühstückt hat und gerade seinen Teller und sein Glas in den Ausguß stellt. Da sind Schritte im Flur zu hören. Sanne drückt sich blitzschnell in den Besenschrank, mit der Sporttasche und allem. Sie paßt fast nicht hinein, aber Jörgen drückt die Tür fest hinter ihr zu.

      »Ist es schon so spät? Und du bist noch nicht weg!« jammert die Mutter nur einen halben Meter von ihr entfernt.

      »Ich ... ich bin nicht aufgewacht«, verteidigt sich Jörgen aufgeregt. »Aber ich bin gleich fertig, ich laufe bestimmt auch den ganzen Weg, du brauchst mich nicht hinzubringen, du kannst wieder ins Bett und weiterschlafen. Ich sage der Lehrerin, daß du krank bist.«

      »Ja, ja, raus jetzt mit dir!«

      Sanne hört, wie die Mutter in den Flur und dann ins Bad geht. Jörgen läßt sie aus dem Schrank heraus, und gemeinsam schleichen sie zur Wohnungstür.

      »Tschüs!« ruft er in die Wohnung hinein.

      »So beeil dich doch!« antwortet die Mutter vom Klo. Sanne und ihr kleiner Bruder rennen die Treppe hinunter. Als sie endlich draußen auf der Straße sind, erklärt sie ihm alles, so gut sie kann.

      »Wenn ich zu Hause wohnen will, dann schickt Mama mich wieder ins Heim, und dann sehen wir uns überhaupt nicht«, sagt sie. »Wenn ich mich aber von zu Hause fernhalte, dann kann ich auf jeden Fall in der Stadt bleiben und zu deiner Schule kommen und dich besuchen.«

      »Jeden Tag?« fragt Jörgen leise.

      »Nein, nicht jeden Tag«, sagt Sanne, die keine Versprechen geben will, die sie nicht halten kann. Sie weiß selbst nur zu gut, wie es ist, wenn man beschissen wird.

      »Nicht jeden Tag, Jörgen, aber so oft es geht.«

      Er nickt stumm, und als sie fast bei seiner Schule sind, sagt er tapfer: »Du brauchst nicht mitzukommen und mit der Lehrerin reden, das kann ich selbst. Ich mach’s, wie du gesagt hast, ich sage, daß Mama krank ist.«

      Als Sanne sieht, wie ihr kleiner Bruder ihr von der anderen Seite der Glastür zuwinkt, würde sie am liebsten losheulen.

      3

      Der Hauptbahnhof ist um diese Jahreszeit wirklich kein warmer Ort. Der Wind pfeift durch alle Ein- und Ausgänge, und zusammen mit den Windstößen, die durch die zerbrochenen Scheiben unter dem Dach fahren, ergibt das einen Zug, der sich gewaschen hat. Aber hier ist es immer noch wärmer als draußen auf der Straße. Sanne sucht ein freies Schließfach für ihre Sachen. Dann läuft sie eine Weile durch die Halle und schaut sich um.

      Auch jetzt halten sich hier hauptsächlich Penner auf. Manche sitzen ganz aufrecht und schlafen. Sie sitzen bestimmt schon seit fünf Uhr hier, denn da wird der Bahnhof geöffnet. Die unvermeidliche Plastiktüte, in der all ihr Hab und Gut ist, halten sie krampfhaft fest; nicht einmal im Schlaf lassen sie sie los. Diejenigen, die nicht schlafen, schlurfen herum und wühlen in den Papierkörben. Hier finden sie vielleicht eine leere Pfandflasche, für die es Geld gibt, oder wenn sie Glück haben, irgend etwas, das man verwenden oder essen kann. Wieder andere versuchen, ein paar Kronen zusammenzubetteln.

      Es ist ein verzweifelter Kampf um das Geld fürs erste Bier. Und ihre unrasierten, verhärmten Gesichter, ihre abgetragenen, schmutzigen Kleider und der Gestank nach Alkohol und Unsauberkeit machen es ihnen nicht gerade leichter. Um die Penner herum hetzen die Leute durch die Gegend. Sie sehen nur die großen Uhren. Sie hören nur das Bremsen der Züge unten auf den Bahnsteigen und die Lautsprecher, die eine Ansage nach der anderen schnarren.

      Sanne setzt sich erschöpft auf eine Bank. Sie hat jede Menge Zeit.

      Zunächst hat sie den ganzen langen Tag vor sich, und wo sie heute nacht schlafen wird, wird man sehen, wenn es soweit ist. Und im übrigen könnte sie ja hier und jetzt eine Runde schlafen. Sie schließt die Augen und hört entfernt die verschiedenen Geräusche, die sich vermischen und zu einem rauschenden Fluß werden, der sie immer weiter wegträgt.

      Sie erwacht von lautem Gebrüll. Eine Gruppe Interrail-Kids hat sich auf die Bank nebenan gesetzt. Sie schlucken Tuborg-Bier und schreien herum und sind sehr weit weg von zu Hause.

      Wenn ich da sitzen und so in aller Öffentlichkeit saufen würde, hätten mich die Aufseher schon lange rausgeworfen, denkt Sanne mürrisch.

      Sie sitzt nicht mehr alleine auf der Bank. Ein großes, mageres Mädchen mit kurzgeschnittenen hennaroten Haaren, ungefähr fünfzehn, hat neben ihr Platz genommen. Sie raucht hektisch und starrt vor sich hin.

      Sie sieht bestimmt gut aus, wenn sie mal ausgeschlafen ist, denkt Sanne und sieht, daß das Mädchen unter der schwarzen Lederjacke nur ein dünnes T-Shirt anhat. Gott, was muß die frieren!

      Ein Mann geht vorbei, er trägt einen schicken Mantel, frischgeputzte Schuhe und eine Aktentasche, die so glänzt, daß man meinen könnte, sie sei auch gerade blankgerieben worden. Er ißt ein Würstchen, daß der Senf und das Ketchup nur so in seinen grauschwarzen, buschigen Bart tropfen. Es sieht eklig aus. Dennoch trifft sie der Heißhunger wie ein Schlag in den Magen. Sie holt die Tüte mit den Fleischklößchen heraus, die sie unter der Jacke versteckt hatte, und legt sie neben sich auf die Bank. Dann bewegt sich ihre Hand zwischen der Tüte und ihrem Mund hin und her, als ob sie eine Maschine wäre. Bis sie statt eines Fleischklößchens Finger ergreift. Sie ist so überrascht, daß sie wütend wird.

      »Hast du sie eigentlich noch alle!« schreit sie das Mädchen an, das mit einem Grinsen das letzte Fleischbällchen in die Luft wirft, es mit den Zähnen auffängt, die Zigarette ausdrückt und aufsteht.

      »Verdammt gut!« sagt sie. »Danke schön!«

      Dann verschwindet sie in Richtung Ausgang Vesterbro. Sanne zuckt mit den Schultern und wirft die leere Tüte in den nächsten Papierkorb.

      Um irgend etwas zu machen, holt sie ein abgegriffenes Notizbuch heraus, das mit Telefonnummern vollgeschmiert ist. Vor jede Nummer hat sie ein großes oder ein kleines oder gar kein Kreuz gemalt. Das große Kreuz bedeutet Freunde mit eigener Wohnung, wo sie schon mal übernachtet hat, wenn es nötig war.

      Die kleinen Kreuze bedeuten auch Übernachtungsmöglichkeiten, aber in diesem Fall sind es Freunde, die zu Hause bei ihren Eltern wohnen, wie zum Beispiel Lisbeth. Nummern ohne Kreuz hat sie entweder noch nicht ausprobiert, oder sie haben sich als Nieten herausgestellt.

      Eigentlich hat sie das Buch nur herausgeholt, um irgend etwas in der Hand zu halten, aber als ein Penner sich neben sie setzt und immer näher rückt und brabbelt, wie hübsch sie sei, geht Sanne verärgert zu einer der vielen Telefonzellen und ruft einige