Название | Manchmal gehört mir die ganze Welt |
---|---|
Автор произведения | Mecka Lind |
Жанр | Книги для детей: прочее |
Серия | |
Издательство | Книги для детей: прочее |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9788711464885 |
»Du bist ja total verrückt!« jammert die Mutter und läuft zu dem Kerl hinüber. »Du hättest ihn totschlagen können!«
»Ich habe ihn ja gar nicht getroffen. Und außerdem hat er mich zuerst geschlagen«, knurrt Sanne und schaut ihre Mutter böse an, die jetzt ein Handtuch naß macht und dem Typ die Stirn abtupft. Er kommt zu sich, lallt etwas und schläft gleich wieder ein.
»Hilf mir, ihn ins Schlafzimmer zu tragen«, sagt ihre Mutter und packt ihn unter den Armen.
»Kommt nicht in Frage!« murmelt Sanne; sie hat den Kopf in den Nacken gelegt, um das Nasenbluten zu stoppen. »Laß ihn doch liegen. Er ist ja stockbesoffen.«
Aber die Mutter gibt keine Ruhe, und Sanne greift schließlich widerwillig nach den dünnen Beinen, und gemeinsam schleppen sie ihn ins Schlafzimmer. Schon bald schnarcht er laut im Doppelbett.
»Das war das«, seufzt die Mutter und dreht sich zu Sanne um. »Und nun zu dir. Ich will mit dir reden. Wir gehen in die Küche.«
Als Sanne das Schlafzimmer verläßt, schließt sie die Tür von außen ab. Sie hat nicht die Absicht, sich heute noch einmal überraschen zu lassen.
Ihre Mutter gießt sich ein Wasserglas voll Wein ein. Sie nimmt einen ordentlichen Schluck und schaut Sanne finster an, die immer noch Nasenbluten hat.
»Sie haben heute schon wieder aus der Schule angerufen«, sagt sie. »Sie haben gesagt, daß du fast nie hingehst.«
»Das kann ich ja wohl auch nicht. In diesem Haus kriegt man ja nie seine Ruhe. Zumindest nicht, solange du solche Schweine wie den da drinnen anschleppst.«
Die Mutter trinkt den Rest Wein in einem Zug aus und gießt sich noch mal ein.
»Sie wollen dich wieder ins Heim schicken, und ich bin völlig damit einverstanden. Ich schaffe es nicht mehr mit dir. Ich will auch eine Chance haben, mein Leben zu leben.«
»Wie zum Beispiel die, sich von einem runtergekommenen Saufbold halb oder ganz totschlagen zu lassen.«
»Ich will auf jeden Fall keine Rotznase hier haben, die kommt und geht, wie es ihr paßt, und sich auch noch in meine Angelegenheiten einmischt! Ich will nicht mehr! Verstehst du?«
Doch, doch, Sanne versteht es ganz genau. Ihre Mutter will sie nicht haben. Sie hat sie nie gewollt. Ja, vielleicht ganz am Anfang ... sonst hätte sie wohl abgetrieben. Sannes Vater hat sich ja davongemacht, so schnell er nur konnte, als er erfuhr, was los war.
Ihre Tante Kirsten hat ihr erzählt: »Am Anfang ging es ganz gut. Sie war richtig stolz auf dich. Obwohl ich manchmal gedacht habe, daß sie eigentlich mehr spielte ... ein neues, spannendes Spiel. Aber dann bist du gewachsen und hast immer größere Ansprüche an sie gestellt, und plötzlich war alles so anstrengend, sie war so müde und erschöpft, und als das Sozialamt schließlich ein Heim vorschlug, ließ sie sich sehr schnell dazu überreden. Du warst ungefähr drei Jahre alt.«
Sanne weiß das ganz genau, es ist ihre früheste Erinnerung. Wenn sie will, kann sie die Augen schließen und alles genau vor sich sehen. Eine fremde Tante und ein fremder Onkel stehen über sie gebeugt und reden auf sie ein, wie krank ihre Mama sei, und daß sie allein sein muß, um wieder richtig gesund zu werden. Deshalb muß Sanne eine Zeitlang wegfahren. Dann nehmen sie sie hoch und tragen sie zu einem Auto und fahren davon, und die Angst in ihr ist nachtschwarz.
So ist sie im Kinderheim gelandet. Verängstigt und voller Schuldgefühle. War sie wirklich so schlimm, daß ihre eigene Mama krank davon wurde, sie bei sich zu haben? Die Zeit verging, und ab und zu kam es vor, daß Mama Vibeke den Einfall hatte, es noch mal mit ihrer Tochter zu versuchen. Obwohl die Abstände immer länger wurden. Sanne fühlte sich im Heim nicht wohl, hatte Heimweh und träumte von ihrer schönen jungen Mama. Wenn sie sich dann sahen, mußte es einfach schiefgehen, weil kein Mensch einem Traum entsprechen kann. Und Mama Vibeke hatte wohl auch ihre Träume gehabt, und die Enttäuschung war gegenseitig. Es gab Krach und Geschrei, und es endete immer damit, daß Sanne wieder ins Kinderheim mußte.
Erst als Jörgen geboren wurde, durfte sie längere Zeit zu Hause wohnen. Und Sanne liebte ihren kleinen Bruder, tat alles dafür, daß sie bleiben konnte. Und sie hatte Glück, denn jetzt wurde sie gebraucht. Jörgens Vater war genau wie Sannes abgehauen, und davon wurden die strapazierten Nerven ihrer Mutter auch nicht gerade besser. Sie ging zu verschiedenen Ärzten und bekam verschiedene Pillen. Pillen, damit sie nachts schlafen konnte. Pillen, damit sie durch den Tag kam. Pillen gegen die ständigen Kopfschmerzen und die Übelkeit. Pillen über Pillen. Bestimmt hat sie auch die Gebrauchsanweisungen nicht so genau gelesen, wenn sie die Pillen nahm, denn manchmal war sie morgens so fertig, daß sie kaum aus dem Bett kam. Diese Tage liebte Sanne, denn dann brauchte sie nicht in die Schule zu gehen, sie mußte sich ja um ihre Mutter und ihren kleinen Bruder kümmern, und dabei hatte sie das Gefühl, wichtig zu sein, und sie war überglücklich. Ihr machte es also gar nichts aus, daß diese Tage immer häufiger wurden. In der Schule war man darüber ganz anderer Ansicht. Und man beklagte sich bei ihrer Mutter. Aber dieses Mal ließ sie sich nicht so leicht überreden. Jetzt wußte sie, was sie an ihrem »großen«, tüchtigen Mädchen hatte. Zumindest, bis Jörgen in die Kindertagesstätte kam. Dann, als Sanne immer noch die Schule schwänzte, gab ihre Mutter dem Druck von außen nach.
Diesmal kam Sanne in ein anderes Heim, ein Erziehungsheim. Sie war die Jüngste, als sie dorthin mußte, und hier gab es viele, die ihr gerne alles mögliche und unmögliche beibrachten. Sie lernte Haschisch rauchen, Türen mit wenigen Hilfsmitteln aufzubrechen und manches andere, was man brauchen kann, wenn man Einbrüche macht. Sie lernte, sich zu verteidigen, sowohl mit dem Messer als auch mit den bloßen Fäusten, und natürlich lernte sie auch Karatetritte. Die Bestrafungen ließ sie über sich ergehen wie Hagelschauer. Ausgangsverbot. Kein Taschengeld. Zimmerarrest. Kellerarrest. Schläge und Erniedrigungen. Einmal, als sie heimlich in ihrem Zimmer Haschisch geraucht hatte, hängten sie zur Strafe einfach die Tür aus, damit jeder, der wollte, sehen konnte, was sie machte, auch wenn sie schlief. Sanne haßte das Heim gründlich, und eines Nachts haute sie ab.
Aber zu Hause in Vesterbro war sie nicht willkommen. Hier wohnte fast jedes Mal ein neuer Mann bei ihrer Mutter, und wenn sie kam, dann war sie etwas, das störte und nicht ins Bild paßte. Nach einigen stürmischen Tagen rief ihre Mutter im Erziehungsheim an und ließ sie wieder abholen. So vergingen die Jahre, und sie pendelte wie ein Jojo hin und her. Aber nun ist ihr tatsächlich das Kunststück gelungen, seit über einem halben Jahr zu Hause wohnen zu dürfen, oder zumindest nicht ins Erziehungsheim zurück zu müssen. Sie denkt deshalb überhaupt nicht daran, sich wieder dazu zwingen zu lassen, ins Heim zurückzugehen. Das macht sie ihrer Mutter auch sehr deutlich, als sie zusammen am Küchentisch sitzen.
»Da geh ich lieber in den Untergrund!« sagt sie. »Ich bin bald dreizehneinhalb, und ich werde schon zurechtkommen.«
Ihre Mutter stöhnt und seufzt und starrt auf den Fußboden, als ob sie da eine passende Lösung finden würde.
»Du verstehst doch wohl, daß du in die Schule gehen mußt«, sagt sie müde. »Und da sie dich in dieser Schule offenbar nicht mehr haben wollen, bin ich der Meinung, daß du froh sein kannst, wenn du wieder in dieses Heim zurück darfst.«
»Du hättest nie Kinder kriegen sollen«, sagt Sanne ruhig. »Du kannst ja nicht mal für dich selber sorgen.«
»Ich sorge für deinen Bruder! Und außerdem hat man es wirklich nicht leicht heutzutage als arme, alleinerziehende Mutter.«
»Es ist auf jeden Fall die Hölle, das Kind von so einer zu sein!« sagt Sanne hart. »Auf jeden Fall, wenn sie so ist wie du. Du willst also behaupten, daß du für Jörgen sorgst. Wo ist er denn jetzt? Ist er mal wieder