Sag jetzt nichts, Liebling. Hanne-Vibeke Holst

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Название Sag jetzt nichts, Liebling
Автор произведения Hanne-Vibeke Holst
Жанр Языкознание
Серия Therese-Trilogie
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9788726569582



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aus: zuerst Zarinas erschrockenes Schreien und danach irgendeine gezischte Gemeinheit von Paul, der sich daraufhin meistens auf dem Absatz umdrehte und den Ort des Geschehens verließ. Sein Reaktionsmuster ähnelt dermaßen einem bedingten Reflex, daß ich schon darüber nachgedacht habe, ob seine eigene Mutter sich vielleicht früher auch so aufgeführt hat? Zumindest empfinde ich in diesen Momenten fast eine gewisse Form von Sympathie für diese eiskalte Person, von der man ansonsten positiv nur vermerken kann, daß sie die Großmutter meiner Tochter ist. Aber ich schäme mich für die Anfälle, die mich in einer absoluten postepileptischen Erschöpfung zurücklassen. Zum Glück ist es mir bisher im großen und ganzen gelungen, sie auf den Privatbereich zu begrenzen. Nur ein einziges Mal spürte ich quasi in der Öffentlichkeit einen derartigen Anfall aufsteigen: Als ich in eine lächerliche fachliche Diskussion mit einem wichtigtuerischen, frischgeschlüpften Reporterküken über die formale Beziehung der Duma zum Präsidenten verwickelt wurde. Sein Wissen hatte Schlagzeilenniveau, ich wußte, daß ich recht hatte, aber ich hatte nicht die Kraft, mich mit ihm zu messen, und zum Schluß war ich soweit, daß ich fast schluchzend auf den Boden trampelte. Ich wurde im letzten Moment von Kirsten, der Produktionsassistentin, gerettet, die trotz ihres jugendlichen Alters und ihrer begrenzten Lebenserfahrung eine Art emphatischen Instinkt besitzt, genau im richtigen Augenblick zu erscheinen. Sie schickte den Jungen mit dem Hinweis raus, er solle auf der Autobahn weiterspielen, was er ihr sicher nie verziehen hat. Dafür konnte er später damit angeben, daß er statt meiner nach Prag geschickt wurde. Und während seine Karriereleiter steil nach oben führte, zeigt meine so sehr in die Waagerechte, daß ich zwischendurch bereits fürchte, den Auftrieb ganz und gar verloren zu haben.

      Eigentlich habe ich erst im letzten Halbjahr das Gefühl, meine wahre Person wiedergefunden zu haben. Wie immer diese auch sein mag. Aber wenn ich mich der Einfachheit halber damit begnüge, es bei einer rein physischen Definition zu belassen, dann kann ich zumindest sagen, daß ich so langsam wieder auf dem Damm bin und derjenigen ähnele, die ich früher einmal war. Damals. Damals, als ich allein war und nicht im Traum daran dachte oder mir wünschte, daß aus eins zwei und aus zwei drei werden sollte. Damals war ich unbesiegbar, geschlechtslos und sehr, sehr dumm. Damals, als es noch keinen Mann in meinem Leben gab. Damals, als Paul für mich noch nicht existierte.

      Ausgerechnet Paul, der jetzt so intensiv existiert, daß ich ihn mit mindestens einer Million Dänen teilen muß, wenn diese die TV2-Nachrichten einschalten. Dort hat er – nicht gerade überraschend – den Thron von The Real Mr. News bestiegen, direkt vor der Nase von Kollegen und Konkurrenz. Was unsere Einkaufstouren und Teilnahme an gesellschaftlichen Ereignissen zu einer Art Hürdenlauf zwischen Autogrammjägern, Gaffern und denjenigen macht, die ihr Desinteresse offensichtlich zur Schau stellen. Wobei letztere fast die Schlimmsten sind, weil Paul mangelnde Popularität nicht ertragen kann. Ein sonderbarer Charakterzug, der seit seiner Premiere im Fernsehen zutage tritt und um so merkwürdiger erscheint, als Paul ansonsten nicht gerade als servil oder konfliktscheu gilt. Das hat wohl etwas mit der großen Masse, dem Volk zu tun, vor dem sie eine Heidenangst haben, all die Kamerageilen.

      »You can’t win them all!« erklärte ich ihm einmal, als er in einer Kioskschlange zuließ, daß jemand sich vordrängelte, und statt über die offensichtliche Unhöflichkeit verärgert zu sein, seinen ganzen Charme entfaltete, nur um dem armen Schlucker hinterm Tresen ein Lächeln zu entlocken. Vergeblich übrigens, was den Versuch noch peinlicher wirken ließ.

      »Verdammt noch mal, ich muß das tun!« erklärte er und machte ein verkniffenes Gesicht, als wir auf dem Bürgersteig standen. »Von denen lebe ich schließlich!«

      »Aber deshalb mußt du dich doch nicht anbiedern!« erwiderte ich, und schließlich landeten wir in dieser sich immer wiederholenden Diskussion über TV2 contra öffentlich-rechtliches Fernsehen, über den Unterschied, auf der Basis harter kommerzieller Kalkulationen zu arbeiten oder ein behütetes Berufsleben in einem finanzierten Sandkasten zu führen. Wir verteidigen jedesmal mit gleicher Verbissenheit unsere Arbeitsplätze, und manchmal wird mir klar, daß das eigentlich zu weit geht. Es ist gar kein Paartherapeut mit langer Warteliste nötig, um zu durchschauen, daß es unser eigener privater Machtkampf ist, der hier auf die übertriebene Arbeitsplatz-Identifikation projiziert wird. Paul ist nicht immer himmelhoch begeistert von den Zuständen am Kvaegtorvet, und mein Sender hat weiß Gott einen Teil seines Charmes verloren, seit die Panik über schlechte Quoten und schwindende Zuschauerzahlen die Leitung dazu gebracht hat, Rationalisierungsfachleuten Tür und Tor zu öffnen. Vielleicht überreagieren wir, wie die Leitung behauptet, aber es ist nicht so leicht, eine Paranoia zu vermeiden, wenn man fast noch Schrittmesser angeschnallt bekommt, um zu messen, in welcher Zeit der Abstand vom Schreibtischstuhl zur Toilette zurückgelegt worden ist. Und dann die angekündigte Bepunktung, die Angst, trotz aller guten Prognosen eines Tages das Sausen der Guillotine zu hören und zu seiner Verwunderung festzustellen, daß es der eigene Kopf ist, der da fallen soll.

      Und warum nicht meiner? Eine unsichere Frau im gebärfähigen Alter, die jederzeit vom Fortpflanzungstrieb oder dem ersten Krankheitstag ihres Kindes aus der Bahn geworfen werden kann. Ich habe, vor allem in den letzten Monaten, meine Mutterschaft in einem Ausmaß heruntergespielt, daß man glauben könnte, ich hätte gar kein Kind. Das ist die einzig erfolgversprechende tragbare Strategie auf dem von Männern beherrschten Arbeitsmarkt. Ich selbst habe das Gefühl, daß ich wieder in Schwung gekommen bin, aber erst die Pläne, die Big Mama mir ins Ohr geflüstert hat, haben mich dazu gebracht, etwas von der Anspannung abzubauen. Inzwischen gehe ich davon aus, nun doch nicht auf der Liquidierungsliste zu stehen. Nicht einmal Paul kennt meine heimliche Beunruhigung und meine Furcht, nicht bestehen zu können. Ich habe meine geheimen Kämmerchen, genau wie er seine. Ich rufe den Sender von einer Zelle in der Eingangshalle aus an, räuspere mich und lege mir ein paar neutrale Sätze zurecht.

      »Na, was ist, hast du inzwischen gelernt, einen Schlips zu binden?« fragt Big Mama, als ich endlich zur Redaktion durchgekommen bin. Ich teile ihr meine Absage mit, und sie kann gerade noch verärgert mit der Frage reagieren: »Da ist doch nicht schon wieder was zu Hause passiert?«, bevor ich sie über die Lage informiere und sie darauf mitfühlendes Verständnis zeigt.

      »Hattet ihr ein enges Verhältnis, dein Vater und du?« fragt sie.

      »Nun ja«, antworte ich. »Wir haben uns nicht besonders oft gesehen.«

      »Deshalb kann es trotzdem eng sein. Ich habe erst gemerkt, was für eine enge Beziehung ich zu meinem Vater hatte, als er tot war. Ich habe danach ein ganzes Jahr nicht ruhig geschlafen! Achte darauf, daß du dich richtig verabschieden kannst! Und wer hält deine Hand?«

      »Das tue ich selbst«, erwidere ich und stecke meinen letzten Zehner in den Schlitz.

      »Aber Tes! Das geht doch nicht!« protestiert sie.

      »Ich habe zwei Hände«, erkläre ich und beende das Gespräch. Sonst endet es noch damit, daß sie selbst hier angestiefelt kommt – Aalborg hin oder her. Man nennt sie schließlich nicht umsonst Big Mama.

      Die Krankenschwester steht über meinen Vater gebeugt und tupft seine Stirn mit einem Tuch ab.

      »Er hat ein bißchen kalten Schweiß«, sagt sie und wischt ihm auch die Mundwinkel ab, in denen etwas Spucke zu sehen war. Das ist etwas Neues gegenüber vorhin, denke ich. Ich finde auch, daß er viel blasser geworden ist, ganz fahl, aber vielleicht ist es auch nur der Kontrast zu ihrer gesunden Sommerfarbe, der plötzlich so kraß auffällt.

      »Wir haben ihn gestern rasiert«, sagt sie und legt das Tuch hin. »Aber ich denke, heute lassen wir ihn in Ruhe, nicht wahr?«

      Ich nicke. Mir fällt ein Bild ein: Ein kleines Mädchen, drei oder vier Jahre alt, ist im Nachthemd von zu Hause weggelaufen. Ich will zum Tivoli, komme aber nur bis zum Milchgeschäft an der Ecke, wo Frau Iversen mich einfängt und mich heulend nach Hause schleppt. Auf dem Treppenabsatz vor unserer Tür steht er, in Pyjamahose und Unterhemd, mit blitzenden gelben Wolfsaugen und einer Maske aus weißem Rasierschaum. Die Zähne sind wie zu einem wütenden Biß entblößt. Mein Schreien, das jäh zerschnitten wird, die Hitze im Unterleib und die rinnende Wärme, als ich mir in die Hosen pinkle. Seine bärenstarken Gorillaarme, die mich hochheben und ins Bett stecken. Der parfümierte Duft nach Rasierschaum, wie eine Scherbe in der Nase, das phlegmatische Schweigen meiner Mutter