Sag jetzt nichts, Liebling. Hanne-Vibeke Holst

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Название Sag jetzt nichts, Liebling
Автор произведения Hanne-Vibeke Holst
Жанр Языкознание
Серия Therese-Trilogie
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9788726569582



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in die Luft starrt. Ein grotesker und erschreckender Anblick, aber dennoch schiebe ich die Tür auf und gehe unerschrocken hinein. Ich setze mich so weit von ihr entfernt hin, wie der enge Platz es zuläßt, und gebe einer Camel endlich das ersehnte Feuer. Ziehe dann zu kräftig daran, so daß ich husten muß, worauf die Frau sich zu mir umdreht, als würde sie erst jetzt meine Anwesenheit bemerken.

      »Sie sind keine Patientin hier«, stellt sie schroff und langsam fest, aber mit einer ausgebildeten Stimme, die keine Spur nordjütländischen Dialekts verrät. Ganz im Gegenteil, sie muß Kopenhagenerin sein.

      »Angehörige«, bringe ich nach einem Hustenanfall heraus.

      »Du bist seine Tochter, nicht wahr? Zimmer fünf?« fragt sie, und als ich zögere, fügt sie noch eine zusätzliche Erklärung dran. »Vom Maler. Skaarup. Ich kannte ihn früher mal. Deine Mutter auch. Damals, als wir alle noch lebten!« Sie entblößt die Zähne zu einem Lächeln, das verblüffend strahlend erscheint. Als hätte es immer noch die Kraft, den Tod wegzuküssen. Dann reicht sie mir ihre Klaue.

      »Hannah Rubin, Schauspielerin am Aalborg Theater.«

      Ich nicke und stelle mich vor. Jetzt erkenne ich sie wieder. Mein Gott! Daß der Tod so unbarmherzig sein kann. Vor gar nicht langer Zeit war sie eine der schönsten Frauen Dänemarks. Aufrichtig beneidet von meiner Mutter, als sie aus Kopenhagen verschwand und ihrem Intendanten- und Direktorenmann nach Aalborg folgte. Und dort blieb sie, auch nachdem er tragischerweise vor ein paar Jahren bei einem Autounfall bei Glatteis umgekommen war. Mutter war auf der Beerdigung, wie mir jetzt einfällt, und erzählte mit Tränen in der Stimme von »der großen Trauer der armen Hannah«. Damals hat sie sogar einmal ihr theatralisches Pathos zu Recht benutzt. Wenn es die Trauer war, die Hannah Rubin verzehrt hat, dann muß sie sehr groß gewesen sein.

      »Du siehst ihm ähnlich, nein, wirklich«, sagt sie nachdenklich. »Ja, es ist wirklich schade«, fährt sie dann ohne Übergang fort. »Eigentlich hätten wir uns doch gut miteinander amüsieren können. Hier, meine ich. Die Leute sind zwar wirklich reizend, aber es gibt nicht so viele von unserer Sorte. Wir haben ihn sogar einmal in Spanien besucht. Er hat uns ein Aquarell von der Mühle geschenkt, ich habe es noch zu Hause. Leider ist es inzwischen von der Sonne etwas verblichen. Denn eigentlich war er doch wirklich ein ausgezeichneter Maler. Er hätte nur selbst mehr dran glauben müssen. Es ist schwer, ohne Glauben Kunst zu schaffen. Unmöglich, würde ich sogar behaupten. Aber das verstehen nur wenige. Wir hatten einen herrlichen Nachmittag dort unten auf dem Berg, wir vier. Henrik und ich haben oft darüber geredet. Und daß wir noch einmal dorthin fahren wollten. Man konnte das Meer sehen, und sie hatten überall Olivenbäume da. Oder heißt es Büsche? Olivenbüsche?«

      Plötzlich dreht sie den Kopf und sieht mich mit abwartendem Blick intensiv an, oder besser gesagt, sie sieht durch mich hindurch, und ich rutsche unangenehm berührt auf meinem Platz hin und her, streife die Asche von meiner Zigarette und denke, daß sie eindeutig auf einem Trip sein muß. Morphin oder Peditin oder Methadon oder was man heutzutage im Vorhof des Todes so verabreicht.

      »Bäume«, sage ich, um aus der Klemme zu kommen. »Olivenbäume.«

      »Bäume«, wiederholt sie und wendet ihren Blick ab, als täte es weh, das Wort nur auszusprechen. »Weißt du«, sagt sie dann, »es gibt so viel, wovon man Abschied nehmen muß. Zum Beispiel von Bäumen. Liebst du jemanden?«

      »Wie bitte?« frage ich überrumpelt, während sie ihre Zigarette im Aschenbecher zerkrümelt.

      »Liebst du jemanden? Ich glaube, ich würde das hier nicht aushalten, wenn ich nicht geliebt hätte. Darf ich eine von deinen?« fragt sie daraufhin und zeigt auf meine Camel. »Eigentlich bin ich ja zu light gewechselt, aber jetzt ist es auch schon egal.« Ein dahinhuschendes Lächeln.

      Ich schiebe ihr ein wenig zu schwungvoll die Packung zu. »Du kannst sie alle haben. Ich habe noch eine Packung«, lüge ich, und das durchschaut sie sicher, fängt aber die Packung auf und läßt sie in dem Moment in der Tasche ihres Bademantels verschwinden, als die Tür aufgeht, die Krankenschwester mich entdeckt und mir mitteilt, daß jemand für mich am Telefon ist.

      »Ihr Mann!« sagt sie, und ich nicke, erleichtert darüber, daß ich Hannah Rubin und ihrer morbiden Klarsicht entkomme. Ich werfe ihr ein entschuldigendes Lächeln zu, das Leben muß ja trotz allem weitergehen, und ich bin schon fast an der Tür, als mich ihr Pfeil mit zitternder Präzision trifft: »Dein Mann? Dann liebst du also jemanden?«

      Zwei Fragen, die ich lieber überhöre, während ich den Flur zum Schwesternzimmer hinuntereile und dort den Hörer nehme. »Warum hast du nicht angerufen?« fragt Paul als erstes.

      »Weil ich am verdammten Sterbebett meines Vaters sitze! Gibt es sonst noch was?« frage ich wütend und starre die Pinnwand vor mir an, an der der Dienstplan der Krankenschwestern hängt. Am liebsten würde ich losheulen. Es fällt mir schwer, es nicht zu tun, während mir plötzlich ein Schlager-Refrain einfällt: »Nimm meine Hand, mein Freund ...«

      »Tes, o Scheiße! Ich konnte nur nicht begreifen ... Du bist so schnell abgehauen ... Wie sieht es aus?«

      »Er stirbt«, sage ich lakonisch und lese die Namen auf dem Dienstplan der Reihe nach. Anita, Trine, Susan und Vertretung. Montag, Dienstag, Mittwoch. Tagdienst, Abenddienst, Nachtdienst. EU – das muß Erziehungsurlaub bedeuten.

      »Wann kommst du zurück?« fragt er.

      »Du meinst, du willst wissen, wann du nach Odense fahren kannst?«

      »Tes, nun sei doch vernünftig! Du weißt doch, wie es ist!«

      »Er wird bald sterben«, antworte ich. »In der Tiefkühltruhe sind Fischstäbchen. Gib Zarina einen Kuß von mir und denke dran, sie auf Läuse anzugucken. Ich werde versuchen, heute abend anzurufen«, sage ich und lege auf, ohne mich zu verabschieden. Albern. »Nimm meine Hand, mein Freund ...«

      Im Laufe des Nachmittags kommt die Sonne richtig durch, und die Hitze vermischt sich mit den Ausdünstungen von Schweiß und Tod, sowohl von mir als auch von meinem Vater. Ich habe die butterblumengelbe Gardine vorgezogen, aber das Fenster einen Spalt weit offenstehen lassen, um ein bißchen Bewegung in die im Zimmer stehende Luft zu bringen. Außerdem haben die fernen Geräusche der Rush-hour in der Provinz etwas Beruhigendes an sich, wie sie in regelmäßigen Schüben zu mir heraufdringen, in festen Kadenzen, festgelegt von den Ampelphasen. Menschen sind auf dem Heimweg von der Arbeit. Andere holen die Kinder ab, kaufen ein, gehen zum Postamt. Wieder andere eilen an der Silhouette des Krankenhauses vorbei, ohne ihm einen einzigen Gedanken zu widmen. Sie sind von ihrem Alltag und ihren Plänen für den kommenden Abend so in Anspruch genommen, daß sie ihre eigene Sterblichkeit nur wie einen leichten Schauder registrieren, einen Schatten auf der Windschutzscheibe, wenn sie da unten bei Rot halten müssen und dadurch ganz zufällig ihr Blick in diese Richtung schweift. Vielleicht haben einige selbst schon hier gesessen. Im selben Zimmer, am selben Bett, mit dem gleichen, unvermeidlichen Abschied vor sich. Einem Abschied, der immer näher kommt, während der Nachmittag vergeht und ich das Wasser in der Schale wechsle, das Tuch darin eintauche, es auswringe und immer wieder den kalten Schweiß vom Gesicht des Mannes abtupfe, von dem ich so schrecklich wenig weiß. Zum Beispiel habe ich nie von der Mühle gehört, den Olivenbäumen und dem Blick aufs Meer. Was für ein Leben hat er dort gelebt? Wo hat er eingekauft, wo hat er gegessen, was hat er getrunken? Was hat er gedacht, wenn die späte Nachmittagssonne schräg auf die Mauer aus Findlingen fiel und selbst die geschlossenen Fensterläden die Hitze nicht mehr abhalten konnten? Saß er einfach nur auf einem Stuhl im Schatten, rauchte und trank billigen Wein, eine Flasche nach der anderen, die Nächte hindurch, sein Leben lang? Zeichnete er, schrieb er, malte er? Taumelte er peinlicherweise herum? Machte er Lärm? Erinnerte er sich, hatte er alles vergessen? Weinte er oder lachte er, wenn die Hunde, aufgestachelt von ihrem eigenen Echo, zwischen den Bergen anfingen zu kläffen? Liebte er? Wen liebte er?

      »Vater!« rufe ich in einem impulsiven Versuch, Kontakt aufzunehmen. Verzweifelt und vergeblich. Ich kaue auf meiner Lippe, aber da setzt seine Atmung aus, während seine Augenlider langsam hochrutschen und der Blick seiner dunklen Augen für den Bruchteil einer Sekunde oder eine Ewigkeit auf mir ruht oder durch mich hindurchsieht, aus einer anderen, fernen Welt, bevor sie wieder