Название | Sag jetzt nichts, Liebling |
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Автор произведения | Hanne-Vibeke Holst |
Жанр | Языкознание |
Серия | Therese-Trilogie |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9788726569582 |
Herr, sei mir gnädig. Wie wenig kann man wissen und sich trotzdem noch einbilden, man würde einen Menschen kennen? Das Rätsel wird immer größer in den Tagen vor dem Begräbnis, während uns eine wahre Flut von Statisten aus dem Leben unseres Vaters präsentiert wird. Wobei jeder einzelne wieder neue Seiten von ihm offenbart. Der Briefträger, der zu uns kommt und ein ganzes Bündel Briefe abliefert – darunter mehrere mit spanischen Briefmarken – und uns erzählt, daß unser Vater eine umfangreiche Korrespondenz führte. Die Nachbarsfrau, die mit einem Kanarienvogel im Bauer kommt und fragt, ob wir nicht so lieb sein könnten und den Vogel wieder nehmen? Sie hat auf ihn aufgepaßt, solange Skaarup im Krankenhaus war, aber sie hat Angst, daß ihre Katze ihn eines Tages fressen wird. Und die drei Schuljungen, die auf ihren Rädern heranbrausen und wissen wollen, ob es wirklich stimmt, daß der Maler tot ist. Also, richtig tot? Denn er hat ihnen immer Limonade gegeben, und außerdem konnte er richtig gut Geschichten malen. Sie brauchten ihm nur eine zu erzählen, schon hat er die Bilder dazu gemalt. Der Kioskbesitzer, der fragt, ob er das täglich einzige Exemplar von El Pais abbestellen soll, das er unter großen Mühen organisiert hat. Der leicht angesäuselte Lokalredakteur, der plötzlich von seiner eigenen Rührung gebeutelt wird und ein Taschentuch hervorholen muß, als er uns erzählen will, um wieviel reicher die Insel geworden ist, als Skaarup zurückkam, und um wieviel ärmer sie jetzt wieder wird. Was offensichtlich auch wörtlich zu verstehen ist, da sich herausstellt, daß der Lokalredakteur sich Geld von ihm geliehen hat. Zehntausend. Schließlich war er nach dem Tod des Alten ein wohlhabender Mann. Aber nicht deshalb haben die Leute soviel von Skaarup gehalten. Also, das dürfen wir auf keinen Fall glauben. Und natürlich wird er alles zurückzahlen. So bald wie möglich.
Unser Vater war ein wohlhabender Mann. Das wurde er, als Großvater starb und eine halbe Million in bar hinterließ, unter die Matratze gestopft und im Brennholz versteckt. Und auch wenn er ein Badezimmer hat einbauen lassen und sich offensichtlich ein paar gute Flaschen täglich gegönnt hat, so hat er es doch keineswegs geschafft, das ganze Vermögen auszugeben. Ganz im Gegenteil, der lokale Bankdirektor kann uns anvertrauen, daß »Skaarup auf jeden Fall genügend Geld hinterläßt, um seine eigene Beerdigung zu bezahlen«. Eine nordjütländische Untertreibung, die umschreibt, daß ungefähr 300.000 Kronen auf dem Konto sind.
»150.000 für jeden!« ruft Kiki aus und erstrahlt in einem Augenblick, in dem sie plötzlich ganz anwesend ist, was bei dem Bankdirektor ein väterliches Lächeln hervorruft, als wäre er der Weihnachtsmann persönlich.
»So sieht es wohl aus«, sagt er.
»Dann bitte in großen Scheinen«, sagt Kiki. Doch der Bankmensch zeigt noch einmal seine Parodontose und erklärt, daß wir damit leider bis zur Testamentseröffnung warten müssen.
Wenn nicht alle Geld von ihm geliehen haben und uns deshalb die ganze Zeit nett zunicken und anlächeln, dann ist diese Freundlichkeit der Bewohner von Læsø ein Beweis dafür, daß die Insel ihren verlorenen Sohn wieder aufgenommen hat. Deshalb ist es natürlich ausgeschlossen, ihn nicht »anständig« zu begraben, was zu allem Überfluß auch noch eine Begräbniskaffeetafel im Vesterø Hotel einschließt. Wo er übrigens, wie uns berichtet wird, oft verkehrte, bei einem kleinen Vormittagsbier die Zeitung las, mittags gebratene Heringe aß oder am Nachmittag eine Tasse Kaffee trank. Deshalb ist die Wirtin der Meinung, wir sollten die Anzahl der Beerdigungsgäste nicht unterschätzen. Sie werde jedenfalls für gut zwanzig Leute decken und außerdem dafür sorgen, daß ausreichend Kaffee und Kuchen bereitsteht. Rosinenwecken und Brezel. So will es die Tradition. Sowie Bier und Mineralwasser zum Abschluß.
»Das wäre auch in Skaarups Sinn«, erklärt sie. Ich weiß nicht, ob sie damit das Bier oder das Mineralwasser meint, lasse sie aber schließlich schalten und walten, Gringo, der ich in diesem fremden Land bin, wo alle Augen uns folgen und zweifellos hinter all der Freundlichkeit reichlich über uns getratscht wird. »O Scheiße, wie die glotzen!« knirscht Kiki mit den Zähnen, als wir aus dem Blumenladen kommen, wo wir am Tag vor dem Begräbnis endlich Kränze und Gestecke bestellt haben. Rote Rosen. »Ein Meer roter Rosen«, wie es mir in den Sinn kommt, offensichtlich von dieser ganzen Ritualisierung angesteckt. Ein Meer roter Rosen auf einem weißen Sarg! Ich muß weg hier. Wieder zu mir selbst kommen. Zurück in die Welt mit ihren Kriegen und Katastrophen, ihrer Nachrichtenflut und Deadlines. Zurück zu Zarina mit ihren pummeligen Ellbogen, den nassen Küssen und ihrer hemmungslosen Forderung nach Fürsorge und Aufmerksamkeit. Aber als ich abends zu Hause anrufe, um ihr gute Nacht zu sagen und mich über die Ereignisse des Tages mit Paul auszutauschen, der lobenswerterweise die Konsequenz gezogen und für die ganze Woche seinen Dienst getauscht hat, fällt es mir trotzdem schwer, mich zu konzentrieren. »Hörst du mir überhaupt zu?« fragt er fast jedesmal, mit jedem Tag mit wachsender Irritation. »Natürlich!« versichere ich ihm und gebe mir Mühe, die Fremdheit zu überwinden, die ich selbst spüre. Nicht nur zwischen ihm und mir, sondern zwischen der Normalwelt und dieser Seifenblase, in der wir eingeschlossen sind. Ich versuche gar nicht erst, ihm das zu erklären. Er würde doch nicht verstehen, wie schwierig es ist, sich zurechtzufinden in einem Haus, das einerseits aussieht wie immer, mit Großvaters puritanischer Einrichtung, das andererseits aber auch nach Vater riecht mit all seinen Kleidern, seinen spanischen Zigaretten, den leeren Weinflaschen, den mundgeblasenen Gläsern und den vielen kleinen Skizzen, Aquarellen, Büchern, Briefen und persönlichen Papieren, die überall in überraschend ordentlichen Stapeln liegen. Im Gartenhaus hatte er sich ein provisorisches Atelier eingerichtet, dort ist eine Staffelei mit einer vollkommen weißen Leinwand aufgestellt. Nicht einen einzigen Kohlestrich hat er auf ihr mehr zeichnen können. Aber die Palette und die Tuben liegen bereit. Vorwiegend rot und schwarz.
Kikis spontane Begeisterung bei der Aussicht auf ein Erbe währt nach einem Anruf bei Spunk nicht mehr lange. Die beiden sind dabei, die Möglichkeiten zu sondieren, Franchise-Partner bei der amerikanischen Drugstore-Kette Seven Eleven zu werden, welche offenbar plant, alle Straßenecken in Kopenhagen bis zum Jahrtausendwechsel in ihren Besitz zu bringen. Das Geld von Vater würde den Kredit und damit das Risiko verringern. Und das war’s dann. Ich nehme an, daß sie das mißmutig macht – und mich auch. Deshalb erwähne ich dieses Thema Paul gegenüber gar nicht erst und halte mich zurück, zu planen und eine Milchmädchenrechnung aufzustellen. Ich ertrage diese blasphemische Roheit nicht, daß des einen Tod des andern Brot sein soll. Als würde man die Goldzähne aus der Asche der Gaskammern ausgraben. Ich weiß selbst, daß das ein hysterischer Vergleich ist. Aber ich habe sowieso Probleme, mich dem Erbe gegenüber zu verhalten. Dem, was er uns hinterlassen hat. Dem Geld, dem Haus, dem Hausrat, allen Gegenständen gegenüber. Alles, was seins war, ist jetzt unsres. Wir reden nicht darüber, Kiki und ich. Aber keine von uns verspürt den Drang, zu schnüffeln oder herumzuwühlen. Wir haben nicht einmal die Tasche aus dem Krankenhaus geöffnet und geleert. Vielleicht haben wir beide das unbestimmte Gefühl, daß wir für unsere Neugier bestraft werden würden. Daß die Insel, das Haus, ja sogar der singende Kanarienvogel, den wir ins Wohnzimmer gestellt haben, mehr über unseren Vater weiß, als wir überhaupt wissen wollen. Deshalb lächeln sie alle so. Sie wissen, daß wir nichts wissen.
»Wir verkaufen das Haus, oder?« fragt Kiki plötzlich, als wir in dem durchgelegenen Doppelbett liegen und am Abend vor der Beerdigung versuchen einzuschlafen. »Das ist doch verdammt noch mal viel zu spooky. Du verstehst, was ich meine?«
Ich verstehe voll und ganz, was sie meint. Aber als ich am nächsten Morgen früh aufwache und mich leise davonstehle, um Kiki nicht zu wecken, die leise schnarcht, wie sie es schon immer getan hat, ist jede Andeutung von Twin Peaks verschwunden. Der Himmel ist genau so knallblau wie auf den Prospekten der Touristikunternehmen, und als ich über den Hügel ans Meer komme, liegt es wie ein glitzernder Teppich dort. Die Geräuschkulisse ist genauso idyllisch – leise glucksende Wellen, Möwenschreie und das ferne Tuten der Fischkutter. Weit entfernt geht jemand und stochert mit einem Stock in dem angespülten Tang herum. Ein alter Fischer auf der Suche nach Bernstein. Ich hocke mich auch hin und sammle ein paar Steine ein, beiße darauf und werfe sie wieder weg. Vater war gut im Suchen nach den goldfarbenen Versteinerungen – wir konnten lange nebeneinander hergehen, uns unterhalten, und plötzlich beugte er sich hinunter und schlug wie ein fischender Vogel zu. Er fand so viel,