Sag jetzt nichts, Liebling. Hanne-Vibeke Holst

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Название Sag jetzt nichts, Liebling
Автор произведения Hanne-Vibeke Holst
Жанр Языкознание
Серия Therese-Trilogie
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9788726569582



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etwas für die Alten übrigblieb, die wahrscheinlich ein sichereres Einkommen hatten, wenn sie leere Flaschen sammelten. »Wer will heutzutage noch Bernstein kaufen?« wie mein Vater trocken bemerkte. Und dann sagte er etwas über den billigen baltischen Bernstein, der einst Teil des sowjetischen Kunsthandwerks war, und wir sprachen weiter über die Palekh-Lackarbeiten und dann über Ikonen und weiter über Malewitsch und Strawinsky und Chagall in Paris – alles Dinge, über die er sehr viel mehr wußte als ich. Ich konnte nur neben ihm herlaufen, lauschen, mal etwas einfügen und mich wundern, woher zum Teufel er all das Wissen hatte. Und dann redeten wir weiter. Worüber? Jetzt, während ich den gleichen Weg gehe, mit den Schuhspitzen im Tang herumstochere und mich genau wie damals an dem frühen Frühlingsmorgen vor ein paar Jahren in der Kälte schüttle, versuche ich das Band zurückzuspulen, um mich zu erinnern, was er eigentlich von sich selbst erzählt hat. Da wird mir schlagartig bewußt, daß er irgendwie die ganze Zeit den Ball in meine Hälfte zurückgespielt hat. Es waren mein Leben, meine Arbeit, meine Stichworte, die als Sprungbrett für Gespräche und Assoziationen benutzt wurden. Weil er sein enormes Wissen über eigentlich alles locker dazu benutzen konnte, das Gespräch zu steuern und von sich selbst abzulenken. Ich war immer noch zurückhaltend mit meinen Fragen und wollte ihn nicht aushorchen aus Respekt – oder Angst –, die Unberührbarkeitsgrenze zu überschreiten, die er ganz deutlich aufrechterhalten wollte. Was weiß ich also eigentlich von dem Geist in der Flasche? Von Fidel Castro? Von dem singenden Kanarienvogel? Von Spanien? Von der Farbe Rot und der Farbe Schwarz?

      Ich trete gegen einen an Land gespülten Saftkarton. Wäre es besser gewesen, wenn er nie zurückgekommen wäre? Wenn er der Mythos vom verschwundenen Vater geblieben wäre? Ein Archetyp, dem gegenüber man sich verhalten kann. Auf den man wütend sein oder dem man nachtrauern kann. Und wer ist er jetzt? Nicht meiner, nicht unser, nicht ihrer. Ein Rätsel. Ein Mysterium. Eine brennende Sehnsucht. Ich sehe die Jolle, aber nicht die Leine. Ich kann mich nicht mehr daran erinnern, wann ich das letzte Mal gefallen bin, aber jetzt tue ich es. Padabum, wie ein Kind mit ausgestreckten Händen. Die Luft wird aus dem Brustkasten gepreßt, zerbrochene Muschelschalen und schleimige Algen drücken sich in die Handflächen, und ich kriege Sand auf die Zunge, als ich mir das Blut von der Lippe lecke. Ich bleibe unbeweglich liegen. Die Kälte zieht von den Lenden herauf, die Wellen erreichen mich fast, ich kann den Schaum in meinem Gehörgang knacken hören. Aber ich habe keine Kraft, aufzustehen. Will einfach nur hier auf gleicher Linie mit dem Horizont liegen, der sich wie ein dunkler Streifen am Ende meines Gesichtsfelds zeigt. Ich könnte einschlafen. Verschwinden. Mich auflösen oder wie eine Fliege im getrockneten Harz versteinern.

      »Ist Ihnen was passiert? Haben Sie sich weh getan?«

      Gelbe Gummistiefelspitzen direkt vor meiner Nase. Eine besorgte Frauenstimme, eine Hand auf meiner Schulter.

      Fuck! Die Pfarrerin. Morgenfrisch und vom Wind zerzaust. Dann war sie es also, die nach Bernstein gesucht hat. Wer ihr das wohl beigebracht hat? Ich reiße mich zusammen, hebe den Kopf, lächle betont munter, ergreife ihre Hand und komme auf die Beine.

      »Ich bin nur hingefallen. Ich war ein paar Sekunden abwesend. Jetzt ist alles wieder okay.«

      »Sind Sie sich da auch ganz sicher?« fragt sie und sieht mich skeptisch an.

      »Ganz sicher«, bestätige ich und klopfe mir den Sand von der Hose. »Haben Sie Bernstein gefunden?«

      »Was?« fragt sie überrumpelt. Dann begreift sie und lächelt. »Nein, ich finde nie etwas. Aber es ist trotzdem ein schöner Weg.«

      »It sure is«, sage ich und spucke aus.

      Wir als die nächsten Hinterbliebenen sitzen auf den Stühlen oben in der Sakristei nahe dem Sarg, der wirklich von einem Meer von Rosen bedeckt ist. Die Kirche ist bereits eine Viertelstunde vor der angesetzten Zeit voll, alle Reihen sind von unbekannten Fremden gefüllt. Ein paar der Gesichter erkenne ich als Kioskbesitzer, Nachbarn, Briefträger, Bankmensch wieder. Und Vaters alter Freund, der Oberarzt, taucht auch noch als einer der letzten mit einer hübschen, gut gekleideten Frau an seiner Seite auf. Vermutlich seine Ehefrau. Sonst sind es nur Gesichter ohne Identität, der Chor, der Abschied von dem Solisten nimmt. Die Glocken läuten, jemand räuspert sich, sonst ist nur Kikis anhaltendes Schluchzen in dem stillen Kirchenraum zu hören. Sie sitzt an meiner linken Seite, den Kopf an Spunks Schulter gelehnt. Rechts von mir sitzt Paul und kann gar nicht vermeiden, mit einem Armani-Model verglichen zu werden, in seinen schwarzen Jeans, dem schwarzen T-Shirt und der schwarzen Leinenjacke. Er hat nichts anderes gemacht, als sich korrekt anzuziehen, eben ganz in Schwarz. Aber es irritiert mich total, daß er da sitzt und alle Blicke auf sich zieht. Mr. News auf Læsø. Auch dem Lokalredakteur und seinem mitgebrachten Fotograf wurde draußen vor der Kirche ganz überraschend klar, daß Paul Weber zu den Trauergästen gehörte. Ganz zu schweigen von der Berühmtheit vom Königlichen Theater, Skaarups Exfrau, meiner Mutter, hinter Batwoman-Sonnenbrille und mit passender Trauermiene. Warum zum Teufel ist sie überhaupt gekommen? Und warum duldet Freddy, ihr gutmütiger Liebhaber, es, wie ein Schoßhund von ihr mitgeschleppt zu werden? Hat der Mann nichts in der Hose?

      Und hat Skaarups älteste Tochter kein Herz, denken sie vielleicht da unten, denn so gern ich auch das Gewünschte abliefern würde, es ist mir nicht möglich, etwas anderes als eine unwirkliche Fremdheit während der kirchlichen Zeremonie zu fühlen. Vielleicht möchte Paul irgendeine Form von Gefühl aktivieren, als er mir seine Hand auf den Oberschenkel legt, aber ich schiebe ihn weg und höre aufmerksam der Predigt der Pfarrerin zu. Ich merke, daß sie ihn gekannt hat, aber ich merke auch, daß sie ihn nicht gekannt hat, nicht so gut, wie sie selbst glaubt. Irgendwie ist es ihm gelungen, sie anzuschmieren, genau wie es ihm gelungen ist, mich anzuschmieren. Deshalb irritiert sie mich mit ihrem Versuch, den Toten zum Idol zu erhöhen. Das Orgelbrausen und die Kirchenlieder schaffen es fast, mich mitzureißen, besonders, als wir zu »Die letzte Nachtwache« kommen, bei der mir die Szene im Krankenhaus wieder ins Gedächtnis kommt. Aber da ist Kiki so aufgelöst, daß ich mich darauf konzentrieren muß, sie zu trösten und zu beruhigen. Sie hat Spunk losgelassen und sich mir zugewandt. Diese Nachtwache gehört uns. Niemand, weder Spunk noch Paul, wird jemals diese durchwachte Nacht mit uns teilen können.

      Als die Priesterin den Segen über uns gesprochen hat und die Zeremonie damit vorbei ist, nickt sie mir zu. Wir haben verabredet, daß ich vor den Sarg treten, ein paar Worte sprechen und zum Begräbniskaffee im Hotel einladen soll. Ich erwidere ihr Nicken. Meine Bestätigung, daß ich es schon schaffen werde. Dann stehe ich auf, stelle mich vor den Sarg und versuche mich zu sammeln. Die ganze Gemeinde starrt mich an. Erwartungsvoll. Fordernd. Sie gehen davon aus, daß ich etwas Wichtiges sagen werde. Der Kirchenraum weitet sich und zieht sich wieder zusammen. Ich spüre, wie mein Herz voller Panik in der Brust zu rasen beginnt, während alle Fluchtinstinkte aktiviert werden. Ich schaue nach oben, um mich von den Gesichtern zu befreien, erblicke ein Schiff unter der Kuppel, das leicht in den Aufhängeschnüren schaukelt. Ich trete einen Schritt zurück, strecke die Hand aus und stütze mich auf den Sarg. So bleibe ich stehen. Mit der Hand auf dem Sarg und dem Blick auf dem Schiff. Und so spüre ich ihn doch noch.

      »Lieber Vater«, setze ich an und befeuchte meine Lippen. Meine Stimme zittert etwas, aber ich rede die Nervosität weg. »Ich weiß nicht sehr viel von dir. Aber ich weiß, daß dein Leben voller Meer und Schiffe war, seit du ein kleiner Junge hier auf Læsø gewesen bist. Ich weiß auch, daß du schon damals den Begriff ›Horizont‹ kennengelernt hast und daß du dich vielleicht mehr als die meisten anderen danach gesehnt hast, ihn zu überqueren ...« Ich spreche weiter, flüssig und ohne Stocken, über weitere Schiffe, weitere Horizonte, über Fernweh und Ruhelosigkeit und über Unzufriedenheit. Ich habe keine Ahnung, woher die Worte kommen. Oder wohin der nächste Satz mich führen wird. Aber schließlich bin ich am Ende der Rede angekommen.

      »Vater, ich weiß nicht, wovor du geflohen bist. Oder was du erreichen wolltest. Aber du bist zurückgekommen und warst ein anderer als der feurige Rebell, der einst der ganzen Insel den Rücken gekehrt hat. Ich bin mir nicht sicher, ob sie dich wirklich irgendwann in Ruhe gelassen hat, die Dämonenmeute, die dich dein ganzes Leben lang gejagt hat. Aber ich weiß, daß du dir gewünscht hast, sie abschütteln zu können, den Kreis zu schließen und damit Frieden zu machen. Mit der Vergangenheit und mit uns, die du verlassen mußtest. Es ist uns gelungen, dich zurückzubekommen. Danke dafür. Ruhe in