Название | Zürcher Filz |
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Автор произведения | Gabriela Kasperski |
Жанр | Языкознание |
Серия | Schnyder & Meier |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783960416678 |
Kaum stand Meier draussen, scrollte er durch die Website von «DeHabitat». Es war ein Minibetrieb, der aus einem Experten für Stiftungsmanagement bestand. Es wurden keine Namen erwähnt. Zwei Stichworte blieben Meier haften: Gutachten, Analyse und Begleitung bei der Neugestaltung interner Prozesse. Oder anders gesagt, im Dreck wühlen und umstrukturieren. Genau wie Del Pietro vermutete. Das war hochbrisant. Wenn Philomena Lombardi tatsächlich die Absicht hatte, ihre Stiftung drastisch zu verändern, dann wurde sie für einige Leute zur Feindin Nummer eins. Diese Information war wichtig für die polizeilichen Ermittlungen. Aber bevor Meier Barras all das mitteilen konnte, musste er noch mehr in Erfahrung bringen. Es war später Freitagnachmittag. Er hatte noch einige Stunden Zeit.
13
«Aus, Sherlock Fünf. Nicht so stürmisch.» Helga Brunner hielt ihren Dackel nur mühsam zurück. Der Seeburgpark war sein Revier. Wenn sie sich dem Eingang näherten, war er kaum zu bremsen, trotz seines hohen Alters. «Gleich sind wir da.»
Am Himmel herrschte eine dramatische Stimmung, der lichte Hochnebel hatte sich in eine Decke verwandelt, die Bise trieb Helga einen Tropfen aus dem Nasenloch. Das Tor war geöffnet, das Schild mit dem Hinweis, Hunde seien an der Leine zu führen, war mit einer neuen Sprayerei versehen.
«Vandalen», würde der Silberschneider schimpfen. Der alte Schneider, den alle nur Silberschneider nannten, war der selbst ernannte Hüter des Seeburgparks. «Vandalen, diese Jungen.»
Helga stimmte ihm meistens zu. Es gab viele Vandalen. Die einzige Ausnahme war das frisch verliebte Pärchen, der schwarze Junge und das weissblonde Mädchen mit dem Pferdeschwanz. Sie hatten nur Augen füreinander und waren das Gegenteil von aggressiv. Helga hatte sie schon lange nicht mehr gesehen.
Sie bückte sich, um Sherlock Fünf abzuleinen. Bevor sie den Hund freigab, huschten ihre Augen zur Rosenpergola, die selbst in der toten Jahreszeit verwunschen wirkte. Sie verharrte, als sie die Silhouette eines Menschen bemerkte. Trug er eine Haube? Nein, sie hatte sich getäuscht. Es war der Lorbeerbusch.
«Lauf, Sherlock.»
Übermütig sprang Sherlock Fünf davon, er liebte seine tägliche Portion Freiheit. Helga ging hinter ihm her, bewunderte den Blutahorn, dessen Äste im Dämmerlicht wie Gabelspitzen wirkten. Nach einer Weile zog sie den Kragen ihres dünnen Mantels enger, es war ihr einfach zu kalt, sie würde früher wieder heimgehen. Sie lockte Sherlock Fünf mit einem Leckerli herbei. Endlich kam er angeschossen, sabbernd vor Gier. Als Helga den Hund an die Leine nehmen wollte, stemmte er die Pfoten in den Boden. Die halbe Stunde ist noch nicht vorbei, sagte seine Körperhaltung.
Die Glocken von der nahen Neumünsterkirche setzten ein.
«Also gut, bis es ausgeläutet hat.»
Auf ihr Handzeichen hin war der Hund weg. Linker Hand, im nahtlosen Übergang zum öffentlichen Park, tauchte die Villa Riesbach auf. Was für ein wunderschönes Gebäude. Zeit, dass es bewohnt wurde. Silberschneider hatte erzählt, Philomena Lombardi habe vor, sich hier niederzulassen. Helga zwinkerte den gewölbten Dachluken zu, die zu ihr niederblickten. War das ein Licht, dieses Glimmen im Fenster? Gleich darauf war es weg, eine optische Täuschung.
Die weisse Frau fiel Helga ein, die im verschütteten Keller der abgerissenen Villa Seeburg herumgeistern sollte. Als alte Riesbächlerin kannte Helga die Sage. Die Villa Seeburg, die neben der Villa Riesbach gelegen hatte, war zu Unrecht abgerissen worden. Seither geisterte die Frau mit Mantel und Haube durch den Park. Wer sie war, wusste keiner. Sie griff niemanden an, sie war einfach nur da. Starrte dich mit ihren riesigen Augen an. Wenn sie kam, wurde es kalt.
«Sherlock Fünf, daher.» Als er auftauchte, leckte er sich die Schnauze ab. Beim Gedanken an einen herumliegenden Kadaver wurde Helga ein wenig übel. Die Lust am Spaziergang war ihr vergangen. Doch Sherlock verschmähte die Leine auch diesmal. Er verbiss sich im Halsband, hüpfte wie verrückt, bevor er erneut im Gebüsch verschwand.
«Gopfrid Schtutz namal.» Schimpfend ging Helga weiter, ununterbrochen den Hund rufend. Bis sie ein Bellen hörte, dann ein Winseln, dann nichts mehr.
Helga marschierte den ganzen Weg zurück, dann wieder nach oben. Ihre Brust wurde eng, ihr Herz begann zu pochen, das Gehen wurde immer mühsamer. Beim oberen Ausgang hinkte sie über den Kiesplatz, am verfallenen Brunnen vorbei und durch das Tor hinaus. Und da, auf dem Trottoir direkt vor ihr, lag Sherlock Fünf. Den Kopf hielt er ein wenig schief, im trüben Licht der Gaslaterne war eine dunkle Flüssigkeit zu erkennen. Helga schrie auf und sank neben ihrem Hund zu Boden. War denn niemand da? Helga hatte kein Telefon, sie war dreiundachtzig. Sie kam ohne diese Geräte aus. Hatte sie gedacht.
In dem Moment bemerkte sie einen Mann. Er trug eine Mütze, einen dunklen Trainingsanzug und zog einen Einkaufswagen.
«Können Sie mir helfen?» Helga weinte und schob die Hand unter Sherlock Fünfs blutenden Kopf. «Er hat eine Bisswunde.»
Der Mann suchte in seinen Einkäufen und zog eine Packung Watte heraus. Sherlock Fünf knurrte.
«Keine Angst, er verteidigt mich. – Könnten Sie Sherlock Fünf zu meiner Wohnung bringen? Von da aus könnte ich den Tierarzt anrufen.»
Er willigte ein. Gemeinsam hoben sie den Hund auf den Einkaufswagen und brachten ihn bis zur Haustür.
Da zuckte der Mann zusammen und zeigte nach vorn zur verwilderten Hecke des Botanischen Gartens.
«Was sehen Sie? Eine Frau mit Haube und Mantel?», fragte Helga.
Nein, da war nichts. Natürlich war da nichts. Ihre Phantasie war überbordet. Helga liess Sherlock in der Obhut des Mannes zurück, um den Tierarzt von der Paulstrasse anzurufen. Als sie wieder hinunterkam, war er weg. Sherlock Fünf ebenfalls.
14
Das Jaulen des Tiers hatte Philomena ihren Durst für einen Moment vergessen lassen. Sie war sicher, dass es Sherlock war und dass ER ihn getötet hatte. Es war ein Signal für sie, eine Botschaft. Genau wie das Wischrascheln vor der Tür, das nun in regelmässigen Abständen auftrat. Sie war überzeugt, dass er es war. Beobachtete er sie durch eine Ritze? Oder baute er da draussen etwas auf?
Ich muss hier raus. Das kleine Oberlicht war keine Option. Es lag zu weit oben, der Raum war bestimmt drei Meter hoch. Ausserdem war ein Gitter davor, es sah neu aus. Und ihr Foulard war weg, das lange seidene Halstuch, das ihr vielleicht als Seil hätte dienen können. Denk nach, Philo, denk nach.
Wie konnte sie das, mit solchem Durst? Dieses Gefühl, jedes einzelne Organ wäre welk. Sie rannte hin und her, stiess sich die Stirn an, die Knie, ihr Ohr begann wieder zu pochen. Ich will meinen Trainer. Ihr Trainer in Tel Aviv. Seine Hand auf ihrer Schulter. Die Ruhe, die Gelassenheit. Sag mir, dass ich das überlebe. Aber er war nicht hier. Niemand war hier. Ich bin allein. Eingesperrt auf zwanzig Quadratmetern. Ohne Licht, ohne Wasser, ohne Essen. Ohne Sinn und Zweck. Von guten Mächten wunderbar geborgen … das Gedicht von Bonhoeffer, Mama hatte es gesungen.
Philomena wurde schlecht, sie erbrach sich, wollte zum Abwischen weder den Blusenärmel noch den Mantel nehmen. Die Matratze musste herhalten, sie verrutschte, fiel zu Boden. Philomena griff danach und fühlte einen ledernen Riemen. Ihre Tasche. Die Tasche war die ganze Zeit hier gewesen. Hatte er sie versteckt und vergessen? War ihm ein Fehler unterlaufen? Philomenas Freude verwandelte sich in Verzweiflung, als sie merkte, dass ihr kaum einer von den Gegenständen, die mal ihre Welt ausmachten, nützlich war. Weder Lippenstift noch Wimperntusche noch Parfum. Es war der komplette Hohn.
Philomena warf den Badge zu ihrer Tel Aviver Wohnung an die Wand, zerriss die letzte Postkarte ihrer Mutter, zerbrach die Streichhölzer, schmiss einen einzelnen Kirschkaugummi durch die Luft. Erst beim Taschenbuch «Eine Frau flieht vor einer Nachricht» von David Grossman hielt sie inne. Nein, Bücher konnte sie nicht ruinieren. Ausserdem fand sie darin ihre Reiseleselampe. Sie funktionierte. Der Schein war von aggressiver Helle, ihre Augen, lichtscheu geworden, mussten sich erst daran gewöhnen. Nun entdeckte sie einen weiteren Schatz: Taschentücher. Sie erinnerte