Название | Literaturvermittlung und Kulturtransfer nach 1945 |
---|---|
Автор произведения | Группа авторов |
Жанр | Документальная литература |
Серия | Edition Brenner-Forum |
Издательство | Документальная литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783706561228 |
Der Großteil von Marcels Auseinandersetzung mit dem Dichter bleibt ohne Bezug auf Heidegger und beschränkt sich auf ein weitgehend chronologisch geordnetes „direktes“ Gespräch mit den Gedichten Rilkes, seinen Tagebüchern und Briefen, soweit sie 1944 zugänglich waren. Leider sind ihm die Christus-Visionen unbekannt gewesen, erst recht aber Lou Andreas-Salomés Essay Jesus der Jude und Rilkes Reaktion darauf. Michael Georg Conrad, dem Rilke einige Visionen gezeigt hatte, empfahl ihm die Lektüre des Essays, der 1896 in der Neuen Rundschau erschienen war. Rilke war fasziniert. Hier seine Reaktion, mit der übrigens die Liebesbeziehung einsetzt: „und endlich wars wie ein Jubel in mir, das, was meine Traumepen in Visionen geben, mit der gigantischen Wucht einer heiligen Überzeugung so meisterhaft ausgesprochen zu finden. […] durch die schonungslose Kraft Ihrer Worte empfing mein Werk in meinem Gefühl eine Weihe, eine Sanktion.“25
Der kurze, sicher von Nietzsche beeinflusste Text beginnt mit der Feststellung, dass jede Religion Menschenwerk sei, jeder Gott eine historische Konstruktion. Die große Frage ist, warum dieses Menschenwerk über seinen Schöpfer hinauswachsen und ihn sich unterwerfen konnte. Jesus wird zunächst als ein von Gott verlassener jüdischer Prophet gesehen, der einsehen muss, dass Gott seinen Vertrag mit dem jüdischen Volk nicht einhält und der darum elend scheitert. Doch dieser gescheiterte Jude trifft auf die vom Griechentum vorbereitete Jenseitssehnsucht und wird darum zum Schöpfer einer neuen Weltreligion. In den Christus-Visionen, in denen er völlig vermenschlicht ist (z.B. in der erotischen Beziehung zu Maria Magdalena), findet sich die Szene „Judenfriedhof “. Jesus, „der arme Jude, nicht der Erlöser“, besucht das Grab des Rabbi Löw und rechnet mit seinem „greisen Gott Jehovah“ ab, der ihn missbraucht habe. Die Abrechnung geht bis zur Leugnung des Vaters: „das große ‚Er‘“ existiert nicht, der Himmel ist „leer“: „So warst du niemals – oder warst nicht mehr“.26 In den Neuen Gedichten radikalisierte Rilke im Gedicht Der Ölbaumgarten dieses Bekenntnis: „Ich bin allein mit aller Menschen Gram, / den ich durch Dich zu lindern unternahm, / der Du nicht bist. O namenlose Scham… / Später erzählte man: ein Engel kam –.“27 Damit wird nach dem alttestamentarischen greisen Gott auch das Euangelion geleugnet.
Für Marcel ist begreiflicherweise Ausgangspunkt seiner Reflexionen das Stundenbuch, und sofort wehrt er sich gegen die literarische Deutung, dass der werdende, von den Werkleuten geschaffene Gott ein Symbol für das zu vollendende Kunstwerk sei. Immerhin hat Rilke sehr früh und sehr konsequent „Gott das älteste und reparaturbedürftigste Kunstwerk“ genannt. Doch Marcel nimmt den Gott des Stundenbuchs ernst, denn er anerkennt den Sockel des Russlanderlebnisses als authentisch „erfahren“, ebenso die Figur des Heiligen Franziskus im Buch von der Armut und vom Tode. Die Abwehr der pur ästhetischen Deutung von Rilkes Dichtung beruht für Marcel auf „großartigen, nahezu unerforschlichen Grundlagen“.28 Er ist sich aber auch bewusst, dass Rilkes Tendenz zur Grenzüberschreitung etwas „Unbegrenztes, ja Unbestimmtes und eben dadurch Ambivalentes“ an sich habe. Doch stimmt er voll und ganz mit Rilkes Formel überein, die Hans Urs von Balthasar zum Zentrum seines Kapitels über Rilke und Heidegger gemacht hatte, nämlich: „Gott und Tod waren nun draußen, waren das Andere“, und als Konsequenz daraus „beschleunigte sich der kleinere Kreislauf des nur Hiesigen immer mehr, der sogenannte Fortschritt wurde zum Ereignis einer in sich befangenen Welt, die vergaß, daß sie, wie sie sich auch anstellte, durch den Tod und durch Gott von vorneherein und endgültig übertroffen war.“29 Im Stundenbuch holte der Dichter Gott und Tod zurück in die Dichtung. Wie „ambivalent“ es aber dabei zuging, mögen drei radikal divergierende Interpretationen zeigen: die nihilistische Variante Paul de Mans, der in diesen Gedichten nichts sieht als euphonischen Logozentrismus ohne Inhalt, die nazistische Verirrung, hier den deutschen Gott beschworen zu sehen, schließlich den konservativen Aufruf zum Widerstand gegen den Nationalsozialismus in Arthur Adamows „Adaptation“ von 1941, in der die priesterliche, soldatische und künstlerische Existenz verherrlicht werden. Im Grunde ist in der Tat fast jede Lektüre inklusive der erotischen (Lou als Gottheit) möglich. Diese Indetermination, die jeder dogmatischen Festlegung entgehen will, hat beim katholischen Interpreten die logische Folge, überall bei Rilke nach Zeichen zu suchen, die seine Dichtung doch noch als Vorhof zum Christentum erscheinen lassen. Und das trotz Rilkes wiederholten extrem heftigen Angriffen auf Christus als Vermittler und trotz der systematischen Bejahung des Hiesigen und seiner sakralsten Form, der Sexualität. Marcel behandelt, obwohl er sich dieser Diesseitsbejahung bewusst ist, die Dichtung als Erfahrung der Transzendenz, von der es nur ein Schritt zum Glauben sei. Auch in diesem Punkt trifft er sich mit Heidegger, der in der poetischen Sakralisierung säkularisiertes, „verunglücktes Christentum“ sah, das gewissermaßen einer therapeutischen Sorge bedürfe, sogar gegen Rilkes bewusste Bekenntnisse gerichtet.
Marcel weiß, dass die Duineser Elegien und die Sonette an Orpheus für seine religiöse Hinterfragung Rilkes bedeutender sind als die Neuen Gedichte oder der Malte-Roman. Lou Andreas-Salomé hat Rilke nach der Abfassung der ersten beiden Elegien darauf hingewiesen, dass die frühen Christus-Visionen und die Elegien denselben religiösen Ur-Grund hatten. (Rilke hat sich nicht gescheut, den Entstehungsort Duino als „mein Patmos“ zu bezeichnen.) In den Sonetten an Orpheus sah Marcel, wie schon erwähnt,