Kojas Waldläuferzeit. Alois Theodor Sonnleitner

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Название Kojas Waldläuferzeit
Автор произведения Alois Theodor Sonnleitner
Жанр Книги для детей: прочее
Серия
Издательство Книги для детей: прочее
Год выпуска 0
isbn 9788711570043



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Kronen der hohen Weiden jenseits des Weges, und diese warfen einen Schimmer des Lichtes in Kojas Kammer, so dass die verschwommenen Umrisse und Schatten des Zimmergerätes gespenstisch wirkten.

      Koja verkroch sich unter die kalten Federbetten, um nicht die sonderbaren Geräusche zu hören, die er sich nicht zu erklären vermochte. Und doch musste er immer wieder die Decke lüpfen, um dem Rätselhaften zu lauschen. Im alten Schrank, der nie geöffnet wurde, tickte etwas, wie eine Taschenuhr, die manchmal von unsichtbarer Hand zum Stehen gebracht wurde und dann plötzlich wieder unheimlich rasch zu gehen begann. — Die Totenuhr. — Wer sollte jetzt im Hause sterben? — Auf dem Dachboden trippelte es von kleinen Füssen, beim Mühlsteg unten klatschte etwas. Der Wassermann? Kojas Pulse hämmerten, in seinen Ohren war ein Sausen, das war nicht vom gleichmässigen Rauschen des Überfallwassers unterm Mühltrog. Erst, als sein Körper das Bettzeug gleichmässig durchwärmt hatte, begann seine Aufmerksamkeit zu erschlaffen, seine Einbildungskraft sprang von einem Gegenstand zum andern; Wassermann, Palisaden, der tintige Zopf, der Hund mit den feurigen Augen, Roserl in der Puhu-Hütte; alles stellte sich ihm kunterbunt vor; seine Hände falteten sich vor dem Munde, dann war ihm, als ruhten Agis graue Augen in Mütterlichkeit auf ihm und er schlummerte ein. — Mitten in der Nacht aber erwachte er von einem Knacken der Diele über sich auf dem Oberboden, dann hörte er ein Schlurfen von blossen Füssen, ein Rieseln zwischen Diele und Decke, dann ein Knarren, als öffne jemand das Dachfenster, und plötzlich einen langgedehnten, rauhen, zitternden Ton, wie vom Reiben eines gespannten Seiles — dann ein dumpfes Aufprallen eines schweren Körpers — und wieder das Schlurfen der nackten Füsse. — Als das kaum hörbare Schleichen und Tasten die Stiege herabkam und sich seiner Kammertür näherte hätte er schreien mögen vor Angst; wenn der Kerl jetzt da hereinkäme! — aber er biss die Zähne aufeinander und hielt den Atem an. Es ging vorbei —, dann wurde es stille. — Einschlafen konnte Koja nicht. Da scholl beruhigend von der Donauseite her das Pusten und Räderschlagen eines mühsam gegen den Strom arbeitenden Frachtendampfers. Wieviel Schlepper mit ungarischem Mehl der wohl hinter sich herzog? Das gleichmässige Geräusch wirkte auf Koja einschläfernd, aber schwere, unsicher tappende Schritte unten an der Hauswand entlang liessen ihn wieder gespannt aufhorchen. Ein Klirren von Eisen auf Stein. Der Haustorschlüssel war aus einer unsicheren Hand auf den Mühlstein vor der Türschwelle gefallen. Ein unverständlicher Fluch, ein Schnappen des schweren Türriegels, ein kurzes, freudiges Anschlagen des Hofhundes — der Vater war nach Hause gekommen.

      Koja schob die Bettdecke von seinem Gesicht, strich sich das Haar sorgfältig hinter die Ohren, stützte sich auf den linken Ellbogen und lauschte angestrengt hinunter. Erst fiel die Türe der Wohnstube krachend ins Schloss, dann hörte er die tiefe Stimme des Vaters. Es war eine unwillige Frage, die Koja nicht verstand. Und jetzt hörte er die Mutter etwas sagen, dann redeten Mutter und Vater zugleich und dann sprach Agi darein. So angestrengt Koja lauschte, er vermochte nichts zu verstehen.

      Plötzlich aber hörte er einen durchdringenden Schrei, dann wieder einen. Die Mutter schluchzte. Koja setzte sich im Bette auf. Und wieder vernahm er Agis hohe Stimme. Sprach sie der Mutter zu oder dem Vater? Der war still geworden. Das Weinen der Mutter wurde schwächer und schwächer, bis es verstummte. Alles war wieder still. — Der Lichtschimmer auf den Weiden verschwand. In der Kammer wurde es finster. Kojas Zähne schlugen vor Kälte und Angst aneinander, wieder verkroch er sich unter die Tuchent.c) Wieder vernahm er das Ticken im Holz des alten Schrankes; übermüdet vom Wachen und Lauschen schloss er die Augen und schlummerte ein.

      Als er morgens in der durchwärmten Küche mit entblösstem Oberkörper vor dem Wasserschaff kniete und Agi mit einem eingeseiften Wollsocken ihm Rücken und Hals rieb, fiel sein Blick auf ihre Linke, die sich auf den Schaffrand stützte. Über den Rücken ihrer Hand ging eine rote Strieme. Koja drehte sich nach der Schwester um; da sah er eine breitere Strieme schräg über ihren Hals verlaufen. — Jetzt wusste er, was geschehen war: Agi hatte sich zwischen Vater und Mutter gestellt. Da schossen ihm die Tränen in die Augen: „Bitte, sag mir, liebe Agi, was war heut’ nacht?“ — Sie aber schüttelte nur den Kopf. „Mach’ die Augen zu!“ — Und schon begann sie ihm das Gesicht und die Haare einzuseifen. Dann goss sie ihm einen Krug Wasser über Kopf und Hals und entfernte sich. — Kaum abgetrocknet und angekleidet, eilte Koja mit hochklopfendem Herzen in die Wohnstube, wo das Frühstück bereit stand. Auf dem Divan, wo sonst Agi zu schlafen pflegte, sah er den Vater angekleidet liegen, den Kopf mit dem rotbraunen Vollbart zurückgeklinkt, den Mund weit offen, laut und regelmässig atmend; das rechte Bein mit dem kotigen Stiefel lag auf dem weissen Bettzeug, das linke hing über den Sofarand zur Diele nieder, auf dem Boden lag die aus Lederriemen geflochtene Hundepeitsche. Zögernd schlich Koja am Vater vorüber zu seinem Sessel. Auf einem Schemel dem Sofa gegenüber kauerte Agi, die Ellbogen auf die Knie, den Kopf auf die geballten Fäuste gestützt; sie starrte dem Schlafenden ins Gesicht. Draussen war die Stimme der Mutter zu hören, die dem Kutscher des Milchwagens einschärfte, auf dem kürzeren Feldweg zum Krummnussbaumer Bahnhof zu fahren. Der Zug nach Wien müsste in zwanzig Minuten da sein. Als der Wagen fortrollte, erhob sich Agi und schenkte den Kaffee ein. Die Mutter kam herein und setzte sich zu Tische. Koja erschrak: auf ihrer linken Wange war eine kaum verharschte Wunde. Da warf er sich vor der Mutter auf die Knie, und seine hervorbrechenden Tränen netzten ihre Kleider. Sie aber hob ihn auf, setzte ihn sich quer auf den Schoss, drückte seinen Kopf an ihre Brust, tätschelte ihm den Rücken und strich ihm beschwichtigend über das flachsfarbene Haar. — Dabei wiegte sie den Oberkörper sanft hin und her, als wollte sie ein Kind einschläfern. Keiner der drei sprach beim Frühstück ein Wort. Als Agi den Tisch abgeräumt hatte, rüsteten sich die Kinder zum Kirchgang. Agi nahm ihre breite Boa aus grauen Kaninchenfellen um den Hals, um vor Neugierigen das Schlagmal zu decken; dann holte sie ihre weisse Flanelljacke aus dem Kasten, packte sie in Seidenpapier und umschnürte sie mit einem roten Band wie ein Festgeschenk. — Auf den fragenden Blick der Mutter flüsterte sie nur bittend: „Später, Mami; ich sag’ dir’s später.“ — Die Müllerin übergab Agi fünf Briefe und küsste ihre Kinder zum Abschied. Erst führte Agi den Bruder in den Garten. „Wir müssen der Roserl ein Sträusserl bringen.“ Sie pflückten die halbverblühten Dolden der braunroten Aurikeln von den Beeträndern und liessen sie im Strauss von den duftenden Blütenständen des Gelbveigels überragen. Als die Kinder an der Bachseite des Hauses an die Stelle unterm Bodenfenster kamen, zeigte Koja einen weissen Fleck auf dem Uferpflaster. Es war eine dünne Schichte Mehl, die Spur eines heftig aufgestossenen Mehlsackes. Und dann begann er von dem nächtlich Erlauschten zu erzählen. — Und Agi erklärte ihm mit der Sicherheit einer Erwachsenen: „Glaub doch nicht an Gespenster. Der alte Flori erzählt, was er selber nit glaubt. Die andern hören nix lieber als gruselige Geschichten. Die ‚feurigen Männer‘ sind ‚Irrlichter‘, leuchtende Dünste, wie sie aus dem Sumpfboden aufsteigen, wo irgend ein Aas in der Erde verwest. Der Wassermann ist die Fischotter, die bei Nacht fischt oder im Wasser ihr Spiel treibt. Das Ticken im alten Schrank, das machen die Holzwürm’. Das Schleichen, Tappen und Tasten, das machen die Dieb’, Vom Bodenfenster hat ein Knecht einen Mehlsack am Strick hinuntergelassen und unten, wo der Sack hingefallen ist, siehst du die Mehlspur. Dort hat ein zweiter Dieb gewartet. — Seit die schlechten Freunde den Vater soweit gebracht haben, dass er die Nächt’ in Wirtshäusern zubringt bei Kartenspiel, Bier und Schnaps, haben’s die Diebe leicht. Ich glaub’, alle unsere Dienstboten haben stehlen g’lernt.“ Koja nickte. Und nun begann er die Schwester auszufragen, was unten gewesen wäre. Eine Weile liess sie ihn auf sich einreden. In tiefem Nachdenken ging sie neben ihm her. Ihre Augen hefteten sich auf den feuchten Auboden, wo die Grashalme zwischen dem braunen Laub sich empordrängten und wo vereinzelt hoch aufgeschossene, zum Teil verblühte Schneeglöckchen schimmerten. Sollte sie reden? Erst als die Kinder die Au und den Erlafsteg hinter sich hatten und im freien Felde der Sonne entgegengingen, begann sie: „Koja, du warst bis heut’ ein kindischer Bub, ich wollt’ und durft’ nit reden mit dir, wie’s um den Vater steht. Von heut’ an ist’s anders. Was du heut’ nacht erlauscht hast, hat dich wohl ernster gemacht. Du sollst versteh’n, warum die Mutter dem Vater so oft verzeiht. Geh’ doch langsamer und hör’ gut: Erinner’ dich doch, was uns die Grossmutter erzählt hat, als du noch klein warst: Wie unser Vater zehn Jahr alt war, sind ihm beide Eltern innerhalb sechs Wochen gestorben. Damals war die Cholera in Böhmen, wo wir früher zu Haus waren, weisst, dort, wo die Mutter unserer Mutter daheim ist, die ‚Sonnleitnerin‘,