Das Buch der Geheimnisse. Franz Fassbind

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Название Das Buch der Geheimnisse
Автор произведения Franz Fassbind
Жанр Книги для детей: прочее
Серия
Издательство Книги для детей: прочее
Год выпуска 0
isbn 9788711757208



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beim Verdämmern des Tages auf dem Stubensofa und träumte, wie einst, zu den fernen Wäldern hinüber. Der liebe Gott beugte sich aus seinem hochgelegenen Lehrerzimmer und zündete am Kastanienbaum des Himmels langsam und feierlich die Blütensterne an. Nach einer Weile setzte sich auch mein Vater zu mir.

      „Haben die Sterne auch Namen?“ fragte ich.

      „Gewiß“, antwortete mein Vater.

      „Wer hat die Sterne getauft?“

      „Die Menschen haben sie getauft. Jeder Stern hat einen Vornamen. Einige Sterne zusammengenommen haben einen Familiennamen. Jede Sternfamilie bildet ein Sternbild. Es gibt beispielsweise ein Sternbild des Drachen, ein Sternbild des Hasen und, ganz in der Nähe des Äquators, ein Sternbild der Schlange.“

      Der blaue Wandschrank

      In unserer Stube gab es neben der Tapete und dem grünen Sofa noch einen runden Tisch, drei Stühle, zwei Türen und, schräg in eine Ecke hineingebaut, einen blauen Wandschrank. Ich weiß nicht, warum ich die Farbe des Wandschranks behalten, die Farbe der Türen hingegen vergessen habe. Vermutlich waren die Türen ebenfalls blau gestrichen, aber sie bedeuteten nicht soviel für mich wie der Wandschrank. Hinter den Türen verbargen sich dunkle Korridore, das Unglückszimmer, die Glückskammer und mein Schlafgemach. Der unterste Teil des Wandschranks barg meine Spielsachen. Auf dem ersten Holzbrett lag das Plätteisen meiner Mutter, auf dem zweiten standen einige dicke Bücher mit goldblauen Einbänden. Ich konnte diese Bücher nur erreichen, wenn ich vor dem offenen Wandschrank auf einen Stuhl kletterte.

      Ich träumte viel, spielte selten und meist nur bei schlechtem, regnerischem Wetter. Zum Träumen brauchte ich eigentlich bloß das offene Stubenfenster, den blauen Himmel und die violetten Wälder. Am Morgen träumte ich von einem Lift, mit dem ich zur Sonne hinauffuhr. Hier setzte ich mich für gewöhnlich auf einen schwarzen Sonnenfleck, buk goldgelbe Fastnachtskrapfen, spießte sie an einen Sonnenstrahl und schickte ihn mit dem luftigen Gebäck durch eine weiße Wolke. Von dort aus gelangten die Leckereien fein gezuckert auf die blitzenden Teller, welche die Mutter auf den Stubentisch legte. Der Vater band eben das Mundtuch um den Hals, schmunzelte und sagte dann: „Wo nimmst du bei meinem schäbigen Lohn bloß das Geld für diese Herrlichkeiten her?“

      Da strahlte meine Mutter und antwortete: „Ja, dein Bub! Wenn du wüßtest, was das für ein Tausendkünstler ist! “

      „Er hat doch die Krapfen nicht in der Bäckerei gestohlen?“ fragte mein Vater mit drohender Stimme.

      An dieser Stelle wachte ich meistens aus meinem Traum auf.

      Am Nachmittag träumte ich von einem Wald und von einem schlanken Baum, in dessen Krone ich mir eine Hütte erbaut hatte. Wenn ich die Hütte betrat, wuchs der Baum in einer Sekunde hoch über den Mond hinaus. Meine Hütte stand plötzlich an einer Biegung der Milchstraße. Ich trug eine goldene Uniform und eine silberne Mütze. Über meiner Lorbeerhütte stand „Zollamt“, auf meiner Mütze „Mane, Thekel, Phares“. Unaufhörlich kamen Leute am Fenster meiner Hütte vorbei: Chinesen, Neger, Weiße und Indianer. Die Chinesen tauschten bei mir Schlitzaugen gegen runde Negeraugen, die Neger ihre Wuschelköpfe gegen langes Indianerhaar, die Indianer ihre Bogennasen gegen chinesische Stupsnasen um und verschwanden dann fröhlich hinter der Straßenbiegung. Nur die Weißen fanden nichts, das sie gegen ihre ratternden und rauchenden Flugzeuge und Autos eintauschen konnten. Ein grün gekleideter Polizist mit rubinroten Handschuhen schrie ihnen zu: „Umkehren. Ihr verderbt mir mit eurem Gestank die Milch!“ Hinter dem Polizisten kauerten kleine magere Kinder, schlürften Rahm aus der Milchstraße und sahen nach jedem Schluck rosiger aus. Zuletzt waren sie kugelrund, leuchteten wie die Handschuhe des Polizisten und rollten lachend um die Biegung. Sehr selten kamen in Lumpen gekleidete Männer und Frauen bei mir vorbei. Sie trieben ein Schweinchen vor sich her. Der Polizist riß dann jeweils ein Lorbeerblatt aus meiner Hütte und steckte es den Vagabunden ins Haar. Sobald das geschehen war, begann die Milchstraße zu singen und zu sieden. Sie hob sich, wuchs, schäumte, dampfte, und die trinkenden Kinder schrien begeistert: „Sie siedet. Sie siedet über den Straßenrand hinaus. Sie wird den ganzen Fußboden des Himmels bedecken. “

      Am Abend träumte ich fast immer von einer elektrischen Eisenbahn. Sie fuhr zwischen den Stationen der Sterne hin und her. Manchmal, besonders Mitte August und Mitte November, sah ich sie sogar sekundenlang über den schwarzblauen Nachthimmel flitzen. Fleißkind, dem ich einmal davon erzählte, lächelte mitleidig und meinte: „Das ist keine Eisenbahn. Das sind Meteore.“ Zugegeben: Fleißkind wußte viel. Aber: wer zuviel weiß, weiß keine Geheimnisse mehr. Ich glaubte an die elektrische Eisenbahn. Kein Mensch auf der ganzen Welt hat je mit einer so großen Eisenbahn gespielt.

      Das waren meine Träume vor dem offenen Stubenfenster, unter dem blauen Himmel und beim Anblick der violetten Wälder hinter der Zahnlücke. Wenn sich nun der blaue Wandschrank des Himmels schloß, wenn sich Wolken, Nebel und Dunst zwischen mich, den Himmel und die Wälder legten, blieb nur noch der blaue Wandschrank in der Stube. Der blaue Wandschrank wurde mein Regenhimmel und mein Regenwald.

      Es zischt im Steckkontakt

      Als ich an einem grauen Regentag aus der Schule heimkehrte und die Stubentüre öffnete, rief meine Mutter: „Paß auf die Schnur auf!“

      Ich bückte mich, kroch unter der Leitung hindurch und küßte meine Mutter. Sie stand vor dem Tisch, den sie zum Plätten hergerichtet und mit weißen Tüchern bedeckt hatte.

      Ich setzte mich auf das Sofa und atmete begierig die feuchte, nach Wachs, Stärke und frischer Wäsche duftende Luft ein. Eine wohlige Wärme erfüllte das dämmerige Zimmer.

      „Hast du Aufgaben?“ fragte meine Mutter ohne aufzublicken und führte das glänzende Bügeleisen sanft und lautlos über eine Hemdenbrust.

      „Nein.“

      Die Mutter schwieg. Manchmal tauchte sie einen Wedel in den Napf und bespritzte ein Wäschestück mit Wasser. Wenn sie dann mit dem heißen Plätteisen über die angefeuchteten Tuche glitt, hörte man ein geheimnisvolles Zischen. Jetzt zischte es auch im Steckkontakt. Die schwarzen Fäden, welche die Drähte der Stromleitung isolierten, waren zerfetzt.

      „Das ist gefährlich, Mutter!“ sagte ich und deutete auf die Schnur.

      Sie nickte: „Ich sollte das Bügeleisen schon lange zum Elektriker bringen. “

      Ein Windstoß rüttelte am Fenster und peitschte den Regen an die Scheiben. Tausend Tropfen kugelten durcheinander. Das waren Tränen, welche die Schutzengel über böse Menschen weinten. Ich schaute rasch hinter das Ofenrohr.

      Dann fragte ich: „Hat der Vater immer noch keine Arbeit?“

      Ich dachte an die guten und bösen Menschen, welche jetzt auf den Straßen herumirren mußten, und hätte sie am liebsten alle zu uns in die Stube gebeten. Dann wäre wohl auch mein Vater nach Hause gekommen. Ich wußte nämlich aus belauschten Gesprächen, daß er seine letzte Stelle vor einigen Tagen verloren hatte und sich auf der Suche nach einem neuen Arbeitsplatz befand.

      Meine Mutter stellte das Plätteisen auf den Untersatz, kehrte mir den Rücken zu und fuhr sich mit dem Taschentuch über das Gesicht. Sie sah jetzt wie ein weinender Schutzengel aus.

      „Willst du nicht spielen?“ fragte sie. Ihre Stimme klang dünn, leise und ein wenig heiser. Dann fügte sie noch hinzu: „Dein Vater ist ein fleißiger Mann.“

      Ich träumte zum blauen Wandschrank hinüber. Seine Türe war geöffnet.

      „Ich weiß schon“, brummte ich. „Elfis Vater ist auch ein fleißiger Mann. Aber er hat dennoch keine Arbeit.“ Ich hörte meine Stimme. Diese Stimme und der Anblick des blauen Wandschrankes flößten mir Mut ein. „Heutzutage ist das nun einmal so“, fuhr ich ruhig und beruhigend weiter. „Der liebe Gott wird wissen, wozu das gut ist.“

      Diesen Satz hatte ich von meiner Mutter gelernt. Wenn sie krank war und wochenlang liegen mußte, sagte sie zu meinem Vater: „Der liebe Gott wird wissen, wozu das gut ist.“ Ich verstand zwar nicht, was meine Mutter mit diesen Worten meinte. Ich konnte mir einfach