Das Buch der Geheimnisse. Franz Fassbind

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Название Das Buch der Geheimnisse
Автор произведения Franz Fassbind
Жанр Книги для детей: прочее
Серия
Издательство Книги для детей: прочее
Год выпуска 0
isbn 9788711757208



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Eltern ahnten natürlich nicht, daß sie alle, ohne einen Rappen Mietzins bezahlen zu müssen, sozusagen auf meine Kosten mit uns in der gleichen Stube wohnten. Wenn ich arbeiten mußte, wandte ich mich an sie. Wenn ich Spielgefährten brauchte, rief ich einen von ihnen herbei. Keiner hat je meine Einladung ausgeschlagen. Ich war der König unserer Stube, und da die ganze Welt zu unserer Stube gehörte, war ich zugleich auch so etwas wie ein König der Welt. Aber das begriff ich erst später.

      „Fleißkind!“ rief ich dem besten Rechner meiner Klasse an der Stubentapete zu. „Siebzehn und neunundzwanzig sind?“ Hier schaltete ich eine kleine Pause ein. Ich bin in der Schule kein starker Rechner gewesen. Aber weil ich die Lösung meiner Aufgabe von Fleißkind verlangte und nicht von Knorz, mußte mir Fleißkind aus meinem Mund die richtige Antwort geben. Ich dachte also angestrengt nach und antwortete mir daraufhin mit verstellter Stimme: „Siebzehn und neunundzwanzig sind sechsundvierzig.“ Man könnte nun annehmen, daß ich auf diese Weise allmählich ein zweites Fleißkind wurde. Aber ich war oft müde und faul. Dann wandte ich mich hinter das Ofenrohr, fragte Knorz, und Knorz antwortete etwa: „Siebzehn und neunundzwanzig sind einundvierzig. “ So blieb denn alles beim alten. Ich habe jedoch später erfahren, daß überall auf der Welt immerfort alles beim alten bleibt. Aber das war ein schlechter Trost für mich.

      Die Reise ins Morgenland

      Die Gesichter meiner Freunde und Kameraden an der Stubenwand hatten jedoch auch einen großen Nachteil. Ihre Gesichter konnten nämlich die Augen nicht schließen. Also sahen sie alles, was sich in der Stube ereignete. Sie sahen auch jene Dinge, die ich gerne vor ihnen verheimlicht hätte. Sie sahen, wie ich mit den Beinen auf dem Boden strampelte, weil ich keine Leberwurst essen mochte. Sie sahen, wie mich mein Vater prügelte, wenn ich gelogen oder in der benachbarten Bäckerei eine Tafel Schokolade gemaust hatte. Ich mauste die Schokolade, weil ich sie anderntags unter meine Schulkameraden verteilen wollte. Ich hoffte, sie damit beschwichtigen zu können. Ich glaubte nämlich, auch meine richtigen Schulkameraden, also nicht bloß die Tapetenfreunde, wüßten jetzt alles von mir. Zuletzt schämte ich mich so vor ihnen, daß ich in den Schulpausen keine Geschichten und keine Geheimnisse mehr zu erzählen wagte und noch mehr Schokolade stahl. Die gestohlene Schokolade verbarg ich auf dem Estrich. Sobald ich hundert Tafeln besaß, wollte ich mich nachts aus dem Hause schleichen, einen Güterwagen besteigen und mit ihm ins Morgenland fahren. Ich habe es schon einmal gesagt: damals wußte ich eben noch nicht, daß ich trotz aller Fehler und trotz aller Scham so etwas wie ein König der Welt war. Es ist eine traurige Sache mit den Königen. Die wahren Könige schämen sich ihrer Krone, oder sie wissen nicht einmal, daß sie Könige sind. Andere kommen — solche, die keine Könige sind —, stehlen die Kronen der wahren Könige und setzen sie sich selber auf. Die wahren Könige müssen dann Schokolade stehlen, nachts aus dem Hause schleichen, einen Güterwagen besteigen und mit ihm ins Morgenland fahren. Aber das war vermutlich schon immer so, sonst wären ja nicht drei Könige aus dem Morgenlande, sondern drei Könige aus dem Abendlande zum Christuskind gereist. Die hatten auch gestohlen. Wie wären sie sonst zu ihren Königreichen gekommen? Aber das Schöne an den drei Königen aus dem Morgenlande war, daß sie ihre Königreiche nur stahlen, um sie einem armen, kleinen und hungernden Kind vor die Füße zu legen. Doch das ist schon lange her.

      Ich fuhr natürlich nicht ins Morgenland. Mein Vater entdeckte meinen Reisevorrat. Ich mußte die Schokoladentafeln in die Bäckerei zurücktragen, erhielt aber keine Prügel. Dafür las mir mein Vater abends beim Einnachten auch keine Geheimnisse mehr vor. Ich fürchtete mich aber trotzdem. Ich fürchtete mich vor meinen Freunden und Kameraden an der Stubentapete. Mitten in der Nacht tappte ich aus meinem Schlafzimmer in die Stube und tötete sie. Ich radierte ihnen mit dem Gummi die Augen aus. Meine Eltern erfuhren nichts von dieser Tat. Heute muß ich zugestehen, daß ich in meinem ganzen Leben kein größeres Unrecht begangen habe.

      In den folgenden Tagen fiel beim Essen kein Wort. Mein Vater blickte finster vor sich hin. Meine Mutter legte ihm einmal die Hand auf den Arm und flüsterte: „Er ist allein. Er hat keine Geschwister. Solche Kerle haben es nicht leicht.“

      Oh, sie wußte ja nicht, wie allein ich war. Sie kannte meinen Kummer nicht. Ich mied die Stube, lernte schlecht, spielte nicht mehr und schaute stundenlang über die Brüstung des Küchenfensters in die Gasse hinab.

      Auf dem weiten Platz vor der rechten Seite unseres Hauses blühten die Kastanienbäume.

      Es war Frühling.

      Ich merkte es nicht.

      Wie Knorz mein Freund wurde

      Ich bin jetzt ein alter Mann. Die alten Leute wissen es: das Leben bringt dunkle und heitere Stunden. Den Jungen ist damit nicht geholfen. Sie sehen nie über die dunklen und über die heiteren Stunden des vollen Lebens hinweg. Sie wissen nicht, daß das Leben genau so rund wie die Erde ist und daß die Sonne immer nur auf der einen Hälfte des Lebens scheint. Aber das Leben dreht sich, und selbst am Nord- und Südpol des Lebens dauert die Nacht nicht ewig.

      Ich wurde krank, fieberte, und als ich nach einigen Wochen zum erstenmal nach meiner Genesung mit gläsernem Gesicht in die Stube wankte und auf dem Sofa ruhte, bemerkte ich hinter dem Ofenrohr das Gesicht meines Kameraden Knorz. Ich hatte in der Nacht des Todes meine besten Freunde umgebracht, ihn jedoch, der mir soviel Kummer bereitete, hatte ich verschont und vergessen, weil er sich hinter dem Ofenrohr versteckt hielt. Er lebte und klagte mich an: „Ich bezeuge und beschwöre ...“ schrie er mit weitaufgerissenen Augen. Aber ich ließ ihn schreien und brachte es nicht über mich, ihm etwas anzutun. Ich wollte nicht mehr allein sein, redete Knorz zu, tröstete ihn, versprach, ihm künftig meine Hefte auszuleihen und sein bester und einziger Freund zu werden.

      Ich hielt dieses Versprechen, zog mich, als ich wieder zur Schule ging, endgültig von meinen ehemaligen Kameraden zurück und schloß mich immer enger an Knorz an. Knorz wunderte sich zuerst über meine unerwartete Anhänglichkeit, verriet jedoch mit keinem Wort, daß er die Ereignisse jener Schreckensnacht kannte. Meine Dankbarkeit nahm überschwengliche Formen an. Ich lieh ihm Spielsachen und verlangte sie nicht mehr zurück. Ich forderte nichts von Knorz, er aber nahm meine Gunstbezeigungen freudig entgegen. Er schien mich wirklich zu lieben.

      Eines Tages rief Knorz in der Schulpause alle Kameraden herbei. Wir standen neben dem Brunnen, vor dem ich früher jeweils meine Geheimnisse erzählt hatte. Ich glaube mich noch daran erinnern zu können, daß an diesem Tage kein Wasser aus der rostigen Röhre floß. Ein seltsames, unheimlich glänzendes Feuer brannte in den Augen meines Freundes. Ich fürchtete, er werde nun die Geschichte der Mordnacht auf der Stubentapete erzählen: „Ich bezeuge und beschwöre . . . “ Er aber lachte nur und sagte: „Gib jetzt doch endlich zu, daß du gelogen hast. Es gibt keine Klapperschlange.“

      Ich atmete auf und antwortete: „Natürlich habe ich gelogen. Es gibt keine Klapperschlange. “

      Erst als ich die Schmährufe meiner Klassengenossen hörte, wurde mir klar, was ich angestellt hatte. Ich eilte schutzsuchend zu Knorz. Der sprang über den Schulplatz, warf Kiesel nach mir und jubilierte: „Er lügt. Er lügt. Es gibt keine Klapperschlange. “ Meine Klassengefährten umringten Knorz und krähten mit ihm: „Er lügt. Er lügt. Es gibt keine Klapperschlange.“ Ich schluchzte auf und verbarg mein Gesicht in den Händen.

      Da legte jemand den Arm um meine Schultern und meinte: „Natürlich muß es Klapperschlangen geben. Warum soll es keine Klapperschlangen geben. Es gibt ja so viele Schlangen. “ Ich hob den Kopf. Elfi, das runde Mädchen mit den dicken Zöpfen, stand vor mir und schaute mich mit großen, schwarzen Augen an.

      Die andern lachten Elfi aus. Aber plötzlich verstummte der Lärm. Die hohe, hagere Gestalt eines Lehrers — es war nicht unser Klassenlehrer — trat mitten unter uns. Er trug ein Glas in der Hand. Das Glas war mit einer gelben, aber durchsichtigen Flüssigkeit gefüllt. In der Flüssigkeit lag, zusammengerollt, ein riesiger Wurm.

      „Ich glaube, dieser Streit muß endlich entschieden werden“, begann er. „Euer Geschrei dringt bis ins Lehrerzimmer hinauf. Natürlich gibt es Klapperschlangen.“ Elfi ergriff meine Hand und drückte sie. Der Lehrer fuhr fort: „Es gibt sogar mehr als zwei Dutzend Klapperschlangenarten. Eine davon, ein Klapperschlangenkind sozusagen,