Kochbuch: Mario Ohno - Die Einzimmertafel St. Amour. Mario Ohno

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Название Kochbuch: Mario Ohno - Die Einzimmertafel St. Amour
Автор произведения Mario Ohno
Жанр Сделай Сам
Серия
Издательство Сделай Сам
Год выпуска 0
isbn 9783959615150



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meine verlorengegangene Italo- Seele zu finden, was meinen Vater betrifft, sondern auch die Kultur zu verstehen, aus welcher er kommt und in der er aufgewachsen ist. Ich spüre sie zellulär in mir, doch habe ich sie nie erfahren dürfen. Ich verstehe intuitiv und ahne, warum die Menschen in der Lombardei so sind, wie sie sind. Warum sie so kochen, wie sie sind. Dieses Kochbuch ist auch ein Stück weit eine Reise zu meinen Ahnen, die ich erst vor 35 Jahren kennenlernen durfte. »Zurück« heißt auch, sich »Besinnen« auf das Ursprüngliche und Einfache, ohne verkrampften Dogmatismus.

       DIE EINZIMMERTAFEL ST. AMOUR

      St. Amour, ein Stück Lebenskunst oder eine Ästhetik des Vergänglichen …

      Die mir am häufigsten gestellte Frage meiner Gäste im St. Amour ist: Wie kommt man bloß auf eine solche Idee, aus seinem Wohnzimmer ein Restaurant zu machen?

      1.Das hier ist kein Wohnzimmer, sondern ein Teil meines Ateliers, und

      2.das hier ist kein Restaurant, sondern eine soziale Plastik, die sich zu einer realen Plastik verwandelt. Ein Spiel mit den gastronomischen Codes.

      Und hier sind wir schon an einem der wichtigsten Punkte meines Projekts: Es geht um die Begriffe oder, wie Sir Ernst Gombrich zu sagen pflegte, »Das Brechen der Eintönigkeit besteht nicht im Aufhören, sondern im Steigern des Gewohnten durch die Einführung eines neuen Interesses« (oder eines neuen Begriffs).

      Steht »St. Amour« für die Suche nach neuen Inhalten im Alten?

      Oder steht es für die Umwertung aller Werte?

       DOCH BEGINNEN WIR VON VORNE …

      Ich wurde im März 1959 in Stuttgart geboren, als Sohn einer deutschen Justizangestellten und eines italienischen Gastronomen und Hoteliers.

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      Ich wuchs bei meiner Mutter und Oma in sehr einfachen Verhältnissen auf. Meinem Vater begegnete ich erst nach 25 Jahren. Er ging nach meiner Geburt zurück nach Italien, in sein Heimatdorf Gravedona am Comer See, um dort das Hotel seiner Eltern zu übernehmen.

      Mit sieben Jahren kam ich in die Schule. Ich war ein sehr gelangweilter Schüler und Legastheniker. Ich war nicht wirklich für dieses Lernsystem gemacht. Nach meinem Hauptschulabschluss begann ich eine Lehre als Raumausstatter und Schaufensterdekorateur. Diese brach ich nach dem ersten Lehrjahr ab. Getrieben von der Vorstellung, wie Michelangelo zu werden, begann ich eine Lehre als Steinmetz, die ich nach dem zweiten Lehrjahr abbrach, um in eine Lehre zum Steinbildhauer zu wechseln. Meinen Gesellenbrief machte ich 1981 bei Peter Gutmann in Freiburg im Breisgau.

      Anschließend bewarb ich mich vier Jahre lang um einen Studienplatz an verschiedenen Kunstakademien in Deutschland. Bis dahin arbeitete ich als Grabsteinmetz, Wohnungsrenovierer etc.

      Endlich bekam ich 1985 durch eine Begabtenprüfung eine Zusage für die Staatliche Kunstakademie in Karlsruhe bei Prof. Otto Herbert Hajek. Zu diesem Zeitpunkt wollte ich nicht mehr Michelangelo werden, sondern ein eigenständiger Künstler, der eher einer prozessorientierten Kunst näherstand als der strengen geometrischen, architektonisch integrativen Kunst eines Hajek.

      Nach dem 6. Semester wollte ich nach Düsseldorf zu Joseph Beuys wechseln, der aber einen Tag, bevor ich mich bei ihm vorstellen wollte, verstarb.

      Ein Semester später wechselte ich nach Hamburg an die Hochschule für bildende Künste zu den Professoren Franz Erhard Walther und Michael Lingner. Bei Walther begegnete mir der Begriff der Handlung in der Kunst. Ein in Gang gesetzter innerer Erfahrungsprozess, ausgelöst durch selbst angefertigte Objekte, die aus dem Betrachter einen Handelnden werden lassen. Zu diesem Zeitpunkt kannte ich Aktionen, Happenings und Performances, aber Handlung als Kunstform war mir völlig unbekannt. Walther nannte seine Objekte »INSTRUMENTARIEN«, die vom Benutzer nach sogenannten »Anweisungen« zu erfahren waren, und unterstützte die Anweisungen durch textliche und diagrammartige Erläuterungen seiner Objekte.

      Diese Art von Kunst faszinierte mich zutiefst und ich spürte, dass sie mit der ganzen Art meines Seins zusammenzubringen war. Ich selbst hatte mit dieser Kunst zu tun. Sie kannte mich, bevor ich sie kannte.

      Ich begann ebenfalls »INSTRUMENTARIEN« zu entwickeln, die sich allerdings an alltäglichen Gegenständen abarbeiteten. Eine Grenzwanderung zwischen Kunstobjekt und Design.

      Während meiner ganzen Studienzeit in Hamburg arbeitete ich als Spüler in einem sehr gehobenen Speiselokal mit dem bedeutungslosen Namen »Freihafen«, obwohl es das integrierte Restaurant der Hamburger Kammerspiele war. Dort lernte ich außer Spülen, wie man Seezungen filetiert, Kartoffelgratin macht und sonstige Basics, die man in einer Garküche so braucht. Ich machte, wenn man so will, eine unfreiwillige/freiwillige Lehre als Koch.

       DIE ANFÄNGE DER EINZIMMERTAFEL ST. AMOUR

      Mein Diplom machte ich dann 1992. Ein Jahr später entwickelte ich zusammen mit Prof. Michael Lingner ein Speiseservice mit dem Namen »Pruszkower Rhizom«, ein Geschirr, das zur Ausrichtung außergewöhnlicher Bewirtungen bestimmt ist. Auf jedem Teller sind eine philosophische These und eine Frage miteinander kombiniert. Das Service sollte speziell auf Vernissagen und Sponsoren-Essen zum Einsatz kommen und zu intensiven Tischgesprächen führen.

      Der Anlass für dieses Speiseservice war ein Künstleraustausch zwischen polnischen und deutschen Künstlern, zu dem die Stadt Esslingen am Neckar eingeladen hatte. Danach verschwand dieses Service sauber verpackt in meinem Lager. Erst Jahre später wurde ich inspiriert, nach einem Restaurantbesuch in St. Amour im Departement Jura, die Einzimmertafel St. Amour zu gründen. Mich reizte die Idee bzw. die Vorstellung, aus meiner Wohnung ein »Restaurant« zu machen. Die Teller hatte ich ja schon. Ich war begeistert von der Vorstellung, konnotierte Räume und Orte ineinanderzuschieben und zu vertauschen. Sie sozusagen zu entkontextualisieren, sie neu zu erfinden, und dabei das Neue im Althergebrachten zu suchen.

      Eine ähnliche Idee findet sich schon im 18. und 19. Jahrhundert in den sogenannten Salons, einer Form der Geselligkeitskultur und der kulturellen Verfeinerung. Mein St. Amour soll dem freien Ideenaustausch dienen, jenseits der Schranken von Klasse und Geschlecht. Der wesentliche Unterschied zwischen meinem »Salon« und einem Restaurant ist jedoch, dass meine Abende privater Natur sind. Man reserviert in geschlossenen Gruppen, um be- wusst ungestört zu sein.

      Ungestört von aufdringlichen Sommeliers, ungestört von zu lauten und langohrigen Tischnachbarn und letztlich, um das »Entre nous« zu zelebrieren. Eine Atmosphäre der Vertrautheit. »St. Amour« steht auch für eine Gegenkultur zur Alltagsverrohung.

      Um noch mal auf die mir am häufigsten gestellte Frage meiner Gäste zurückzukommen, wie man auf eine solche Idee kommt, würde ich sagen: durch die Kunst. Denn durch ästhetisches Denken verändern sich Begriffe, erweitern sich und verwandeln Undenkbarkeit in Denkbares. Und so eröffnete ich im Mai 2000 die EINZIMMERTAFEL ST. AMOUR.

       DIE BEGEGNUNG MIT WOLFGANG SCHORLAU

      Zwei Jahre später entdeckte mich oder besser gesagt fand mich Wolfgang Schorlau, der zu diesem Zeitpunkt schon seit einem Jahr mein Etagennachbar war und an seinem ersten Roman »Die blaue Liste« schrieb.

      Eines Tages fragte mich Wolfgang, was ich denn da jeden Abend so machen würde. Es gehe ihn ja nichts an, aber er höre ausgelassenes Gelächter durch die Wände, Korkenknallen, Stöckelschuhe auf dem Holzparkett, permanent die Toilettenspülung – und vor allem rieche er den Duft nach frisch gekochtem Essen. Daraufhin erklärte ich ihm das ästhetische Konzept von St. Amour.

      Wochen später fragte mich Wolfgang, ob er die »Figur« Mario in seinem Roman benutzen dürfe. Ich willigte ein und dachte mir, na ja, schreib du mal deinen Roman, das wollten schon viele vor dir … kannte ich ihn doch zu diesem Zeitpunkt nur als IT-Manager.