Brüchige Zeiten. Luis Stabauer

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Название Brüchige Zeiten
Автор произведения Luis Stabauer
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783990128091



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wollte gerade zu Beginn ihrer Reise nicht auf zufällige Begegnungen warten. Noch in Wien hatte sie zu politischen Gruppierungen in Barcelona recherchiert und für den zweiten Tag ihres Aufenthaltes ein Gespräch mit einer Malerin und einen Termin in der anarchistischen Gewerkschaft Confederación Nacional del Trabajo (CNT) vereinbart. Sie fuhr in die Stadt und frühstückte im Café Schilling.

      Sie saß an einem Fenstertisch. Eine ältere, große Frau in einem bunten Kleid näherte sich dem Café. Das könnte sie sein, dachte Lucía und nippte am Kaffee. Malerin der katalanischen Bewegung war unter ihren Bildern im Internet gestanden.

      Die Frau trat ein um kam sofort auf Lucía zu. „Eugénia“ sagte sie, „ich habe dich bereits von draußen erkannt.“ Sie plauderten ein wenig, dann zeigte ihr Eugénia ihre Bilder am Handy. Die kräftigen Farben gefielen Lucía. Sie entdeckte einige gelbe Schleifen, die die Malerin geschickt in ihren Werken untergebracht hatte.

      „Bist du aktive Katalanin?“, fragte sie und zeigte auf ein gelbes Symbol.

      Eugénia lächelte: „Gut beobachtet. Ich bin Katalanin und wünsche mir mehr Unabhängigkeit von Spanien, aber nicht die Loslösung um jeden Preis. Ich weiß nicht, was das bringen soll. Ich bin zu sehr Europäerin, als dass ich die Loslösung von Spanien befürworten könnte. Für ein Europa der Regionen bin ich schon. Meine Schwester Laura ist bei allen Demonstrationen mit dabei. Die gelben Schleifen habe ich auch ein wenig für sie gemalt. Natürlich ärgert mich, dass immer noch katalanische Aktivistinnen und Aktivisten eingesperrt sind. Mit den Schleifen will ich meine Solidarität zeigen. Ich kann dir die Bilder gerne schicken.“

      Die beiden Frauen redeten lange über Kunst, Lateinamerika, und den überbordenden Tourismus in Barcelona. Bei allen Themen wollte Lucía wissen, welche Haltung die katalanische Unabhängigkeitsbewegung dazu einnahm. Eugénia schlug Lucía ein Treffen mit ihrer Schwester Laura vor, rief sie gleich an und gab ihr Smartphone weiter.

      „Ich schweige wie ein Grab“, sagte Lucía am Telefon, nachdem sie von Laura zu einem Vorbereitungstreffen für die große Demonstration am 1. Oktober eingeladen worden war.

      Nach dem Telefonat verabschiedete sie sich herzlich von Eugénia. „Deine Schwester eröffnet mir fantastische Möglichkeiten, den katalanischen Widerstand miterleben zu können, danke.“

      Sie kam gerade noch rechtzeitig zum vereinbarten Termin mit dem Gewerkschafter der CNT. Allerdings öffnete ihr niemand. Lucía wollte mehr über jene Gewerkschaft erfahren, die ihr Vater öfter erwähnt hatte. Egal, dachte sie, was würden die schon noch von der Franco-Zeit wissen.

      Sie schlenderte über Barceloneta zum Strand. Am Weg zeigte sich die Armut der Welt. Taschen, Hüte, Tücher, Sonnenbrillen, Sandalen und einiges mehr lagen auf den Pflastersteinen. Dutzende afrikanische Verkäufer lungerten herum. Sie kaufte ein T-Shirt und eine große Liegedecke für den Strand.

      Nach dem Abendessen blieb Lucía im Restaurant sitzen. Sie hätte es wissen müssen. Im September kann man am Meer noch einen schlimmen Sonnenbrand bekommen. Es würde wohl eine unangenehme Nacht werden, am Bauch konnte sie nicht schlafen. Erst nach Mitternacht kam sie zurück zum Wohnmobil. Der Zwergpinscher meldete ihr Ankommen. Im Bett fiel ihr Martina ein. Scheiße, ich habe ihr laufende Berichte versprochen, das werde ich morgen vom Strand aus nachholen.

      So sehr Lucía den Schlaf liebte, er wühlte sie auch immer wieder auf. Erneut durchlebte sie im Traum angstmachende Abenteuer mit Figuren, die sich gar nicht kennen konnten. Lucía rollte sich vorsichtig aus dem Bett. Der Rücken brannte noch. Ihr junger Vater war ebenfalls eine Traumfigur, er gefiel ihr und sie erinnerte sich, dass sie ein Jahr, nachdem die Olympischen Sommerspiele in Barcelona ausgetragen worden waren, mit ihren Eltern hier gewesen war. Unten am Strand, an einem ruhigen Platz unter Palmen, neben der Marina. Ihr Vater hatte ihr von seiner Jugend erzählt und danach aus dem Muster der Pflastersteine Spiele für sie erfunden.

      Die Sonne stand bereits hoch, als sie wieder am Platz zwischen den Palmen ankam. „Wir dürfen nur die hellen Platten berühren“, hatte ihr Vater damals gesagt. Sie spürte ihre Jugend und versuchte es wieder, indem sie von einem beigen Pflasterstein zum nächsten sprang. Manchmal landete sie in einer Sackgasse, musste umkehren, einen neuen Weg suchen. Lucía balancierte, hüpfte. Erinnerungen an ihre ersten Erlebnisse am Meer machten sie übermütig. Mit zwei weiteren Sprüngen erreichte sie den letzten hellen Stein vor der Stiege. Wie werde ich meine neue Freiheit gestalten? Wie wird mich Fabian in Erinnerung behalten? Werden ihn seine spanischen Wurzeln interessieren? Das wogende Glitzern der Wellen erregte ihre Aufmerksamkeit. Kinder standen im Schaum, liefen einige Schritte mit und lachten. Aphrodite wurde aus dem Schaum geboren, fiel ihr ein.

      Unter einer Palme streckte sie sich aus, schob den kleinen Rucksack unter den Kopf und blickte in den Himmel. Die Blätter gaben nur Ausschnitte des großen Ganzen frei. Sie dachte an ihre Ehe.

      Kann Katalonien unabhängig werden, und kann ich mich von meiner Vergangenheit lösen und ebenfalls unabhängig werden?, fragte sie sich. So musste sie eingeschlafen sein und wieder begleiteten sie seltsame Figuren im Traum.

      *

      Ich falle! Angst kommt auf. Plötzlich blendet mich etwas. Ich bin gelandet, sehe die Sonne. Sand, Meer, und da unten sitzt einer auf einer niederen Truhe. Muskulös, ein wilder Vollbart, stark gelocktes Haar, vor ihm steht eine überdimensionale rote Schale mit Weintrauben. Hängen auf seinem Kopf auch Trauben, oder sind das die Haare? Jetzt nimmt er die Weinflasche und füllt seinen Becher. Sieht aus wie Dionysos.

      Schaut er mich an? Er hebt das Kinn ein wenig, sein Bart glänzt in der Sonne. Er nickt mir zu. Ich lächle, mache einige Schritte in seine Richtung. „Wie mutig“, denke ich und gehe langsam weiter. Er lächelt, rückt zur Seite, macht mir Platz. Ich setze mich auf die Truhe und sehe Kreise im Sand. Er blickt mich mit seinen großen Augen an und reicht mir seinen Becher:

      „Was führt dich an diesen Ort, Schöne?“

      „Erinnerungen und Vergessen“, sage ich. „Ich war als Kind mit meinen Eltern an diesem Platz. Die Steine, die Palmen, das Meer, ich kann mich an sie erinnern. Dabei will ich vergessen.“

      „Ist Erinnern nicht ein wichtiger Teil des Vergessens? Erzähle mir, was du vergessen willst?“

      Ich suche eine Formulierung. Das Schweigen wird peinlich, er strahlt mich an. Tatsächlich: Er hat einige Weintrauben im Haar hängen.

      „Ach“, sage ich nur und weiß nicht, ob er es gehört hat.

      „Erzähl. Was hast du gestern gemacht? Was willst du vergessen?“

      Hunderte Schwarze liegen am Boden neben ihren Waren und halten sie zum Verkauf hoch. Dahinter liegen riesige Yachten im Hafen, fette Männer in weißen Anzügen, mit Zigarren im Mund, werden von Schwarzen bedient. Sehr junge Mädchen stehen mit den Aschenbechern bereit.

      Ich erzähle nichts, schweige, schaue den Bärtigen an. Mit beiden Händen forme ich kleine Hügel im Sand, zerstöre sie wieder. Schütte meine Füße mit Sand zu und breche die geschaffenen Hüllen auf, indem ich meine Zehen bewege. War dort am Strand Fabian zu sehen? Erneut blicke ich den Lockenkopf an.

      „Du hast in den Sand gezeichnet. Zufall? Ein Spiel?“

      „Wie aufmerksam du bist“, sagt der Bärtige. „Die Kreise sind Positionen meiner Tänzer, die Linien (er deutet sie mit einer Handbewegung an) sind die geplanten Bewegungen und da (wieder deutet er hin), wo sie unterbrochen sind, heben sie vom Boden ab.“

      Er lächelt mich an, krault seinen Bart mit den Fingern. Dann steht er auf, stellt sich in einen der Kreise – es sind fünf, sehe ich jetzt – und scheint sich zu drehen. Allerdings bleibt er am Platz stehen, beugt die Knie abwechselnd und asymmetrisch, dabei bewegt er die Arme. Schnell. Die Hände werden von der Sonne beleuchtet. Indem er die Handflächen nach außen dreht, werden sie zu brennenden Fackeln. Ich applaudiere, aber es ist nicht zu hören.

      „So werden es die Tänzer ausführen und sie werden springen.“

      Er grinst und setzt sich wieder zu mir.

      „Gibt es eine Geschichte dahinter?“, frage ich.