Brüchige Zeiten. Luis Stabauer

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Название Brüchige Zeiten
Автор произведения Luis Stabauer
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783990128091



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Roman Klytia zur Hand, durchstöberte ihre Notizen, las einige Passagen und schrieb die interessantesten Seitenzahlen in ihr Notizheft. Dort hatte sie auch nach den Therapie-Sitzungen Fragen und Anregungen notiert:

      Meine Freunde meinen, ich kann ihnen in schwierigen Situationen gut helfen. Wieso kann ich aber mir nicht helfen?

      Ich darf mir auch von Fabian mein Leben nicht einschränken lassen.

      Meine Erfahrungen mit Albert und Gerhard – zum Vergessen. Werde ich mich in neuen Beziehungen vor solchen Enttäuschungen schützen können?

      Was hält mich an dieser Schule?

      Gegen wie viele Windmühlen müsste ich kämpfen, um dieses Schulsystem zu verändern?

      Sie würde Fabian nicht helfen, wenn sie sich für ihn aufopferte, das hatte ihr auch die Therapeutin bestätigt. Der Wunsch wegzufahren wurde immer stärker. Meine Befreiung aus den Zwängen der Schule, der Politik und aus der Familie könnte ich auch woanders finden, zum Beispiel in den neuen Bewegungen Spaniens, dachte sie, nachdem sie wieder einmal über den Tod ihrer Eltern nachgedacht hatte.

      Lucía begann im Internet über Spanien zu recherchieren. Es schien interessante und neue Bewegungen zu geben, die nicht wie in Österreich und Deutschland der neuen Rechten zuzuordnen waren. Konnte sie da mitmachen und auch ein wenig mitgestalten? Über Klytias Geschichte in Heidelberg wollte sie ebenfalls mehr wissen, suchte im Internet und auf einschlägigen Facebook-Seiten. Dabei fand sie das Profil eines alten Freundes aus Uni-Zeiten. Der hatte sie damals drei Semester lang umschwärmt. Sie schickte ihm eine Freundschaftsanfrage und wollte ihn treffen, falls sie nach Heidelberg kommen würde. Er meldete sich nicht.

      Lucía hatte ihre Idee nach Spanien zu reisen in der Therapiestunde besprochen. „Ein Ortswechsel könnte Ihnen guttun“, unterstützte sie die Therapeutin darin, „aber hören Sie auf Ihr Gefühl.“

      Zu Martina sagte sie einen Tag vor der angeordneten amtsärztlichen Untersuchung: „Schauen wir einmal, was passiert, wenn ich den Termin sausen lasse.“

      „Willst du echt deinen Job verlieren? Das ist jetzt nicht dein Ernst.“

      „Was soll ich an einer Schule, die aus liebenswürdigen Buben hassende Jugendliche macht? Was hält mich in Wien? Meine Eltern sind tot, und die Männer, du weißt. Und Österreich? Du kennst die Wahlergebnisse.“

      „Und ich und Katharina?“

      „Euch werde ich immer bei mir haben, egal, wo ich sein werde.“

      „Was heißt, wo du sein wirst?“

      „Genau weiß ich es nicht, aber seit einigen Wochen wird mein Wunsch wegzufahren immer stärker. Ich will diese Wohnung nicht mehr, alles erinnert mich an Albert und noch mehr an Fabian, allein sein Zimmer. Ich könnte die Wohnung vermieten. Mit den Mieteinnahmen und den Ersparnissen könnte ich einige Zeit lang herumfahren. Wenn ich es wirklich will, soll ich es auch tun, sagt meine Therapeutin. Dein Buch und diese Klytia haben mich erst auf den Gedanken gebracht, mich in anderen Teilen Europas als interessierte Reisende einzumischen, das kommt in einigen Szenen sogar schon im sechzehnten Jahrhundert vor. Du hast zu mir gesagt, dass ich wieder lachen, verzücken und mitreißen können soll. Das kann ich von Lydia und Klytia lernen, ich nehme sie in deinem Buch mit. Vielleicht kann ich dort oder da etwas zu einem gerechten und menschenwürdigen Europa beitragen. Wegfahren wird mir auch helfen, die Schule zu vergessen und die Sache mit Fabian einmal ruhen zu lassen.“

      „Meine Liebe, so einen Blödsinn habe ich schon lange nicht mehr gehört. Du willst ein gerechteres Europa schaffen? Wenn schon, dann würdest du das einfacher über die Schule in Österreich erreichen“, unterbrach Martina sie.

      „Ha, die Schule. Ich verabscheue dieses Schulsystem inzwischen. Wir geben vor, demokratisch zu sein, in Wahrheit erziehen wir angepasste Konsumidioten. Ich will die Pädagogik der Verdummung nicht länger mittragen. Du kennst meine Liebe zu Spanien und den Menschen dort, und ich will sie und ihre Hoffnungen erleben. Außerdem habe ich mich in den letzten Jahren kaum mit der Geschichte meiner Eltern befasst. Mein Vater und Barcelona fallen mir seit einigen Tagen ständig ein. Es gibt zwar keine Verwandten mehr, die wurden alle Opfer der Franquisten, aber Papas Erzählungen über Barcelona interessieren mich. Damit werde ich beginnen.“

      „Was? Dein Vater, Europa und Gerechtigkeit? Klytia als Vorbild? Das mit der Spurensuche in Spanien verstehe ich, aber herumfahren und in Europa Veränderungen anstoßen, geht’s dir noch gut?“

      „Keine Sorge, meine Liebe. Du hast mir ja Klytia mitgebracht, das Leben von Lydia und ihr Lieben kamen mir zuerst kitschig vor, am Ende hat mich ihr Wirken durch ihre Ausstrahlung immer mehr begeistert. Und wolltest du nicht mein Lachen zurückhaben? Ich werde jeden Tag sicherer, mich und meinen Optimismus in Europas unterschiedlichen Kulturen und deren neuen Aufbruchsbewegungen wiederzufinden.“

      „Ich versteh kein Wort.“ Martina runzelte die Stirn.

      „Für dich mag es verwirrend klingen. Für mich wird es immer klarer. Klytia hat in der griechischen Mythologie nur ihren Kopf nach Helios gedreht, und auch wenn sie mit ihrer bedingungslosen Liebe ihren Sonnengott nicht als Liebenden gewinnen konnte, verwirrt hat sie ihn. Sie hat Veränderungen bewirkt. Das Gleiche trifft auf Lydia zu. Hast du das Buch überhaupt zur Gänze gelesen?“

      „Na sicher, schon vor einigen Jahren.“

      „Gut, dann solltest du mich auch verstehen. Es muss doch auch in unserer Zeit möglich sein, Menschen zu verändern und die Gesellschaft aufzurütteln. Und ich denke, dafür muss ich aus meinem Umfeld ausbrechen. Ich will es versuchen, will Teil der neuen Bewegungen sein, ich will nicht länger zuschauen, wie wir die Welt ökologisch ruinieren und in der Gesellschaft neue Diktaturen entstehen.“

      Lucía zog Bilder von kranken Kindern aus einem Stoß Zeitschriften auf dem Schreibtisch.

      „Hier“, sagte sie und zeigte auf ein Kind mit vielen Pickeln im Gesicht, „das ist eine Schädigung durch Pestizide. Und ich muss lesen, dass die europäischen Vasallen der Konzerne der weiteren Verwendung von Glyphosat zugestimmt haben. Wir tun so, als wären die Politiker und die Konzerne neue Götter, wir lassen uns das gefallen. Ich will etwas gegen diese Unkultur der neuen Götterverehrung tun. Wie, das weiß ich noch nicht genau. Irgendwie werde ich mit kreativen Kräften aus unterschiedlichen Ländern einen Ausweg aus dem europäischen Dilemma finden. Und Klytia wird mich dabei anregen.“

      „Machst du Witze? Mein Mitbringsel war wohl ein Blödsinn, vielleicht sollte ich es wieder mitnehmen. Was ist mit Fabian, willst du ihn allein lassen?“

      „Fabian? Es ist wie ein Albtraum. Er will nach wie vor nicht mit mir reden und andererseits wäre es für mich auch unerträglich, einen Identitären in meiner Wohnung zu haben. So muss sich eine Lähmung anfühlen, ja gelähmt, das beschreibt mich recht gut, und in diesem Zustand kann ich weder ihm noch mir helfen. Eines habe ich dir, glaube ich, noch nicht erzählt: In unserem Streit damals meinte er, nicht in seinem Bett schlafen zu können, nur weil ich drauf gesessen bin und es nach mir riechen könnte. Gegen diese Ablehnung bin ich machtlos. Ich muss für einige Zeit auf Abstand zu Fabian gehen. Vielleicht finden wir irgendwann wieder zueinander.“ Lucía war inzwischen aufgestanden und ging im Zimmer hin und her. „Das ist mir alles zu viel“, sagte sie, nahm Klytia, Martinas Buch, in die Hand, ging auf ihre Freundin zu und küsste sie.

      „Meine Welt ist gerade am Zerfallen. Vielleicht laufe ich vor mir selbst davon, vielleicht hat mich dieses Buch auf blöde Gedanken gebracht, vielleicht drehe ich bald durch, ich weiß nur eines: Ich muss weg!“

      „Machst du dich über mich lustig?“, fragte Martina. Lucía küsste ihre Freundin nochmals, dann schüttelte sie langsam den Kopf. „Ich muss“, wiederholte sie.

      „Ich kann es nicht glauben, aber wenn es dir wirklich ernst ist, wann ist es so weit?“, fragte Martina.

      „Die Wohnungsvermietung sollte in Wien kein Problem sein. Vielleicht August oder Anfang September, du erfährst es als Erste, versprochen. Kann ich bei dir im Waldviertel etwas unterstellen?“

      „Natürlich, aber lass uns noch einmal