In den Drachenbergen. Wolf Awert

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Название In den Drachenbergen
Автор произведения Wolf Awert
Жанр Языкознание
Серия Drachenblut
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783959591836



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mir doch zumindest das bestätigen, was ich mir selbst zusammengereimt habe. Selbst wenn sie auch nicht viel mehr wissen als ich. Zumindest scheint das so zu sein. Sollen sie doch alle ersticken an ihren Geheimnissen.

      „He!“ Sie waren in einem Teil des Elfenviertels, das Tama nicht kannte. „Wo wollt ihr denn hin?“ Das war weder der Weg, auf dem sie hergekommen war, noch führte er in Richtung Garnison. Sie gingen eher in die entgegengesetzte Richtung.

      „Ganz ruhig. Entspann dich. Wir gehen spazieren, bewegen uns ein wenig. Egal wohin, Hauptsache, weg von der Garnison. Wer hier ein Ziel hat und sich schnell bewegt, fällt auf. Und auffallen wollen wir nicht. Zu viele Wachen. Du verstehst?“ Argentons silberne Augen sahen alles. Und jetzt fiel es auch Tama auf. Überall waren Komposits der Bürgerwehr damit beschäftigt, den Schutt zu beseitigen, den die Erdstöße auf die Straßen gebracht hatten. Mütter mit Kindern waren nirgendwo zu sehen. Ob die sich in den Häusern sicherer fühlten? Sie schlenderten nun ziellos umher, bis Aureon sagte: „Und jetzt scharf rechts, zu den Büschen hinüber und dann laufen.“

      Die beiden Jungen nahmen Tama an die Hand und gemeinsam rannten sie los, ließen die wenigen Gebäude hinter sich. „Spring!“, rief Aureon und sie sprangen – in ein verwaschenes Dunkel hinein.

      „Jetzt nach links“, kommandierte er, und Tama blieb nichts anderes übrig als zu folgen. Sie sah keinen Schritt weit in all dieser Schwärze um sie herum. Es dauerte immer seine Zeit, bis sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Die beiden Brüder schienen diese Schwierigkeiten nicht zu kennen. Und als Tama endlich etwas sehen konnte, befanden sie sich bereits am Außenzaun der Stadt, oder besser gesagt, vor dem, was noch davon übrig war.

      „Wenn du die Stadt einmal verlassen möchtest, ohne dass dich jemand dabei bemerkt, ist das hier die Stelle, wo du es versuchen solltest. Die Dunkelheit greift mittlerweile weit über den Zaun hinaus, und kein Komposit wird jemals hierhin kommen, um ihn zu reparieren. Vielleicht werden sie irgendwann einmal einen neuen Zaun um die Stadt herum bauen. Außerhalb der Dunkelheit. Aber auch der wird früher oder später von der Dunkelheit durchdrungen werden. Niemand kann die Toten aufhalten. Sie werden immer stärker.“ Aureons Stimme hatte sich zu einem Flüstern herabgesenkt und vertrieb die letzten Reste eines frischen Morgens. Es roch dumpf, kein Lüftchen regte sich, und um sie herum herrschten Alter, Vergängnis und Vergessenheit.

      „Aber ich will gar nicht aus der Stadt heraus“, sagte Tama in ganz normaler Lautstärke und brach damit den Bann.

      „Ich weiß“, antwortete Aureon. „Aber du solltest diesen Weg kennen. Und jetzt komm.“

      Zu dritt gingen sie dort entlang, wo die Überreste des alten Zaunes die ehemalige Stadtgrenze markierten. Wachposten waren nicht zu sehen. Man braucht nicht zu bewachen, wohin niemand gehen will, und mit Leuten, die hier herauswollten, schien niemand zu rechnen. Tama fragte sich, ob es außer ihnen noch jemand gab, der hier so frei umherstreifen konnte, wie sie es taten.

      „Wir sind nicht mehr allein“, sagte Aureon, und seine Stimme riss Tama aus ihren Gedanken. „Jetzt wirst du ein paar weitere Bewohner des Dunkels kennenlernen. Gestalten, denen es verboten wurde, das Reich der Lebenden endgültig zu verlassen. Jetzt hängen sie hier herum und warten auf eine Gelegenheit. Zurück ins Leben oder vorwärts auf einen Weg, dessen Ziel niemand kennt. Es sind Geister“, setzte er noch überflüssigerweise hinzu.

      Vor ihnen standen zwei Herren in ungewöhnlicher Kleidung und von unscharfer Gestalt. Tama streckte unwillkürlich die Hand aus – und griff durch den Nebel hindurch. Die beiden Gestalten verzogen keine Miene, doch sie konnte einen kleinen Widerstand spüren.

      „Ja, junge Frau, uns gibt es wirklich. Wir sind die Stärksten in allen Welten, weil es unmöglich ist, uns zu zerstören. Wir brauchen nur Zeit, und die haben wir im Überfluss. Alle Zeit der Welt von jetzt und hier bis in die Ewigkeit.“

      „Dann müsst Ihr sehr stolz und glücklich sein, und ich fühle mich geehrt, gleich zwei so mächtigen Herren hier begegnen zu dürfen.“ Tama sah nicht ein, warum sie sich von dieser dümmlichen Protzerei beeindrucken lassen sollte.

      Die beiden Gestalten trennten sich voneinander, und nun konnte Tama etwas mehr erkennen. Der Sprecher der beiden war kurz, kräftig und untersetzt, der andere hochgeschossen und von hagerer Gestalt. „Ja, wir können uns glücklich schätzen, aber wir könnten auch etwas Hilfe gebrauchen, so ungern ich das zugebe. Habt Ihr zufällig etwas Brot bei euch, das Ihr entbehren könnt?“

      „Das Geister hungrig sein können, ist ein neuer Gedanke für mich“, sagte Tama.

      „Papperlapapp. Hungrig ist jeder, aber unser Hunger ist von einer anderen Art. Ich hänge hier fest. Böse Stimmen haben einst behauptet, ich hätte meinem Lehrherrn ein ganzes Laib Brot gestohlen. Der Richter hat ihnen geglaubt und mich dazu verurteilt, das Brot zu ersetzen. Dieses ungerechte Urteil erzürnte sogar die Götter und so schickten sie mir zur Hilfe ein Gewitter. Gleich der erste Blitz schlug in den Richterstuhl und tötete jeden in dem Raum. Blitze können zwar rächen, aber kein Urteil rückgängig machen, sodass ich zu einer Existenz verflucht bin, die mich zwischen Tod und Leben hängen lässt, bis ich genügend Brot gefunden habe, um freigesprochen zu werden. Jetzt sagt selbst, wie soll ich an einem Ort wie diesem jemals an genügend Brot kommen. Ihr habt nicht zufällig … Ja“, kreischte er auf und pickte mit Daumen und Zeigefinger auf Tamas Wams herum. Tama senkte den Blick und sah ein winziges Stück Brotkruste vom Frühstück, das sich noch auf dem Leder festhielt. Aber der Geist konnte es nicht ergreifen.

      „Ich kenne nun Euer Unglück“, sagte Tama. „Brot ist hier schwer zu finden, und wenn Ihr etwas findet, könnt Ihr es nicht festhalten. Aber ich kann Euch helfen. Ich schenke Euch diesen Stein hier.“ Sie zeigte mit der Fußspitze auf einen kantigen Felsbrocken. „Dieses winzige Stück Brotkruste lege ich Euch darauf. Selbst wenn Ihr es nicht festhalten könnt, gehört es jetzt doch Euch, und damit ist ein Anfang gemacht. Und wer weiß, vielleicht komme ich noch einmal zurück mit einem zweiten Stück Brot, das ich zu diesem Stückchen lege. Schaut also immer wieder einmal vorbei. Vielleicht finde ich auch einen anderen Weg Euren Fluch zu brechen. Ist ein Fluch denn nicht das Gleiche wie ein Zauberbann?“

      Über das Gesicht des Geistes breitete sich ein Lächeln aus, und sein Mund verzog sich zu einem Spalt, der den Kopf in zwei Hälften teilte. „Ihr seid ein Wunder an Weisheit und gebt mir neue Hoffnung. Ich werde mich von nun an nie sehr weit von diesem Ort wegbewegen.“

      „Ich schließe mich dieser Bewunderung an“, sagte der Hagere, „und obwohl ich weiß, dass mein Schicksal besiegelt ist, will ich Euch ebenfalls meine Geschichte erzählen. Denn mir hilft nicht ein Stückchen Brot oder andere Dinge aus der Welt der Lebenden. Mir kann nur ein wirklich großer Magier helfen, einer von der Art, wie es sie einmal in unserer glorreichen Vergangenheit gab, als Menschen noch das Ohr der Götter hatten und mit ihnen das Zwiegespräch pflegten. Dieser Magier müsste zu Ende bringen, was ich begann, und einen übermächtigen Gegner besiegen. Hört zu, dieses ist meine Geschichte:

      In den alten Zeiten, die wir nicht ohne Grund die großen Zeiten nennen, dienten die mächtigsten Magier den Göttern und nannten sich Priester. Mit ihrer Macht stieg auch ihr Hochmut, denn die Menschen brauchten die Priester, um zu ihren Göttern zu sprechen. Jedenfalls ließen wir sie das glauben.“ Der Geist kicherte. Tama erschauderte, denn dieses Geräusch klang grausam. „Wir handelten viele Vorteile, kleine wie große, für uns heraus. Wahrscheinlich haben wir es übertrieben, denn die Götter verweigerten uns irgendwann ihre Gunst. Wir konnten es kaum glauben, denn wir waren es doch, wir, die Priester, die diese Götter erschaffen hatten. Wie konnten sie nur? Aber es ist nun einmal so, dass alles, was in Magie getränkt und von Zauber umwoben ist, sich mit dem Leben selbst verbündet. Die alten Götter der Menschen, geboren als Auswuchs unserer Fantasien, waren über die Zeit wahrhaftig geworden. Sie besaßen nun die Macht, die wir ihnen angedichtet hatten, und mehr noch dazu. Aber Macht bedeutet nicht Klugheit, und so töteten die Götter ihre Priester. Es geschah, was unvermeidlich war. Ohne uns Priester wandten die Menschen sich von den alten Göttern ab. Ob diese dann starben, weil die Menschen sie vergaßen, oder ob sie von sich aus den großen Haufen verblasster Erinnerungen aufsuchten, kann ich nicht sagen. Auf jeden Fall verschwanden sie. Und nahmen ihre einzige große Gabe mit sich: