Die Todesstrafe I. Jacques Derrida

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Название Die Todesstrafe I
Автор произведения Jacques Derrida
Жанр Документальная литература
Серия Passagen forum
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783709250389



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vorbehaltene Strafe, die unverbesserlich bleiben und denen man nicht vergeben kann. In der Passage, die ich vorlesen werde, werden Sie entdecken, dass es Schlimmeres gibt als die Todesstrafe: Es gibt eine noch schrecklichere, weil unmenschlichere, a-humanere Strafe als die Todesstrafe, die ihrerseits immer noch eine Sache der Vernunft und des Gesetzes bleibt, eine Sache, die der Vernunft und des Gesetzes (logos und nomos) würdig ist. Das Unterscheidungskriterium zwischen der Todesstrafe und dem, was noch schlimmer wäre als die Todesstrafe, diese Demarkationslinie zwischen dem Schlimmen und dem Schlimmeren wird nicht im Rahmen dessen bestimmt, was dem Tod vorausgeht, auch nicht im Augenblick des Todes, nicht in der Gegenwart des Ereignisses des Todes selbst, nicht im Tod, sondern anhand des Leichnams, anhand dessen, was auf den Tod folgt und dem Leichnam zustößt/ geschieht [arrive]. Denn hier ist es das Recht auf ein Begräbnis/ Grabmal, das die Differenz zwischen dem Menschen und dem Tier [bête] markiert, zwischen dem zum Tode verurteilten Menschen, der noch ein Recht auf ein Begräbnis/Grabmal, auf die Ehre der Menschen hat, und demjenigen, der nicht einmal mehr den Namen Mensch und also nicht einmal die Todesstrafe verdient. Ich möchte diesen Punkt deutlich unterstreichen, weil wir auf diese Vorstellung, dass die Todesstrafe ein Zeichen für den Zugang zur Würde des Menschen sei, eine Eigentümlichkeit des Menschen, der sich darauf verstehen müsse, sich in seiner Würde über das Leben zu erheben (worauf die Tiere sich eben nicht verstünden), weil wir also auf diese Vorstellung von der Todesstrafe als Bedingung des menschlichen Gesetzes und der Würde des Menschen, man könnte beinahe sagen des Adels des Menschen, später erneut stoßen werden, insbesondere im Zusammenhang mit dem Argumentationsgang Kants, wenn er die Todesstrafe definiert oder mehr noch, wenn er in ihr die Letztbegründung des jus erblickt, der Gerechtigkeit [justice] und des Rechts. Es gäbe kein menschliches jus, kein Recht und keine Gerechtigkeit in einem System, das die Todesstrafe ausschlösse (Gesetze, 10. Buch, 909b-d lesen):

      In Beachtung also dieses Unterschiedes soll der Richter diejenigen, die nur durch Unverstand, nicht aber durch böse Triebe und verwerfliche Gesinnung zu ihrem Standpunkt gelangt sind, der Besserungsanstalt überweisen und zwar kraft des Gesetzes auf mindestens fünf Jahre. Und in dieser Zeit soll kein anderer Bürger mit einem solchen Gefangenen verkehren als die Mitglieder des nächtlichen Rats, die durch ihren Umgang mit ihnen auf ihre Besserung hinwirken und ihr Seelenheil fördern sollen. Ist aber die Zeit der Gefangenschaft abgelaufen, so soll, wenn einer wieder zur Vernunft gekommen zu sein scheint, dieser auch wieder mit den Vernünftigen zusammen wohnen, ist dies aber nicht der Fall, so soll er mit dem Tode bestraft werden. Wer aber, nicht genug, daß er sich einer der drei Formen der Gotteslästerung schuldig gemacht hat, geradezu zum Tiere herabgesunken ist und voll Verachtung gegen die Menschen nicht nur viele Lebende durch seine Künste an sich fesselt, sondern auch die Toten wieder erscheinen zu lassen sich für fähig ausgibt und die Götter durch Opfer, Gebete und Zaubersprüche zu berücken und gnädig zu stimmen verheißt, und so zur Befriedigung seiner Habgier nicht nur Einzelne, sondern ganze Familien und Staaten von Grund aus zu verderben sich nicht scheut, den soll wie alle seinesgleichen, wenn er für schuldig befunden wird, das Gericht kraft des Gesetzes dazu verurteilen, in jenem im Innern des Landes gelegenen Gefängnis gefesselt untergebracht zu werden, und kein Freier soll je ihn besuchen; seine Nahrung aber soll er, so wie sie ihm von den Gesetzeswächtern zugesprochen worden ist, aus der Hand von Sklaven empfangen. Stirbt er, so soll sein Leichnam über die Grenze geworfen werden und da unbeerdigt liegen bleiben. Nimmt sich aber ein Freier seiner an und beerdigt ihn, so soll jedermann befugt sein, ihn wegen Gottlosigkeit gerichtlich zu belangen. Hat er aber Kinder hinterlassen, die dem Staate nützlich werden könnten, so soll die mit der Waisenfürsorge betraute Behörde auch diese als Waisenkinder unter ihre Obhut nehmen und ebenso gewissenhaft für sie sorgen wie für die anderen und zwar von dem Tage ab, wo die Verurteilung ihres Vaters erfolgte.20

       (Lektüre hier wiederaufnehmen)

      Verzeihen Sie bitte, wenn ich nun, gleich am Anfang, anlässlich des Beispiels von Sokrates und ein für alle Mal, einige massive Evidenzen in Erinnerung rufe, insbesondere die zwei größten und, zumindest dem Anschein nach, gröbsten unter ihnen. Diese zwei Evidenzen werden mich eine Zeit lang aufhalten, aber vergessen Sie nicht, dass wir diesen langen Umweg aus Anlass und am Rande des Falles Sokrates, der ersten unserer vier exemplarischen oder prototypischen Persönlichkeiten, unternehmen werden – wonach wir dann die drei anderen exemplarischen zum Tode Verurteilten zu uns kommen oder wiederkommen lassen werden.

      Welches sind nun also diese zwei massiven Evidenzen?

      Einerseits die (schon lange, seit einigen Jahrzehnten, seit Ende des Zweiten Weltkriegs aber beschleunigt) im Gange befindlichen Kämpfe für die weltweite Abschaffung der Todesstrafe (Kämpfe, die wir zumindest in ihren groben Zügen und juristischen Skandierungen untersuchen werden, die internationaler Art sind, da sie oft die Form von allgemeinen Erklärungen und Empfehlungen internationaler Gemeinschaften angenommen haben), diese Kämpfe für die Abschaffung der Todesstrafe also betreffen nicht die Tötung oder das Töten im Allgemeinen, zum Beispiel in Kriegszeiten, sondern nur die Todesstrafe als gesetzliche Einrichtung der Innenpolitik eines für souverän erachteten Nationalstaats. Es ist immer legal, in der Situation eines erklärten Krieges einen ausländischen Feind zu töten, selbst im Falle eines Landes, das die Todesstrafe abgeschafft hat (und wir werden uns also in dieser Hinsicht zu fragen haben, was einen Feind, einen Ausländer21 und einen Kriegszustand – als Bürgerkrieg oder als zwischenstaatlicher Krieg – definiert; die Kriterien sind immer schwer zu bestimmen, und ihre Bestimmung wird immer schwerer werden).

      Andererseits, zweitens: Bis hin zu gewissen jüngsten, eng umgrenzten Phänomenen der gesetzlichen Abschaffung der Todesstrafe im engen Sinne in einer immer noch begrenzten Anzahl von Ländern haben die Nationalstaaten abrahamitischer Kultur, jene Nationalstaaten, in denen eine abrahamitische Religion (Judentum, Christentum, Islam) vorherrschte, sei es, dass sie Staatsreligion, die offizielle und verfassungsmäßige Religion war, sei es, dass sie in der Zivilgesellschaft schlicht und einfach überwog, nun, bis hin zu gewissen jüngsten, eng umgrenzten Phänomenen der Abschaffung der Todesstrafe haben diese Nationalstaaten keinen Widerspruch empfunden zwischen der Todesstrafe und dem sechsten Gebot, „Du sollst nicht töten“ (von dem Levinas sagt, dass es, obgleich das sechste auf der Liste, in Wirklichkeit das erste sei, das grundlegende Gebot und die Ur-Grundlage der Ethik, das Wesen selbst der Ethik und die erste Bedeutung, die mir das Antlitz bedeutet22), haben also diese Nationalstaaten abrahamitischer Kultur zwischen diesem „Du sollst nicht töten“ (also diesem scheinbar absoluten Recht auf Leben, diesem Verbot, den Tod zu geben) und der Todesstrafe in Wahrheit nicht mehr Widerspruch empfunden als Gott selbst, als er, nachdem er auf diese Weise (Exodus 20, 1-17) das „Du sollst nicht töten“ vorgeschrieben hatte, Moses befahl, die Söhne Israels dem auszusetzen, was man mit „jugements [Urteilssprüche]“23 übersetzt. Was sagen insbesondere die genannten „Urteilssprüche“, unmittelbar nach den Zehn Geboten? Nun, im Grunde genommen, dass man all diejenigen zum Tode verurteilen, all denjenigen den Tod geben müsse, die dieses oder jenes dieser zehn Gebote übertreten. Es gibt da, Sie ahnen es, heikle und entscheidende Fragen der Semantik und also der Übersetzung, wir werden noch darauf kommen, aber ich zitiere zunächst die Übersetzung von Dhorme in der Pléiade-Ausgabe, die das sechste Gebot mit „Tu ne tueras point24 übersetzt hat; auf Deutsch (modernisierte und revidierte Luther-Übersetzung): „Du sollst nicht töten“*; auf Englisch (King James Version): „thou shallt not kill“. Chouraqui übersetzt anders und wir werden gleich noch darauf kommen, um eine kritische Differenz zu situieren zwischen zwei Weisen, den Tod zu bringen oder zu geben beziehungsweise das Leben zu nehmen. Nun, wenn Gott nach den Zehn Geboten, und also nach dem „Du sollst nicht töten“, Moses vorschreibt, den Söhnen Israels eine Liste mit „Urteilssprüchen/Rechtsordnungen“ vorzulegen (und hierbei handelt es sich sehr wohl um Urteilssprüche [jugements], nach einem hebräischen Wort (michpat), das die Gerechtigkeit, das Urteil, die Rechtsprechung, das Recht betrifft: Gott schreibt seinem Volk oder seiner Nation, den Söhnen Israels, eine Verfassung vor, ein Recht, eine Rechtsprechung, insbesondere ein Strafrecht – die Übersetzungen markieren das im Französischen alle, bei Dhorme wie bei Chouraqui handelt es sich um „jugements“), < wenn > Gott also Moses befiehlt, diese „Urteilssprüche“ den Söhnen Israels