Die Todesstrafe I. Jacques Derrida

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Название Die Todesstrafe I
Автор произведения Jacques Derrida
Жанр Документальная литература
Серия Passagen forum
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783709250389



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aber diesen Kontext verlasse, den einer Sequenz, in deren Verlauf ich mir also gleich am Anfang, und ein für alle Mal, erlaubt habe, einige massive Evidenzen in Erinnerung zu rufen, insbesondere die zwei größten und, zumindest dem Anschein nach, gröbsten unter ihnen, bevor ich also diesen Kontext verlasse, möchte ich noch festhalten, dass es in ebendieser Passage aus dem Buch Exodus, unmittelbar nach den Zehn Geboten und vor den „Urteilssprüchen/ Rechtsordnungen“, jenen ergreifenden und höchst aufschlussreichen Moment gab, Sie werden sich zweifellos daran erinnern, an dem das Volk, die Söhne Israels, nachdem sie die Zehn Gebote, aber noch nicht die „Urteilssprüche/Rechtsordnungen“ gehört hatten, [an dem also die Söhne Israels] nicht mehr hören wollen. Sie wollen Gott nicht mehr hören48. Zumindest wollen sie dem göttlichen Wort nicht mehr direkt ihr Ohr leihen, sie wollen Gott nicht länger zuhören, als wären sie auf das Schlimmste gefasst [s’attendaient], das in der Tat auch auf sie wartete [les attendait], und sie bitten Moses, mit ihnen zu sprechen, denn ihm, Moses, würden sie zuhören, während das Wort Gottes, wenn sie es direkt, ohne Mittler vernehmen, droht, sie sterben zu lassen, ihnen den Tod zu geben. So als ob (Sie werden den Text gleich hören), so als ob, als Gott ihnen, unter anderen Geboten, „Du sollst nicht töten!“ sagte, aber bevor er als gewissermaßen legale, rechtswissenschaftliche Konsequenz daraus folgerte, dass jeder, der töten wird, sterben soll, dass jeder, der morden wird, mit dem Tod bestraft werden soll, so als ob also Gott Gefahr liefe, sie mit seiner eigenen Stimme zu töten, just nachdem er ihnen gesagt hatte „Du sollst nicht töten!“. So als ob die Söhne Israels gespürt, geahnt hätten, dass die Stimme Gottes eine düstere Botschaft bringen, die Neuigkeit des Todes, die Drohung mit dem Tod, mit der Todesstrafe ankündigen würde, in ebenjenem Moment, in dem er das Töten soeben verboten hatte. Es ist dasselbe Gesetz, das ethische Gesetz, „Du sollst nicht töten!“, welches das rechtliche oder strafrechtliche Gesetz bestimmt, die Todesstrafe für den Verbrecher, der das ethische Gesetz übertritt. Sie ahnen, dass Gott gerade dabei ist, nicht das Töten, aber die Todesstrafe zu erfinden – und die Juden, die Söhne Israels, sind erschrocken über dieses göttliche Wort, das sie erwählt, das sie auserwählt, um ihnen gegenüber, an ihre Adresse gerichtet zu verkünden, um sich anzuschicken, die erste Drohung mit der ersten Todesstrafe der Welt, auf der Erde der Menschen [terre des hommes], auszusprechen. Dieser Übergang [transition], diese Trance49, die sich nun der Söhne Israels bemächtigt, ist außerordentlich. Sie sehen die Todesstrafe kommen, sie sehen sie von Gott kommen. Ich lese zwei Übersetzungen. Das ist just nach dem letzten der Zehn Gebote, in Kap. 20, Vers 18. < Übersetzung Dhorme50 >:

      Und das ganze Volk nahm den Donner wahr, die Flammen, den Hörnerschall und den rauchenden Berg. Als nun das Volk das wahrnahm, zitterten sie, blieben von ferne stehen und sagten zu Mose: Rede du mit uns, dann wollen wir hören! [Als ob sie nicht, nicht mehr in der Lage wären, Gott unmittelbar, von Nahem zu hören] Aber Gott soll nicht mit uns reden, damit wir nicht sterben. Da sagte Mose zum Volk: Fürchtet euch nicht! Denn nur um euch zu prüfen, ist Elohim gekommen, und damit die Furcht vor ihm euch vor Augen sei, damit ihr nicht sündigt. So blieb denn das Volk von ferne stehen. Mose aber näherte sich dem Dunkel, wo Elohim war.

      Da sprach Jahwe zu Mose: So sollst du zu den Söhnen Israel sprechen […].51

      Bald darauf wird die Liste mit den „Urteilssprüchen/Rechtsordnungen“ kommen (das Strafgesetzbuch und die Todesstrafe). Andere Übersetzung, die von < Chouraqui52 >:

      Alles Volk aber, sie sahn

      das Donnerschallen, das Fackelngeleucht,

      den Schall der Posaune, / den rauchenden Berg,

      das Volk sah, / sie schwankten, / standen von fern.

      Sie sprachen zu Mosche: Rede du mit uns, wir wollen hören

      [Als ob sie Gott nicht hören könnten, einen Gott, der allzu furchteinflößend und bedrohlich ist, der sie, nachdem er ihnen gesagt hat „Du sollst nicht töten!“, mit dem Tode bedrohen wird, mit jener Todesstrafe, die er zu erfinden gedachte],

      aber nimmermehr rede mit uns Elohim [Als ob sie sagen würden: Er soll schweigen, dieser Gott, schweig, sprich nicht mehr zu uns, Moses, sag ihm, dass er schweigen und sich damit begnügen soll, dir zu sagen, was er uns mitteilen will], aber nimmermehr rede mit uns Gott, sonst müssen wir sterben.

      Mosche sprach zum Volk: / Fürchtet euch nimmer!

      Denn um des willen, euch zu prüfen, ist Elohim gekommen,

      und um des willen, daß seine Furcht euch überm Antlitz sei,

      damit ihr vom Sündigen lasset.

      Das Volk stand von fern,

      Mosche aber trat zu dem Wetterdunkel, wo Elohim war.53

       (Eine Zeit des Stillschweigens einlegen)

      Erinnern Sie sich, von woher wir kommen. Erinnern Sie sich, dass es der Fall unseres ersten zum Tode Verurteilten ist, des Griechen, Sokrates, der uns hierher geführt hat. Nun gibt es aber unter all den Tönen, die zwischen derart verschiedenen, scheinbar inkommensurablen Szenen wie denen des Dekalogs und des Prozesses gegen Sokrates auf analoge Weise zusammenklingen oder widerhallen, auch folgenden: eine Anprangerung eines Kults falscher Götter, schlechter Götter. Auf der einen Seite wird Sokrates beschuldigt, neue Götter eingeführt zu haben, auf der anderen Seite verdammt Jahwe – den Zehn Geboten vorangehend, sie beginnend und ihnen folgend – die Anbetung von Götzen, von aus Stein gehauenen Göttern, von Abbildern und Elohims aus Silber und Gold.

      Unter all den exegetischen Mitteln und hermeneutischen Modellen, die sich um eine solche Erzählung drängeln mögen, können einige natürlich versuchen, in ihr eine historische Offenbarung zu dechiffrieren, andere eine Mythologie, die der Geburt des Gesetzes als Geburt der Todesstrafe eine allegorisch-narrative Form gibt; wieder andere können versuchen, durch das narrative (offenbarte oder mythologische) Raster hindurch zu dechiffrieren, wie die Struktur selbst des absoluten Gesetzes in eine fabelartige Geschichte gebracht wird, und zwar als in der Todesstrafe, in der Androhung des für eine Tötung zu zahlenden Preises, eben der Todesstrafe, gründend, am Ursprung des Gesellschafts- oder Nationalstaats-Vertrags, am Ursprung aller Souveränität, aller Gemeinschaft oder aller Genealogie, jeglichen Volkes.

      Ich habe also gerade die Analogie mit dem Fall Sokrates in Erinnerung gerufen, dem ersten, aber es gibt auch den Fall Jesus. Ich sage jedes Mal Fall [cas], um daran zu erinnern, dass es sich um eine Rechtssache [cause judiciaire], einen Prozess und um Strafrecht handelt (übrigens: Die gesamte amerikanische Verfassungsrechtsprechung, auf die wir noch zurückkommen werden, insbesondere in Bezug auf die Todesstrafe, einer Todesstrafe, die zunächst eingeführt, dann abgeschafft, schließlich wiedereingeführt, ausgesetzt, dann in dieser oder jener einzelstaatlichen Gesetzgebung erneut angewandt wurde, diese gesamte Rechtsprechungsgeschichte wird von einer Geschichte des Rechts um „Fälle [cas]“ herum skandiert, „case X versus Y“, die jedes Mal ein Datum der Entscheidung – zum Beispiel der Obersten Gerichtshöfe – festhalten, Entscheidungen, die für die Rechtsprechung als Autorität maßgebend sind). Ich sage also Fall, um an diese juristische Dimension und diese Prozesse zu erinnern, aber auch, weil der Fall [cas] auch der Fall im Sinne von Sturz [chute] ist, eine kapitale Überstürzung, ja die Enthauptung [décapitation], die den Kopf oder das Leben oder den Körper niederwirft, die fallen oder herabfallen, zu Boden, unter das Schafott oder ans Kreuz. Es wird da also den Fall Jesus geben, hinsichtlich dessen wir dasselbe aufzeigen können werden: eine religiöse Anklage, die, natürlich, von einer Souveränität und einer politischen Exekutivbeziehungsweise Exekutionsmacht [pouvoir d’exécution] übernommen wird. Sokrates und Jesus also, aber auch Jeanne d’Arc (1431: selbes Schema, auf das wir immer wieder zurückkommen werden: eine religiöse Anklage im Dienste einer politischen Souveränität oder von dieser, die die Tötung zu vollstrecken beziehungsweise exekutieren vermag, bedient: Bündnis von Religion und Staat). Diese drei, Sokrates, Jesus, Jeanne, sind natürlich keineswegs die Einzigen oder die Ersten, noch weniger die Letzten, aber es sind große emblematische Figuren, anhand derer ich, in der Morgendämmerung dieses Seminars, beginnen möchte, noch bevor wir anfangen.