Meine Real Life Story. Philipp Mickenbecker

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Название Meine Real Life Story
Автор произведения Philipp Mickenbecker
Жанр Афоризмы и цитаты
Серия
Издательство Афоризмы и цитаты
Год выпуска 0
isbn 9783863348328



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dieser Hof schon lange nicht mehr, aber immerhin hatten wir noch ein paar Hasen und Hühner. Und die große Werkstatt! Eine alte Scheune, in der unser Vater alles hatte, was man zum Basteln brauchte. Schon von klein auf haben wir ihm zugeschaut und mitgeholfen, gemeinsam an Fahrrädern geschraubt oder Sachen repariert. Er hat sogar einige Patente entwickelt. Damals wurden wohl die Anfänge unserer Selbstbauleidenschaft gelegt. Das machte einfach viel mehr Spaß, als auf der Spielekonsole zu zocken.

      Die ersten vier Jahre unserer Schulzeit mussten wir überhaupt nicht zur Schule gehen, sondern wurden von unserer Mutter zu Hause unterrichtet. Dafür bin ich auf jeden Fall sehr dankbar, auch wenn das, genau wie alles im Leben, Vor- und Nachteile hatte. Ich denke mittlerweile, dass es eine der besten Zeiten in unserem Leben war, die uns so viele gute Grundlagen gegeben hat. Unsere Eltern wären dafür am Ende fast ins Gefängnis gegangen, mussten mehrmals vor Gericht und Strafe zahlen, weil wir nicht in der Schule waren.

      In vielen Ländern ist „Homeschooling“ inzwischen ein gängiges Konzept, nur in Deutschland wird das einfach nicht akzeptiert, obwohl man uns jederzeit auf unseren Leistungsstand hätte überprüfen können, der vermutlich besser war als bei den meisten „normalen“ Schülern. In der vierten Klasse haben wir schon mit x und y gerechnet – und das, obwohl wir nur drei oder vier Stunden am Tag Unterricht hatten. Den Rest des Tages konnten wir mit Freunden im „Real Life“ verbringen.

      Ab der vierten Klasse sind wir dann auf eine „christliche“ Schule gegangen. Der Staat hat uns beziehungsweise unsere Eltern dazu gezwungen. Ich verstehe bis heute nicht, warum diese Schulpflicht in Deutschland so unglaublich ernst genommen wird und es nicht eine Bildungspflicht oder Ähnliches gibt, wie zum Beispiel in Österreich.

      Eingeführt wurde die Schulpflicht ja eigentlich mal, um ein gewisses Bildungsniveau für alle sicherzustellen. Schöner Gedanke, aber tatsächlich habe ich manchmal das Gefühl, dass es eher darum geht, Kinder zu beschäftigen und mit sinnlosem Wissen vollzustopfen, als sie zum selbstständigen Denken und zur Bildung einer eigenen Meinung anzuregen. Für meine Begriffe ist die Schule eher hinderlich dabei, Dinge zu hinterfragen und kreativ zu werden. Jedenfalls habe ich das so erlebt.

      Ich sehe diesen hässlichen grauen Bau immer noch vor mir. Den hohen Zaun, der den gefängnisartigen Gesamteindruck noch unterstrich. Den kleinen Pausenhof mit einem Basketballkorb, auf dem man überhaupt nichts machen konnte, außer immer nur die gleichen Spiele zu spielen. Die kleinen Fenster in den düsteren Klassenräumen. Hier gab es keine Werkstatt, keinen Wald, keinen Raum für Kreativität, keine Freiheit. Stattdessen hunderttausend sinnlose Regeln, die das ohnehin schon langweilige Schülerdasein so eintönig gemacht haben, dass wir uns vorkamen wie im Knast.

      Ich konnte nie verstehen, warum wir die Einzigen waren, die dieses System gehasst haben, aber wahrscheinlich konnten nur wir das so sehen, weil wir das Leben ohne Schule kannten. Ohne diesen Zwang, jeden Morgen stundenlang im Klassenzimmer zu sitzen und sich den Unterricht anhören zu müssen, egal, ob man es schon längst verstanden hatte oder nicht. Wahrscheinlich ging es den anderen wie Hühnern, die in ihren Legebatterien groß geworden waren und das Leben da draußen gar nicht kannten. Die nicht wussten, wie viel Freude es macht, kreativ zu sein, zu versuchen, das Unmögliche zu schaffen und selbst neue Lösungswege zu entdecken, anstatt die Lösungswege auswendig zu lernen, die jemand anders entwickelt hat.

      Früher hatten wir einfach aus Interesse gelernt. Ich weiß noch, wie unsere Mutter uns das Dividieren beigebracht hatte. Eigentlich hätten wir noch mit ganz kleinen Zahlen rechnen sollen, aber damals hatte uns der Wissensdrang gepackt. Voller Neugier hatten wir weiter gefragt und gelernt, wie man große Zahlen teilen konnte.

      Für uns war dieses neue Wissen so interessant, dass wir abends den Taschenrechner mit ins Bett schmuggelten. Dann dachten wir uns beliebige Zahlen aus und fingen an, fünf- oder sechsstellige durch dreistellige Zahlen im Kopf zu teilen. Wenn wir das Ergebnis hatten, rechneten wir es mit dem Taschenrechner nach. Das machte einfach Spaß, wir freuten uns auf den Unterricht, wir lernten nie für Noten, nein, denn bei uns gab es überhaupt keine.

      In der Schule lernte niemand aus Interesse. Hier lernte man für die Noten im Zeugnis. Man versuchte, seinem Gehirn durch endlose Wiederholungen vorzutäuschen, dass etwas wichtig sei, bis man es endlich wusste. Das Schlimmste war, sich nach einem siebenstündigen Unterrichtstag zu fragen, was man an diesem Tag tatsächlich gelernt hatte. Das war meist wenig. Und wenn man sich dann noch fragte, was man für sein Leben gelernt hatte, blieb so gut wie gar nichts übrig. Das hätte man auch in einer Stunde zu Hause lernen können.

      Diese Schule nannte sich also „christlich“. Was war das, woran die Menschen hier glaubten? Man erzählte uns von einem Gott. Einem höheren Wesen, das uns immer sah und hörte und mit dem man immer reden konnte. Aber ich konnte diesen Gott dort nie wirklich sehen. Zumindest nicht so, dass es mich überzeugt hätte, eher im Gegenteil! Weder in den morgendlichen Andachten noch im Umgang der Lehrer mit uns Schülern kam für mich irgendetwas rüber, das mich hätte aufhorchen lassen. Auch nicht in den gefühlt sinnlosen Gebeten, wenn Matthias für gutes Wetter betete und Sara für Regen. Das hat für mich überhaupt keinen Sinn gemacht, diese ganze Religion. Vielleicht war ich auch einfach nur blind dafür oder konnte damals noch nicht verstehen, weshalb wir so behandelt wurden, wie es der Fall war.

      Für mich war dieser Glaube ja nicht wirklich etwas Neues. Aber in dieser Schule gab es zusätzlich zu den Verboten, die wir schon von zu Hause kannten, noch eine riesige Liste weiterer Einschränkungen, die irgendwie auch noch mit dem Glauben begründet wurden. Es war genau vorgeschrieben, wie man sich zu kleiden hatte. Und auch Zwischenmenschliches war strikt geregelt – Kontakte zwischen Jungs und Mädchen waren so weit verboten, dass es selbst beim „Kettenfangen“ nicht erlaubt war, ein Mädchen an der Hand zu halten.

      Auf jeden Fall haben wir die Schule gehasst. Und das ist echt nicht übertrieben. Wir haben es gehasst, jeden Morgen aufstehen zu müssen, immer mit der Frage nach dem Warum. Warum müssen wir hier in der Schule unsere wertvolle Lebenszeit, unsere wertvolle Kindheit verschwenden? Womit haben wir es verdient, in diesem Gefängnis zu sitzen? In dieser Diktatur der Lehrer, die einem vorschreibt, dass man sein Gehirn durch endlose Wiederholungen betrügen soll, dass die Informationen wichtig seien, anstatt einfach mal echtes Interesse zu wecken. Das hatte unsere Mutter zu Hause geschafft. Da wollten wir lernen, da hat Mathe Spaß gemacht, da hat es Spaß gemacht, Neues zu erfahren!

      Das einzig Gute in diesem gelb-braun gestreiften Blechkasten waren ein paar Freunde, die aber auch alle viel zu weit weg wohnten. Wir fuhren jeden Morgen eineinhalb Stunden mit der Bahn in die Schule, da es bei uns in der Nähe keine christliche Schule gab. Von daher konnten wir nach der Schule selten etwas mit unseren Freunden machen. Wir waren gute Schüler, obwohl wir immer das Gefühl hatten, unsere Zeit endlos zu verschwenden. Mein Bruder hat in dieser Zeit viele Gedichte geschrieben, an eine kurze Zeile kann ich mich noch gut erinnern:

       Das Schulsystem ist unser Problem, die Schule unser Schicksal, die Lehrer unsre Qual.

      Und ja, so war es auch.

      Unsere Mutter hat uns immer unterstützt, und wir hatten in der Heimschule das gelernt, was viele andere nie gelernt haben und was man in der Schule nicht lernen kann: Wir haben gelernt zu lernen. So haben wir nie viel für die Schule getan, aber wenn, dann sehr effektiv. Dadurch waren wir immer die Klassenbesten – für unsere Mitschüler galten wir daher schnell als die Streber, auch wenn das wohl am allerwenigsten auf uns zugetroffen hat. Uns hat es immer gequält, bei bestem Wetter bis spät nachmittags drinnen zu sitzen, unnütze Aufgaben zu erledigen und die meiste Zeit darauf zu warten, dass auch der Letzte verstanden hat, wie man die sinnlosesten Berechnungen durchführt, oder zum hundertsten Mal die Hausaufgaben durchgegangen ist, die wir doch schon längst erledigt hatten.

      Aus lauter Langeweile haben wir angefangen, ziemlich wilde Experimente zu machen, nicht nur zu Hause, sondern auch in der Schule. Das waren meistens genau die Sachen, die wir im Unterricht nicht machen durften, weil ja alles viel zu gefährlich war und alles zu hundert Prozent abgesichert sein musste.

      Ich denke, wir haben uns dabei auch ein wenig nach Aufmerksamkeit und Anerkennung gesehnt, denn leider war es genau das, was man in dieser Schule am allerwenigsten bekommen hat. Irgendwie waren wir alle doch eher Nummern, die mit Nummern bewertet