Letzte Geschichten. Ольга Токарчук

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Название Letzte Geschichten
Автор произведения Ольга Токарчук
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783311701682



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ging. Schläfrige Mädchenhände, die nach dem Thermometerglas griffen, der verschlafene Körper, in den die Quecksilbersäule eindrang.

      Es war eine unangenehme Erfahrung, sich selbst mit dem kalten Instrument zu messen, mit einer gläsernen Rute, die auf der entsprechenden Skala den Prozess anzeigte, der sich im abgeschlossenen dunklen Innern des Körpers vollzog. Überhaupt mit einem Instrument den eigenen Körper erkunden zu müssen, weil aus irgendwelchen empörenden Gründen, infolge eines skandalösen Irrtums der Natur, der Mensch nichts über den eigenen Körper weiß. Scheinbar ist er eins mit diesem Körper und ist dieser Körper, zeigt mit dem Finger auf die Brust und nennt ihn »ich« und hat doch keine Ahnung, was sich in ihm tut. Scheinbar fühlt er da etwas, ein Kribbeln, Schwindel und Schmerzen, vor allem Schmerzen, aber er hat kein Wissen, das doch, wenn es logisch zuginge, angeboren sein müsste. Erst musste man für sich selbst zum Objekt werden, das gläserne Röhrchen in sich hineinstecken, um zu erfahren, was sich im eigenen Innern tut.

      Schweigende, klebrige Zellen, eine unförmige Uhr aus Gewebe, die kein Ticken von sich gibt, sondern Materie in Form von Kügelchen, die die Zeit präzise abmessen. Anschwellen von Gewebe und Erschlaffen. Das runde »o« gleitet durch enge Labyrinthe in die Zukunft. Der Körper weiß nichts über sich, er muss an sich einen Test durchführen, um zu erfahren, wie sein Mechanismus funktioniert.

      Ida meint, sie und ihr Körper haben keine gemeinsamen Wurzeln. Sie kommen von verschiedenen Polen. Deshalb müssen sie sich mithilfe von Thermometern, Tomographen und Röntgenstrahlen verständigen.

      Für die Untersuchungen musste sie sich ausziehen. Man teilte ihr ein kleines Zimmerchen zu, ohne Fenster, mit Waschbecken und Kleiderbügeln. Sie zog etwas Weißes an, eine Art Pyjama oder Leinenhemd, und Wegwerfschlappen aus Plastik. Zweimal nahm man ihr Blut ab – aus der Vene und aus dem Finger. Danach ging sie mit einer jungen Frau zum Röntgen, sie redeten nicht miteinander, sie wechselten keinen einzigen Satz, als verstünde es sich von selbst, dass sie jetzt mit wichtigeren Dingen beschäftigt waren und die sozialen Konventionen nicht mehr galten. Die an die Metallscheibe geschmiegten Brüste wurden flach gedrückt, dann ließ die eilige Krankenschwester sie mit der Maschine allein, während einen Sekundenbruchteil lang der Geist Gottes darauf herniederstieg, damit sie sehen konnte, was verborgen, was verdrängt war, was immer im Dunkeln lag. Eine andere Krankenschwester nahm ihren Urinbehälter entgegen, diesen peinlichen Beweis chemischer Prozesse, die ganz von selbst vor sich gehen, seit sie vor über fünfzig Jahren aus unbekannten Gründen angefangen haben. Der Behälter wurde mit ihrem Vor- und Nachnamen versehen und zu anderen ebenso beschrifteten Gefäßen gestellt. Das Datum stand auch darauf. 8. Dezember 2003. Sie war hier und hat eine Spur hinterlassen, aus der man ablesen kann, wer sie ist.

      Anschließend führte man sie in eine kleine Cafeteria in einem unterirdischen Geschoss dieses Privattempels. Sie bekam einen Kaffee und Croissants. Am Nachbartisch saß seitlich zu ihr eine andere Frau. Im Profil war ihr schmaler zusammengekniffener Mund sichtbar, der sich bei jedem Biss wie ein Eidechsenmaul öffnete. Daran erinnert sie sich noch genau. Sie blickten einander mit ausdruckslosem Lächeln an und aßen schweigend weiter.

      Ein paar Tage später ging sie wieder hin. Eine junge Ärztin, ein Mädchen noch, sah einen Stapel Blätter mit Resultaten durch und sagte dasselbe wie der erste Arzt: Ida sei gesund.

      »Vielleicht könnte man beim Hämoglobin Bedenken anmelden, das ist das Einzige, was mir auffällt,« sagte sie. »Aber abgesehen davon ist Ihr Körper völlig in Ordnung, beneidenswert.«

      Bestimmt hatte sie erwartet, dass die Patientin sich freute, dass sie erleichtert aufatmen und freudig hinaus in die regennasse Stadt gehen würde, um Weihnachtseinkäufe zu machen. Sie hatte mit Erleichterung bei der Patientin gerechnet, aber offenbar hatte sie sich getäuscht. Ida dankte und ging. Die junge Ärztin blieb in ihrem Sprechzimmer zurück, wo sie sicher Pythia gleich auf den nächsten Patienten wartete, dem sie vielleicht dasselbe sagen würde. Oder auch nicht – womöglich bereitete sie ein Todesurteil vor und würde der Frau mit dem Eidechsenmaul sagen: Sie sind todkrank und werden sterben. Wir können nichts für Sie tun. Es entspräche ja auch der Wahrheit, wenn sie jedem, der vor ihr Platz nahm, einfach sagen würde: Sie werden sterben, meine Dame, und Sie werden sterben, mein Herr, du wirst auch sterben, liebes Kind, und ich werde auch sterben. Wir werden alle sterben und sollten uns darauf vorbereiten, wir sollten eine Gesellschaft zur Unterstützung des Sterbens ins Leben rufen und Schulen gründen, in denen man sterben lernt, um wenigstens bei dieser letzten Gelegenheit im Leben nichts falsch zu machen. Im Sportunterricht sollte man üben, wie man stirbt, wie man sich sanft ins Dunkel gleiten lässt, wie man das Bewusstsein verliert und wie man im Sarg adrett aussieht. Es müsste Schauunterricht geben, bestimmt würde sich jemand erbieten, seinen Tod der laufenden Kamera preiszugeben, damit ein Unterrichtsfilm gedreht werden könnte. In diesem Kurs müsste es auch Ethnographie geben, alles Wissenswerte über den Tod, was man über ihn denkt, wie er verstanden wird, warum er einmal als Frau und einmal als Mann auftritt, wohin man nach dem Tod kommt und ob man überhaupt irgendwohin kommt. So wie Biologie ein Abiturfach ist, müsste auch die Thanatologie eines sein, es müsste Tests geben, die für das Halbjahreszeugnis gelten würden, und Noten auf dem Versetzungszeugnis. »Ich glaub, ich werd Thano verhauen«, würden die Schüler bei der verbotenen todbringenden Zigarette auf der Toilette sagen, und dann würden sie bis zum Morgen alle möglichen Definitionen, Diagramme und Zahlen pauken. Und alle wären dankbar für diese Mahnung und Lehre.

      Idas Herz interessiert sich nicht für die Untersuchungsergebnisse. Von Zeit zu Zeit startet es nachts kleine Provokationen. Es bleibt einen Augenblick lang stehen, wie in einer Geste der Rebellion – es hat genug von dieser Schaumschlägerei.

      Ida hört Lärm auf dem Hof, die großen Scheunentore quietschen. »Dort stecken die Wirtsleute sicher«, denkt Ida. Sie vermutet, dass sie in dieser Scheune etwas züchten, vielleicht Füchse für Pelze, vielleicht Nerze oder bloß Hühner. Für diese wird die Grütze gekocht. Olga ist bestimmt so alt, wie Idas Mutter jetzt wäre. Nein, jünger, vielleicht ein bisschen jünger. Das Haus ist leer. Ida steht über der erhitzten Herdplatte und wärmt sich die Hände. So ein Herd ist ein Goldstück. Sie denkt daran, dass sie Holz nachlegen und Wasser in den Wasserkessel nachgießen muss. Die Hündin hebt leicht den Kopf und verfolgt ihre Bewegungen.

      »Was willst du?«, fragt Ida.

      Der Hund schaut auf den Teekessel, dann auf die Schüssel. Sie ist leer. Er will etwas trinken.

      »Du benimmst dich wie ein Baby«, sagt sie zu ihm und lächelt vor sich hin. Sie hat etwas Dummes gesagt. Sie gießt Wasser in die Schüssel und setzt sie dem Hund vor. Aber der reagiert gar nicht, schaut nur auf die Schüssel, als wollte er sie mit seinen Blicken bewegen, deshalb hebt Ida vorsichtig den Kopf des Hundes. Unter ihren Fingern spürt sie, wie sein Hals leicht zittert und wie schwer der Hundekopf ist. Der Hund verharrt reglos mit der Nase über dem Wasser, als müsse er Kraft schöpfen, dann schlabbert er ein paarmal unbeholfen, verspritzt Wasser und erstarrt wieder in derselben Position mit der Nase über dem Wasser. Ida nimmt mit der einen Hand die Schüssel fort, mit der anderen bettet sie den zotteligen Kopf auf das Lager. Der Hund seufzt. Da streicht Ida ihm über die Wange – wenn man so sagen darf.

      Die Hauswirte kehren zurück. Sie stapfen mit den Schuhen, um den Schnee abzuschütteln, denn es hat wieder angefangen zu schneien. Der Nebel ist in kleine Teilchen zerrissen, die sich in Schneeflocken verwandelt haben. Olga wühlt im Kühlschrank, holt den Käse heraus, ein Glas Meerrettich, Mayonnaise. Ida versucht, bei den Vorbereitungen für das Essen zu helfen, und räumt auf dem Tisch auf.

      »Ich wollte anrufen und hab es vergessen. Ich weiß nicht, wo meine Gedanken sind«, sagt sie. »Heute hab ich nicht schlafen können. Ich bin im Morgengrauen aufgewacht und konnte nicht wieder einschlafen.«

      »Dann herrscht auch so ein seltsames Licht, deshalb war dir nicht gut«, sagt Stefan langsam.

      Ida betrachtet aufmerksam sein Gesicht, forscht darin nach einer Erklärung: Ein Lächeln würde heißen, dass es eine Art Scherz war, eine ernste Miene, dass er einfach ein komischer Kauz ist, vielleicht hat er auch Probleme mit dem Gedächtnis, vielleicht liegt es am Alter, obwohl er nicht nach einem gebrechlichen Alterchen aussieht. Sie begegnet Olgas Blick. Sie macht eine winzige Bewegung