Letzte Geschichten. Ольга Токарчук

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Название Letzte Geschichten
Автор произведения Ольга Токарчук
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783311701682



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die Knie und drücke mich schließlich mit Gesicht, Bauch, Schenkeln an die Erde, breite die Arme aus – saug mich in dich auf, lass mich in dich versickern, mich auflösen, lass mich zu Staubteilchen werden, zu Boden sinken und dort bleiben.

      Ida berührt ihre Brust an der Stelle, wo das Herz unter den Rippen ist. Es ist ein krankes Herz, wie sie meint, und an diesem Herzen wird Ida sterben. Es ist gut, wenn man sein Leben lang weiß, woran man schließlich sterben wird. Von Zeit zu Zeit und ohne ersichtlichen Grund kommt es zu Vorübungen.

      Es beginnt mit einem Beben im Brustkorb. Das Herz flattert darin wie eine Biene in einer Schachtel, die blindlings an die Wände schlägt, surrt und flirrt, bis sie vor Erschöpfung umsinkt. Das dauert zehn, zwölf Sekunden, nicht länger, anschließend setzt das Herz minutenweise aus. Ida liegt wach im Dunkeln, denn meistens passiert es in der Nacht. Ein Probetod – plötzliche, weiße Stille. Die Angst entsteht nur bei diesem Surren des Herzens und ist eine Folge der Bewegung, des Flatterns, des plötzlich abhandengekommenen Rhythmus. Emotionen sind immer Folge eines körperlichen Zustandes, nie umgekehrt, stellt Ida fest. Wenn das Herz stillsteht, verschwindet die Angst. Dann muss sie die Lampe anmachen, denn sie möchte gern wissen, ob es möglich ist, dass das Herz diesmal wirklich stehen geblieben ist, dass es keine Einbildung ist, dass es keine Hysterie oder Hypochondrie ist. Und ob das heißt, dass sie tot ist. In der kleinen Rinne längs der Adern findet die Fingerkuppe die wohlbekannte Stelle. Nichts pulsiert dort, nichts bewegt die glatte, körperwarme Haut. Das Herz steht tatsächlich still.

      »Sie wissen doch, dass das Herz unmöglich stehen bleiben kann. Das muss Ihnen nur so vorgekommen sein«, sagt die sehr junge Krankenschwester, als sie die Angaben auf der Karte notiert. In ihrem Blick liegt jedoch ein unfreiwilliger Respekt, wie man ihn den Dingen zollt, die man nicht ganz begreift.

      Jetzt sitzt Ida im Wartezimmer und umfasst ihr Handgelenk mit den Fingern der linken Hand. Hier besteht eine ideale Abstimmung: Das Handgelenk passt genau in den Ring, den Daumen und kleiner Finger bilden. Sie berührt den halbrund vorstehenden Knochen, eigentlich ein Knöchelchen, das sich wie eine Kugel unter der Haut wölbt. »Wie heißt dieser Knochen, und was hat er mit mir gemein?«, denkt sie. Sie ist verärgert, weil der Arzt sich verspätet. Auf welche Weise ist dieser Knochen, dessen Namen Ida nicht kennt und dessen Wesen sie nicht versteht, sie selbst? Wäre sie ohne diesen Knochen immer noch sie selbst? Ohne welches Organ wäre sie nicht mehr sie selbst? Das Herz? Das Gehirn? Sie muss den Arzt fragen.

      Sie stellt sich das Innere ihres Körpers vor, als wäre er der Held eines Unterrichtsfilms, wie er den Kindern in der Biologiestunde gezeigt wird, Deine Haut oder So arbeitet das Gehirn des Menschen, alles ist in riesiger Vergrößerung dargestellt, zusammengesetzt aus gewaltigen Zellen, pulsierenden Einzelheiten von Teilen eines größeren Ganzen, das man sich nicht einmal vorstellen kann. Ihr Körper besteht aus geheimnisvollen Gräben und Auswölbungen, übereinanderliegenden Schichten, fleischigen Rohren, schimmernden Oberflächen, seerosenartigen Gebilden. Er ist genauso fremd wie der Meeresgrund, wie ein von ungeheuerartigen und furchterregenden Wesen bevölkertes Korallenriff.

      Da ist die Gebärmutter, ein dunkler Tunnel, und an seinem Ende sieht man in blutigen Fleischfalten einen kleinen gelblichen Tropfen, der perlengleich hinuntergleitet und durch den Tunnel fällt, kurz darauf beginnen die fleischigen Wände sich vor Kummer zu schuppen, blutige Plättchen lösen sich und verwandeln sich in unzählige klebrige Blutstropfen. Das Herz – ein monströses Gebilde aus fleischigen Bändern, elastisch und gummiartig. Der Rhythmus, in dem es sich bewegt, ist der Rhythmus der Kopulation. Jeder Takt gebiert einen Augenblick, der sofort stirbt. Ein kleines farbloses Bläschen, das platzt, bevor man es betrachten kann.

      Man sollte einfach aus den sterilen Räumen hinaus auf die Straße gehen und rufen: Traut keinen Ärzten! Glaubt nicht, dass auch nur einer von ihnen irgendwann etwas Wesentliches sagen wird. Seht euch vor, ihr Wissen ist ein Scheinwissen, und in Wirklichkeit erinnert es an ein einfältiges Spiel, es geht nur darum, im geeigneten Moment den Blick von den Papieren oder dem an den fremden Körper gepressten Stethoskop zu heben und in Sekundenbruchteilen die Kontrolle zu übernehmen: Ich weiß über deinen Körper etwas, was du nicht weißt; obwohl ich nicht du bin, weiß ich etwas, dessen du dir nicht bewusst bist. Was uns unterscheidet, ist Wissen. Ich weiß, denn ich bin nicht du. Du kannst nichts über dich wissen, denn man kann nur etwas erkennen, was man nicht selbst ist. So sieht das aus. Ja, du hast einen Körper, aber du weißt nichts darüber. Ich weiß alles darüber, denn er ist genauso wie andere Körper, die ich schon lange erkannt habe, indem ich sie von oben bis unten abgetastet habe, in ihr Inneres geschaut habe, sie in meiner Vorstellung in kleine Stücke geschnitten habe, damit sich nichts vor mir verbergen kann. Mich überrascht nichts. Im Wesentlichen sind Körper einfache hydraulische Apparate. Erkennen und Handeln – ein paar ausgestellte Rezepte und Überweisungen zu weiteren Untersuchungen. Weiterreichen des Körpers an andere, die auch so tun, als wüssten sie besser Bescheid.

      Sie liegt bequem auf dem Bett ausgestreckt, wartet darauf, dass die an ihre Brüste und Füße angeschlossenen Elektroden die inneren Rhythmen und Spannungen erspüren und sie dann in ein paar symbolische Linien verwandeln, die tintenspuckende Drucker zu einem bewegenden Panorama des Herzens aufs Papier zeichnen. Doch was kann Ida ihnen über ihre Beschwerde sagen? »Herr Doktor, mein Herz hört auf zu schlagen und bleibt minutenlang stehen, deshalb bin ich auf wundersame Weise tot und kehre auf andere wundersame Weise wieder ins Leben zurück. Wenn mein Herz nicht schlägt, tritt eine schreckliche Stille ein. So etwas haben Sie noch nie gehört. Sie ist mächtig, sie muss aus der Tiefe der Erde kommen, sie steigt an die Oberfläche empor wie der Kopf eines vorsintflutlichen Ungeheuers, schaut sich um und gleitet dann dahin zurück, woher sie gekommen ist. Das Herz setzt sich mit einem Reißen, Krampfen, sekundenlangen Beben in Bewegung, und – um es technisch auszudrücken – der Motor springt an. Ein kleiner Tod.«

      Der Doktor verkündet:

      »Sie haben eine Tachykardie, das ist nichts Gefährliches, wahrscheinlich haben Sie als Kind öfter Angina gehabt.«

      »Die Russen haben eine Verkleinerungsform für das Wort ›Tod‹«, sagt Olga, als Ida wieder in die Küche kommt. »Smiert’ka. Kleine Tiere sterben kleine Tödchen.«

      Sie lächelt und kniet sich vor die Kiste mit Ina. Ihr schweigsamer Mann hat Holz im Herd nachgelegt, dann ist er ganz leise hinausgegangen. Ida wird erst jetzt bewusst, dass Olga mit östlichem Akzent spricht, mit Lemberger oder Wilnaer Akzent, das kann sie nicht genau erkennen. Wie ihre Eltern, nur ein bisschen anders.

      »Auf Polnisch hört sich das nicht gut an – ›Tödchen‹.« Ida sieht, wie die Alte mit ihren knotigen Fingern Inas schwarzes Fell teilt und eine Stelle sucht, wo sie die Spritze setzen kann.

      »Schauen Sie nicht so«, sagt Olga. »Ich muss ihr die Spritze setzen, weil sie leidet. Adrian sagt, man soll ihnen Schmerzmittel gönnen.«

      »Sieht man, dass sie leidet? Woran erkennen Sie, dass sie Schmerzen hat?«

      »Am Atem«, sagt Olga. »Sehen Sie, wie schnell und unregelmäßig er geht. Wenn das Medikament aufhört zu wirken, stöhnt sie. Das ist genauso wie bei einem Menschen, warum sollte es auch anders sein? Bitte, gießen Sie sich Kaffee auf, das Wasser kocht schon lange.«

      Ida gießt heißes Wasser in den Becher. Auf der Oberfläche bildet sich eine braune Haut.

      »Haben Sie nicht erwogen, sie einzuschläfern?«

      Olga gibt keine Antwort. Ihre knochigen, arthritischen Finger drücken auf den Kolben der Spritze, um die Luft zu entfernen. Dann verschwindet die Nadel in dem schwarzen Fell. Der weiße Hund steht neben dem Korb und sieht beim Spritzen zu, wie ein Spezialist im weißen Kittel, der begutachtet, wie die Spritze gesetzt wird. Die Frau erhebt sich mit Mühe vom Boden, legt die Spritze auf die Fensterbank und schaut Ida an.

      »Wie geht es Ihnen? Besser?«

      »O ja, unvergleichlich. Es ist schon wieder alles in Ordnung. Ich muss jetzt bei der Polizei anrufen, und bei meinen Freunden, dass mir nichts passiert ist, dann mache ich mich auf den Weg. Vielen Dank für alles. Kann ich das Telefon benutzen?«

      Ida schaut auf das Telefon, das neben der Kredenz an der Wand hängt, und ihr wird klar,