Die grünen Kinder. Ольга Токарчук

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Название Die grünen Kinder
Автор произведения Ольга Токарчук
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783311701675



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Scham erfüllte. Der junge Ryczywolski tat, was er konnte, um mir Ablenkung zu verschaffen, doch was wollte man unter diesen Umständen schon ersinnen? Wir hatten keine Bücher, und der Vorrat an Papier und Tinte gestattete mir kaum, ein paar Pflanzen zu zeichnen. Immer öfter wanderte mein Blick zu dem Mädchen, Ośródka. Nun, da sie allein war, suchte sie unsere Nähe. Ganz besonders band sie sich an Ryczywolski, sie folgte ihm überallhin, und ich wähnte schon, ich hätte womöglich ihr Alter falsch eingeschätzt. Ich suchte nach ersten Zeichen der Weiblichkeit, doch ihr magerer Körper war der eines Kindes, er zeigte keine Rundungen.

      Die Hajdamowiczs hatten ihr hübsche Kleidung und schöne Schuhe gegeben, sie aber zog alles aus, wenn sie nach draußen ging, legte die Garderobe sorgsam bei der Hauswand zusammen.

      Bald versuchten wir, Ośródka Sprechen und Schreiben beizubringen. Ich zeichnete Tiere für sie, in der Hoffnung, sie gebe einen Laut von sich. Sie schaute wohl aufmerksam auf die Bilder, doch schien mir, ihr Blick glitte über das Papier, ohne den Inhalt der Zeichnung zu berühren. Als sie selbst die Kohle in die Hand nahm, konnte sie einen Kreis zeichnen, wurde es jedoch bald überdrüssig.

      An dieser Stelle muss ich ein paar Worte über den jungen Ryczywolski verlieren. Feliks war sein Name, und er benannte ihn gut, denn gleich unter welchen Gegebenheiten blieb er ein glücklicher Mensch, stets heiterer Laune, voll guten Willens, was immer ihm widerfahren mochte. Und widerfahren war ihm, dass die Moskowiter seine ganze Familie hingemetzelt hatten. Seinem Vater schlitzten sie den Bauch auf, an den Schwestern und der Mutter vergingen sie sich auf das Grausamste. Wie er sich sein heiteres Gemüt bewahren konnte, war mir unbegreiflich. Nie sah ich ihn eine Träne vergießen, nie sah ich ihn in Melancholien. Vieles schon hatte er von mir gelernt, die Bemühungen Seiner Majestät, ihn zu einem guten Lehrer zu geben – wenn es gestattet sei, in solchen Worten von sich selbst zu sprechen –, waren nicht umsonst gewesen. Ja, es hätte dieser blondhaarige Mensch mit seinen blauen Augen, seiner zierlichen Statur und seiner Behändigkeit den Weg zu einer großen Karriere einschlagen können, hätten nicht jene Ereignisse ihren Lauf genommen, die ich hier beschreiben möchte. Denn auch Ryczywolski interessierte sich für das Phänomen der plica polonica, was hier, auf dem Gut Hajdamowicze in eins fiel mit Ośródka.

      Zur Zeit der glühenden Julihitze erfuhren wir aus Briefen, dass Warschau befreit war aus den Händen der Schweden, und ich wollte schon glauben, nun kehre alles zu seiner alten Ordnung zurück, und ich würde bald so weit genesen sein, dass ich mich wieder zum König begeben und sein Podagra kurieren könne. Einstweilen nahm sich ein anderer Medicus der Leiden Seiner Majestät an, was mich mit Unruhe erfüllte. Die Mercurius-Kur, die ich dem König zugedacht hatte, war in Polen noch kaum bekannt. Auch fehlte es der hiesigen Heilkunst an präziser Methodik, die Doctores hatten keine Kenntnis von den neuesten Entdeckungen der Anatomie und Arzneikunde, sie hielten sich an alte Überlieferungen, die dem Volksglauben näher waren als den Resultaten gründlicher Forschung. Doch wäre ich unredlich, wollte ich meine Überzeugung verhehlen, dass auch am Hofe König Ludwigs kaum ein Medicus sich fände, der nicht de facto ein Scharlatan wäre und auf Erkenntnisse sich beriefe, die er sich aus den Fingern sog.

      Unglücklicherweise wuchs mein Bein nicht richtig zusammen, ich konnte noch immer nicht darauf stehen. Weiterhin kam die Frau aus den Sümpfen zu mir, die Flüsterin, wie sie genannt wurde, und rieb mir die erschlafften Muskeln mit einer braunen, stinkenden Flüssigkeit ein. Bald erreichte uns dann die traurige Nachricht, dass die Schweden Warschau erneut erobert hätten und erbarmungslos hausten in der Stadt. So sann ich ein weiteres Mal über mein Schicksal, das es so schlecht nicht mit mir meinte, wenn ich in diesen Sümpfen genesen sollte, und dass Gott ebendiesen Lauf der Dinge für mich ausersehen hatte, um mich zu bewahren vor der Gewalt des Krieges, dem Toben und Wüten der Menschen.

      Um die zwei Wochen nach dem Christophstag, der in dieser Gegend besonders feierlich begangen wird – was nicht verwundern darf, trug der Heilige doch den kleinen Jesusknaben wohlbehalten durchs Wasser an Land –, hörten wir zum ersten Mal Ośródkas Stimme. Die ersten Worte richtete sie an Ryczywolski, und als er sie fragte, erstaunt genug, warum sie bisher nicht gesprochen habe, erwiderte sie, niemand habe sie etwas gefragt. Was auch der Wahrheit entsprach, hatten wir doch angenommen, sie sei der Zunge nicht mächtig.

      Wie sehr bedauerte ich meine spärlichen Kenntnisse des Polnischen, denn so vieles hätte ich sie fragen wollen, doch auch Ryczywolski hatte Mühe, sie zu verstehen, sie sprach in einem ruthenischen Volksdialekt. Einzelne Wörter waren es oder kurze Sätze, und sie heftete ihren Blick auf uns, als wollte sie die Wirkung des Gesagten prüfen oder als forderte sie von uns eine Bestätigung. Ihre Stimme passte nicht zu ihr – tief war sie, männlich fast, ganz gewiss nicht die Stimme eines jungen Mädchens. Benannte sie, wobei sie mit dem Finger deutete, die Erscheinungen der Welt – Baum, Himmel, Wasser –, ergriff mich ein tiefes Unbehagen, es klang, als flössen diese schlichten Bezeichnungen aus dem Jenseits zu uns her.

      Der Sommer stand im Zenit, die Sümpfe trockneten ab, doch niemand wollte sich so recht darüber freuen, denn damit wurden sie wegsam, und das Gut Hajdamowicze war ständigen Überfällen ausgesetzt. Vom immer noch tobenden Krieg jeglicher sittlichen Hemmungen entledigt, trieben alle möglichen Schurkenbanden ihr Unwesen. In solchen Zeiten weiß niemand mehr, wer mit wem sich verbündet hat, wer auf wessen Seite steht. Einmal überfielen uns Moskowiter. Hajdamowicz musste mit ihnen um ein Lösegeld verhandeln, dass sie uns verschonten. Ein anderes Mal wehrten wir einen Angriff marodierender Soldaten ab. Der junge Ryczywolski griff zur Waffe und schoss einige von ihnen nieder, was ihm als große Heldentat angerechnet wurde.

      In jedem Ankömmling erhoffte ich, einen königlichen Gesandten zu sehen, damit Seine Majestät mich endlich zu sich riefe, doch nichts dergleichen geschah. Es war Krieg, der König folgte tapfer seinen Truppen, und seinen Medicus aus der Fremde hatte er gewiss schon vergessen. Ich verlor mich in Phantasien, dass ich mich auch ohne Ordre des Königs auf den Weg machen würde, doch was sollten mir derlei Hirngespinste, wenn ich nicht einmal imstande war, ein Pferd zu besteigen. In trübseliges Grübeln versunken, saß ich auf meiner Bank und sah, wie sich mit jedem Tag eine größere Schar um Ośródka versammelte – die jungen Dienstmädchen des Gutshauses, die Bauernkinder, manchmal auch der junge Herr und die jungen Fräulein, alle hörten ihrem Reden zu.

      »Was sind das für Zusammenkünfte? Wovon wird da gesprochen?«, fragte ich Ryczywolski, der anfangs en passant ein wenig zugehört hatte, bis er sich schließlich mit in die Runde setzte. Später erzählte er mir alles – abends, wenn ich mich zu Bett begab und er mir assistierte, mit seinen zierlichen Händen die stinkende Salbe der Flüsterin auf meine heilenden Wunden strich, welch selbiges Medikament sich im Übrigen als äußerst wirksam erwies.

      »Tief im Wald, weit hinter den Sümpfen, so erzählt sie, liegt ein Land, in dem der Mond mit derselben Helligkeit scheint wie die Sonne, die dort weniger leuchtend ist als bei uns.«

      Seine Finger glitten über meine ausgelaugte Haut, massierten meinen Schenkel, damit das Blut leichter durch die Adern flösse.

      »In diesem Land leben die Menschen auf den Bäumen und schlafen in Höhlen in den Stämmen. Während der Mondtage klettern sie bis hoch in die Wipfel und setzen ihre nackten Körper dem Mondlicht aus, wovon sie eine grüne Färbung annehmen. Diesem Licht ist es zu verdanken, dass sie so wenig essen müssen. Es genügen ihnen die Beeren des Waldes, Pilze und Nüsse. Und da man dort keine Äcker bebauen und keine Behausungen errichten muss, ist ihnen alle Tätigkeit Vergnügen. Sie kennen weder Herrscher noch Herren, es gibt weder Bauern noch Priester. Gilt es etwas zu tun, versammeln sie sich auf einem Baum und beraten, um dann zu handeln, wie sie beschlossen haben. Ist jemand nicht einverstanden mit einer Entscheidung, lassen sie ihn in Frieden gehen, bedrängen ihn nicht; er wird ohnehin zurückkommen. Haben zwei aneinander Gefallen gefunden, bleiben sie eine Weile zusammen. Kühlen die Gefühle des einen ab, geht er zu jemand anderem. So kommen die Kinder auf die Welt. Dem Kind wiederum sind alle die Eltern, und alle sorgen gerne für jedes Kind. Manchmal, wenn sie auf den allerhöchsten Baum klettern, ahnen sie in weiter Ferne unsere Welt, sehen den Rauch der verheerten Dörfer, riechen den Brandgeruch verkohlter Leichen. Dann huschen sie rasch unter das Laubdach zurück, sie wollen sich nicht die Augen besudeln mit solchen Bildern, nicht die Nase verderben mit solchen Gerüchen. Die grelle Erscheinung unserer Welt ist ihnen zuwider, sie stößt