Die grünen Kinder. Ольга Токарчук

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Название Die grünen Kinder
Автор произведения Ольга Токарчук
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783311701675



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sie, spuckten es aus. Ergriff sie ein Schrecken, warfen sie sich zu Boden, krochen auf allen vieren, versuchten zu beißen. Wurden sie gerügt, kauerten sie sich zusammen, erstarrten für eine längere Weile. Untereinander verständigten sie sich mit rauen Lauten. Und wann immer die Sonne sich zeigte, warfen sie ihre Kleider von sich, stellten sich in die lichte Wärme.

      Die Kinder, so dachte sich Ryczywolski, könnten mir Kurzweil und Beschäftigung bieten. Als Gelehrter wollte ich mich ihnen doch sicher widmen, sie untersuchen und beschreiben, so fände ich Ablenkung von den Gedanken an mein Bein.

      Mir war, als empfänden die beiden wunderlichen Wesen so etwas wie Reue, wenn sie die letzten Spuren des Bisses an meiner Hand sahen, mein Bein in den hölzernen Schienen. Mit der Zeit fasste das Mädchen Zutrauen, duldete es, dass ich sie näher untersuchte.

      Wir saßen in der Sonne, an der warmen Bretterwand des Nebenhauses. Die Natur lebte auf, der allgegenwärtige Geruch von sumpfiger Feuchte ließ nach. Sanft drehte ich das Gesicht des Mädchens zum Licht, nahm ein paar Strähnen des Filzhaars in die Hand. Sie schienen von Wärme durchdrungen, wie aus Wolle gedreht. Ich roch an dem Haar – ein Duft, der an Moos erinnerte, und es sah aus, als wäre die Strähne von Flechtenfasern durchzogen. Aus der Nähe erkannte man, dass die Haut des Mädchens von unzähligen dunkelgrünen Tupfen bedeckt war – ich hatte sie zuvor für Schmutz gehalten.

      Sollte das Mädchen wahrhaftig etwas von einer Pflanze haben? Ryczywolski und ich vermuteten, dass sie sich deshalb ihrer Kleider entledigte und der Sonne aussetzte, weil sie deren Licht benötigte, das sie als Nahrung durch die Haut aufnahm. So musste sie nicht mehr viel essen, es genügten ihr ein paar Krumen Brot. Im Übrigen hieß sie im Gutshaus bereits Ośródka – ein wohlklingender Name, den auszusprechen mir einige Mühe bereitete. Das Wort ośródka bezeichnet das Innere des Brotes, ebenso einen Menschen, der nur das Innere aus einer Scheibe isst und die Rinde übrig lässt.

      Ryczywolski, der immer größere Begeisterung für die grünen Kinder entwickelte, erzählte mir, er habe das Mädchen singen hören. Dies habe zwar, wie aus seinen weiteren Worten hervorging, eher an ein Schnurren erinnert, doch durfte es als Zeichen gelten, dass die beiden voll entwickelte Kehlen besaßen; dass sie nicht sprechen konnten, musste seine eigenen Gründe haben. Auch fand ich ihren Körperbau in nichts verschieden von dem anderer Kinder.

      »Haben wir womöglich zwei polnische Elfen gefangen?«, scherzte ich einmal, worauf der junge Ryczywolski schnaubte, ich nähme ihn wohl für einen Wilden, an solche Märchen glaube er nicht.

      Die Hausbewohner hatten verschiedene Ansichten, wie mit der plica polonica zu verfahren sei. Und diese Exemplare waren auch noch grün! Weitverbreitet war die Auffassung, ein Weichselzopf künde von einer inneren Krankheit, die von den verfilzten Haaren nach draußen gezogen werde. Schneide man ihn ab, kehre die Krankheit in den Körper zurück und töte den Menschen. Andere wiederum – so auch der Kämmerer Hajdamowicz, der sich für einen aufgeklärten Kopf hielt – waren der Ansicht, dass der Weichselzopf unbedingt abgeschnitten gehöre, sei er doch eine Brutstätte für Läuse und alles mögliche andere Ungeziefer.

      Der Kämmerer ließ eine Schere bringen, wie sie für die Schafschur verwendet wird, damit die Kinder befreit würden von ihren Zotteln. Der Junge versteckte sich in heller Angst hinter seiner Schwester (ich wollte annehmen, dass das Mädchen seine Schwester war), sie aber gab sich mutig, ja geradezu kühn. Sie trat nach vorne, starrte den Kämmerer an mit einem harten Blick, den sie nicht abwandte, ehe er die Augen senkte. Dabei entrang sich ihrer Kehle ein Knurren wie von einem wilden Tier, und gleich Lefzen zogen sich die Lippen auseinander, dass die Zähne sichtbar wurden. In ihrem Blick lag etwas, das unvereinbar war mit uns, als wüsste sie nichts von unserer Ordnung, unseren Regeln, sie schaute auf uns, wie Tiere es tun – fast als sähe sie durch uns hindurch. Zum anderen war in ihrem Auftreten eine große Selbstsicherheit zu spüren, eine unerwartete Reife, und einen Atemzug lang sah ich kein Kind dort stehen, sondern eine zwergenhafte Alte. Uns alle überlief ein Schauder, und der Kämmerer verfügte, dass die Weichselzöpfe nicht abgeschnitten würden.

      Bald nach der Taufe in der Holzkirche, die an ein Hühnerhaus denken ließ, geschah es, dass der Junge des Nachts erkrankte und zum großen Entsetzen aller jäh verstarb. Die Dienerschaft nahm es als Zeichen seiner teuflischen Natur, denn wen, wenn nicht den Leibhaftigen, vermochte das Weihwasser zu töten? Dass es nicht sogleich geschehen war? Nun, das Böse hatte noch eine Weile gerungen … Summa summarum, höhere Mächte waren hier im Spiel. Daran bestand kein Zweifel.

      An ebenjenem Tag begann der Sumpf in seltsamen Klängen zu sprechen. Waren es Vögel, waren es Frösche – ein wunderlicher Trauergesang ertönte. Der kleine Leib des Kindes wurde gewaschen, angekleidet und auf die Bahre gebettet. Ringsum entzündete die Dienerschaft Totenkerzen. Bei diesen Verrichtungen durfte ich, in meiner Rolle als Medicus, den Körper noch einmal untersuchen. Das Herz schnürte sich mir zusammen beim Anblick des armen Würmchens. Erst jetzt, als ich den Kleinen so nackt daliegen sah, erblickte ich das Kind und nicht das Kuriosum, und ich dachte mir, er müsste, wie jedes Lebewesen, Mutter und Vater haben. Wo sie jetzt wohl waren? Ob sie Sehnsucht hatten nach dem Kleinen? Sich Sorgen machten?

      Nachdem ich diese Affekte, die einem Gelehrten der Heilkunst nicht gut zu Gesichte standen, wieder im Zaum halten konnte, befand ich nach eingehender Untersuchung, dass die verfrühten Bäder im kalten Bach den Tod herbeigeführt hätten. Auch stellte ich fest, dass außer der Färbung der Haut nichts Außergewöhnliches an dem Jungen war. Diese Färbung wiederum schrieb ich dem langen Aufenthalt im Walde zu, inmitten der Kräfte der Natur. Offensichtlich hatte sich die Haut an die Umgebung angepasst, so wie die Flügel mancher Vögel der Baumrinde ähnlich werden und die Heupferdchen die Tönung des Grases aufweisen. Die Natur ist reich an solchen Entsprechungen. Auch waltet in ihr der Grundsatz, dass es gegen jedes Leiden ein natürliches Remedium gibt. Davon schrieb bereits der Meister, der mir ein Vorbild ist – der große Paracelsus. Nun sagte ich dasselbe zu Ryczywolski.

      In der ersten Nacht nach dem Tode des Jungen verschwand der Leichnam. Den Frauen, die an seiner Bahre die Wacht gehalten hatten, war der Weihrauch zu Kopfe gestiegen, um Mitternacht hatten sie sich zu Bett begeben, und als sie sich im ersten Licht wieder erhoben, war von dem Leichnam keine Spur mehr. Wir wurden geweckt, im ganzen Gutshaus zündete man sämtliche Lichter an, ein Grauen griff um sich, befiel alle Hausbewohner. Sogleich ging unter der Dienerschaft um, das grüne Teufelchen habe, mit magischen Kräften im Bunde, den eigenen Tod nur vorgetäuscht, um dann, als niemand mehr bei der Bahre gewesen, ins Leben zurückzukehren und flugs zu den Seinen in den Wald zu laufen. Nun fehlte nur noch, dass jemand hinzugab, das Teufelchen wolle sich womöglich rächen für die Gefangenschaft – und man verriegelte zur Nacht jede Tür.

      Große Unruhe machte sich breit, als hätten wir einen Überfall der Tataren zu gewärtigen. Ośródka sperrten wir besonders sorgsam im Nebenhaus ein. Sie wirkte seltsam ungerührt; schmutzig war sie, ihre Kleidung zerrissen, was einen gewissen Verdacht auf sie warf.

      Zusammen mit dem jungen Ryczywolski suchte ich nach Spuren. In der Stube waren nur einige Striemen auf den Dielen zu sehen, als wäre hier ein Körper geschleift worden, draußen wiederum hatte der allgemeine Aufruhr alle Abdrücke verwischt, alles war zertreten, nichts, was hätte Aufschluss geben können, ließ sich mehr erkennen. Das Begräbnis wurde abgesagt, man räumte die Bahre beiseite, verstaute die Totenkerzen in einem Kuffer, wo sie die nächste Gelegenheit erwarten sollten. Wenn sie nur so bald nicht käme! Einige Tage lang lebten wir wie in einem Zustand der Belagerung, doch nicht der Türken oder Moskowiter wegen packte uns die Angst – diese Furcht war von der seltsamsten Art, von laubgrüner Tönung, durchzogen vom Faulgeruch des Schlamms, den algigen Strängen der Wasserpflanzen. Eine klebrige Furcht, jenseits aller Worte, die uns die Gedanken verwirrte und sie in die wuchernden Farnfelder trieb, in die glucksenden, bodenlosen Sümpfe. Die Insekten schienen uns zu belauern, geheimnisvolle Laute aus dem Dickicht nahmen wir für Rufe und Klagegetön. Herrschaft wie Dienerschaft versammelten sich in der großen Stube, aßen ohne rechten Appetit ein bescheidenes Abendbrot, tranken Okowita, doch nicht, um die Laune zu heben, sondern aus Sorge und Furcht.

      Mit immer größerer Macht drang der Frühling aus den Wäldern, breitete sich über die Sümpfe aus, dass bald alles von Blumen übersät war, die auf dicken Stängeln