Leise rieselt der Tod. Uli Aechtner

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Название Leise rieselt der Tod
Автор произведения Uli Aechtner
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783960416760



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räusperte sich. »Apropos Besuch –«

      »Du wolltest mir noch etwas über deine Eltern sagen«, erinnerte sie ihn fast zeitgleich.

      »Genau«, meinte Tom trocken. »Sie kommen uns nämlich besuchen.«

      Jenny sagte erst mal nichts dazu.

      »Sie wollen mein erstes Weihnachten auf dem Lande gern zusammen mit mir erleben«, fuhr er etwas zögerlich fort.

      Jenny sagte immer noch nichts.

      »Und mit Anne. Sie ist doch frisch geschieden, und mein Vater meint, ein einsames Weihnachten täte ihr nicht gut.«

      »Kommt sonst noch wer?«, platzte Jennifer heraus. In ihrer Frage schwangen Ernüchterung und eine Prise Zynismus mit, doch entweder schien Tom das nicht zu bemerken, oder er ging bewusst darüber hinweg.

      »Meine Schwester hat die Kinder dabei«, antwortete er. »Leonie ist inzwischen in der Pubertät und manchmal ganz schön schwierig, aber an Weihnachten sei sie in einer intakten Familie am besten aufgehoben, findet Anne. Und Finn. Er ist zehn und glaubt längst nicht mehr an den Weihnachtsmann. Aber das Credo meiner Mutter lautet immer noch: ›Ohne Kinder wie Finn, die an den Weihnachtsmann glauben, ist Weihnachten ein verlorenes Fest.‹«

      »Und jetzt?«, fragte Jenny tonlos.

      Tom fuhr sich in einer Geste der Ratlosigkeit über das kurze Haar. »Jetzt weiß ich nicht, wie ich das alles schaffen soll. Die Praxis, meine Patienten … Du siehst ja selbst, wie unfertig es hier noch ist. Platz genug gibt es, aber alles andere …«

      Sie spürte Groll in sich aufsteigen, während sie ihre perfekten Weihnachten wie Schnee in der Mittagssonne dahinschmelzen sah. Dann fing sie Toms treuherzigen Blick auf, und ihr Ärger ebbte ab. Unmöglich konnte sie von ihm verlangen, seine Eltern abzuweisen, die gerade erst den Kauf dieses Anwesens mit ihrer Bürgschaft ermöglicht hatten. Sie stellte sich Toms Nichte und seinen Neffen inmitten einer Schar Kinder vor, die noch an den Weihnachtsmann glaubten und mit leuchtenden Augen Geschenke auspackten. Und musste lachen.

      »Das ist doch alles kein Ding. Ich helfe dir einfach, gemeinsam wuppen wir das ganz locker.«

      »Meinst du wirklich?« In Toms Miene zeichneten sich Erleichterung und Dankbarkeit ab.

      »Aber sicher. Ist doch deine Familie. Zeig doch mal die Zimmer, in denen du sie unterbringen willst. Hast du denn überhaupt genug Betten?«

      »Ich habe zwei Reisebetten und ein paar Matratzen. Aber wo sollen wir feiern? Tisch und Stühle gibt es bisher nur in der Küche.«

      »Dann feiern wir eben in der Küche. Du wirst sehen, das wird saugemütlich. Wann werden denn alle anreisen?«

      »Leonie würde am liebsten früher kommen, denn am Montag beginnen die Ferien. Aber meine Eltern und Anne haben einen Tag vor Heiligabend im Blick.«

      »Also haben wir noch reichlich Zeit. Kein Grund zur Aufregung.«

      »Es gibt da noch ein kleines Problem.« Tom schaute verlegen auf seine Hände, die sich ineinander verkrampft hatten. »Das schönste Weihnachtsgeschenk für meinen Vater ist ein Christstollen nach unserem Familienrezept. Den hat meine Mutter früher gebacken, bis es ihr zu viel wurde und meine Schwester diese Tradition übernahm. Aber wegen ihrer Scheidung und der vielen Anwaltstermine ist sie dieses Jahr nicht dazu gekommen.«

      »Und?« Ganz kurz bereute Jenny ihre spontane Hilfsbereitschaft. Tom konnte manchmal wirklich kompliziert sein.

      »Meine Großmutter hat lange mit dem Rezept experimentiert«, holte er aus. »Mal mehr Rosinen, mal sehr viel mehr Mandeln. Mal weniger Zitronat. Das ging so lange, bis der Stollen jedem einzelnen Familienmitglied schmeckte. Und jedes Jahr hat sie die Veränderungen des Rezepts minutiös notiert.«

      »Magst du mir das Rezept geben?«, versuchte Jenny die Geschichte abzukürzen. »Die minutiös notierte letzte Version? Denn wenn ich das richtig verstehe, fällt uns dieses Jahr die Aufgabe zu, den Stollen zu backen.« Wäre doch gelacht, wenn sie so einen blöden Stollen nicht ebenso gut hinkriegte.

      »Aber ein Christstollen muss ruhen«, wandte Tom ein, »besonders unser Familienstollen. Mindestens drei Wochen, wenn nicht vier, und die fehlen uns jetzt.«

      Sie blies die Wangen auf. »Wenn uns weiter nichts fehlt als ein bisschen Zeit, sollten wir zufrieden sein. Ich kann uns ja einen Quarkstollen backen. Der geht einfach und muss nicht durchziehen.«

      »Nicht doch!« Tom sah sie erschrocken an. »Dann könnten wir genauso gut irgendeinen Stollen kaufen. Einen Dresdener zum Beispiel. Der gilt ja als Klassiker. Oder einen rheinischen Mandelstollen, der ist mit gerösteten Mandelblättern umhüllt. Wusstest du, dass es auch Weihnachtsstollen mit einer Marzipanrolle in der Mitte gibt? Wenn du den aufschneidest, lacht dich aus jeder Scheibe Stollen ein runder Klecks pures Marzipan an.«

      »Interessant.« In Jennys Stimme hatte sich Spott geschlichen. »Du warst nicht zufällig in deinem ersten Leben ein Stollenverkoster?«

      »Nein, nein.« Toms Miene blieb ernst. »Meine Kenntnisse rühren daher, dass wir in der Familie all diese Stollen durchprobiert haben.«

      »Und? Wie lautet das Testergebnis?«

      Tom überging ihr provozierendes Grinsen. »Es geht nichts über unseren Familienstollen.«

      Jetzt reichte es ihr. »Gib mir einfach das Rezept«, verlangte sie bestimmt. »Mir fällt schon eine Lösung ein.«

      Er blickte einen Moment misstrauisch drein, dann gab er nach. »Okay, ich drucke es dir nachher im Büro aus.«

      »Prima, mach das. Ich kümmere mich gleich morgen um den Stollen. Versprochen.«

      Sein Handy läutete.

      Er nahm das Gespräch an und redete eine Weile beruhigend auf den Anrufer ein. Dann verschwand das Telefon wieder in seiner Hemdtasche, und er sah Jennifer an. »Es gab einen Unfall auf einem Bauernhof in der Nähe. Ich muss rasch dorthin.«

      »Was ist denn passiert?«

      »Der Bauer hat sich beim Tannenbaumfällen ins Bein gehackt. Womöglich muss ich ihn ins Krankenhaus bringen lassen, das kann etwas dauern. Wenn du Hunger hast: Im Kühlschrank findest du Butter, Blutwurst und Bier. Frisches Landbrot ist im Brotkasten.«

      »Danke. Vor dem Abendbrot wollte ich eigentlich noch eine Runde joggen.«

      »Kein Problem, ein Haustürschlüssel hängt in der Diele am Schlüsselbrett. Nimm ihn einfach für die nächsten Tage an dich«, rief er ihr im Gehen aus dem Treppenhaus zu.

      Sie eilte im Salon ans Fenster und sah gerade noch, wie er die Arzttasche ins Auto schob, einstieg und losfuhr.

      Draußen schwand schon das Tageslicht, und sie begriff, dass sie sich mit dem Joggen beeilen musste. Die Vorstellung, in der Dunkelheit durch eine fremde und verlassene Gegend zu irren, behagte ihr wenig.

      Irgendwo im Haus knackte es. Holz, das sich in der Wärme ausdehnt, dachte Jennifer. Dielen oder ein alter Schrank. Ihr Blick fiel auf den Sekretär, der einsam an der Wand stand. Tom hatte ein halbes Dutzend kleine Schaukästen mit Schmetterlingen darauf abgestellt. Sie erkannte einen Feuerfalter, dessen Färbung ins Blutrote reichte, einen Kohlweißling mit kaum wahrnehmbarer, zarter Zeichnung und einen blassgelben Zitronenfalter. Im Holzrahmen zwischen zwei Glasscheiben gepresst, konnten sie sich länger als hundert Jahre halten, ohne zu verwesen.

      In der Oberstufe war das Sammeln von Faltern Toms Hobby gewesen, einige Exemplare hatte er sogar selbst präpariert. Man brauchte dazu ein Tötungsglas, aus einem Marmeladenglas mit Schraubverschluss war es rasch gebaut. Hinein kam ein Wattebausch, darüber eine Schicht Gips. Noch bevor sie ganz durchgetrocknet war, bohrte man in die Gipsschicht ein winziges Loch, durch das man später etwas Zyankali in die Watte geben konnte. Zum Sterben brauchten die Flügeltiere nicht viel von den aufsteigenden Gasen, und die Gipsschicht sorgte für die richtige Dosierung. Außerdem nahm sie Feuchtigkeit auf, was verhinderte, dass die zarten Schmetterlingsflügel zusammenklebten. Das Präparieren der Falter erforderte