13 Wochen. Harry Voß

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Название 13 Wochen
Автор произведения Harry Voß
Жанр Книги для детей: прочее
Серия
Издательство Книги для детей: прочее
Год выпуска 0
isbn 9783955683092



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die Tür noch mehr und spähte in den dunklen Flur hinaus. Niemand da. Vorsichtig tastete er sich bis zur Haustür vor und öffnete sie. Er brauchte eine Weile, um draußen die umliegenden Straßen zu erkennen. Doch dann sah er in einiger Entfernung eine Gestalt mit einem Rucksack auf dem Rücken die Straße entlanggehen. Sein Doppelgänger. Das konnte er selbst in dieser Dunkelheit erkennen. Seine Finger umschlossen den Griff der Schere fester, als er sich einen Ruck gab und so schnell er konnte die Straße entlangrannte. Kurz bevor die dunkle Gestalt um die nächste Häuserecke bog, drehte sie sich kurz um und erkannte Simon. Mit übermenschlicher Geschwindigkeit raste sie los, als würde sie schon die Stiche der Schere spüren. Der Hass beschleunigte Simon, allerdings schien die Verfolgungsangst auch den anderen anzutreiben. Und so blieb der Abstand schon wieder derselbe, obwohl der andere einen Rucksack trug. Der Kerl lief wieder zur Stadt hinaus in Richtung Wald. Richtung Mühle. Als Simon das klar wurde, blieb er stehen und musste erst mal verschnaufen. Jetzt, mitten in der Nacht würde er garantiert nicht durch diesen unheimlichen Wald gehen. Aber morgen, dachte Simon. Morgen bist du dran!

      Am nächsten Tag durchsuchte Simon zuallererst die Abstellkammer, ob irgendetwas fehlte. Da er sich in dem Gerümpel seiner Eltern nicht auskannte, konnte er das nicht feststellen. Er fragte seine Mutter, ob sie was Wichtiges aus der Abstellkammer oder sonst irgendwo im Haus vermisse. »Ein Glas Gurken, ein eingeschweißter Kuchen und ein Glas Fleischwürstchen«, stellte sie mit Blick auf den Vorratsschrank fest.

      »Na toll«, stöhnte Simon. »Ich meinte eigentlich mehr, ob wirkliche Wertgegenstände fehlen. Gold, Schmuck, Handys oder so was.«

      Die Mutter schaute sich in mehreren Zimmern um, aber das Einzige, was sie sonst noch vermisste, waren zwei Päckchen Kekse aus der Küche. »Hast du die weggenommen, Simon?«

      »Nein!« Und sicher würde hier kein Einbrecher ins Haus kommen, um Kekse und Gurken zu klauen. Das war ja lächerlich!

      Am Nachmittag fand Simon im Gartenhäuschen ein abgebrochenes Bein aus Metall von einem Gartenstuhl. Damit bewaffnet ging er geradewegs zur Stadt hinaus in den geheimnisvollen Wald. Per Handy versuchte er noch, Jan oder einen der anderen Kumpels zum Mitkommen zu überreden. Aber keiner hatte Lust. Und den Freunden was von seinem rätselhaften Doppelgänger erzählen wollte er auch nicht. Das Ganze wurde doch immer unglaubwürdiger. Außerdem hatte er Angst, die anderen könnten ihn für verrückt halten. Sobald er den ganzen Fall aufgeklärt hatte, dann könnte er nachträglich all die verdrehten Ereignisse erzählen. Oder ein Buch darüber schreiben. Aber jetzt musste er erst mal heil aus der Nummer rauskommen.

      Der Weg durch den Wald zog sich ziemlich lang. Wieder schaute er zu den riesigen Bäumen nach oben. Durch den Wind beugten sie sich leicht vor und zurück, als wollten sie ihm irgendwas mitteilen. Ihn warnen. Je weiter er allerdings in den Wald hinein gelangte, umso weniger Geräusche kamen von den Bäumen. Als hielte der Wald den Atem an. Gleich passiert hier etwas, dachte Simon und verlangsamte automatisch sein Tempo. Immer wieder schaute er sich nach allen Seiten um, während er weiterging. Dann endlich erreichte er die Weggabelung, an der er mit seinen Eltern links abgebogen war. Jetzt lief er vorsichtig geradeaus weiter, an den letzten Bäumen vorbei bis zu der Waldlichtung. Nach ein paar Schritten über die Wiese blieb er an einem alten, halb verfallenen Zaun stehen, der ein großes ungemähtes Wiesengelände von dem vorderen Wiesenstück abgrenzte. Ein morscher Torflügel hing müde in den Angeln eines ebenso alten Torpfostens. Der andere Torflügel lag auf dem Boden und war von Moos und kleinem Gestrüpp schon halb überwuchert. Simon atmete einmal tief ein und wieder aus, dann überwand er sein flaues Gefühl im Bauch und ging los. Langsam und sich immer noch nach allen Seiten umschauend durchschritt er ­das Tor und betrat das Gelände. Still und unheimlich lag das alte, vergammelte Häuschen am Ende der Wiese. Die Wände bestanden an manchen Stellen aus Fachwerkbalken, in deren Zwischenräumen Zie­gel­steine gemauert waren. Teilweise waren die Wände aber auch nur aus Holz gezimmert. Zumindest sah das für Simon so aus. Das Dach war von der Witterung völlig aus der Form geraten. Schief und krumm wand sich der Dachgiebel von einem Ende des Gebäudes bis zum anderen. Erstaunlich große Teile der Dachdeckung waren noch in Ordnung. An etlichen Stellen fehlten aber bereits Dachziegel, sodass sowohl Regen und Wind als auch Vögel, Ratten und andere Tiere eindringen, ihre Nester bauen und damit den Verfall der Mühle noch vorantreiben konnten. Hinter dem Haus plätscherte ein kleiner Bach. Dort faulte ein morsches Mühlrad im Wasser vor sich hin. Insgesamt lag die Mühle da wie ein alter Drache, der es sich am Bach gemütlich gemacht und damit beschlossen hatte, dort seinen Lebensabend zu verbringen. Und trotzdem strahlte das Ganze eine merkwürdige Atmosphäre, ja fast einen Zauber aus. Oder bildete Simon sich das nur ein? Die kleine Tür an der schmalen Vorderseite und die beiden Fenster rechts und links darüber bildeten zusammen so etwas wie ein Gesicht: zwei Augen, eine Nase. Fehlte nur noch der Mund. Das Maul. Simon schüttelte den Kopf. Jetzt bloß nicht kindisch werden! Einen Augenblick musste er tief durchatmen, bevor er die alte Holztür aufdrückte. Sie quietschte, als würde man einer alten Hexe auf den Fuß treten.

      »Hallo?« Simon musste sich leicht ducken, um durch die Tür nach innen zu gelangen. »Hallo, ist da jemand?«

      Der Raum hinter der Tür war groß, aber mit niedriger Decke. Simon konnte gerade eben aufrecht stehen. Es stank nach altem, verfaultem Holz, vermoderten Tierleichen und Katzenpisse. Ein bisschen auch nach Kerzenqualm. Der größte Teil des Raumes wurde von einem riesigen Zahnrad aus Holz eingenommen, das durch ein dickes Rundholz durch die hintere Außenwand hindurch mit dem alten Mühlrad draußen im Bach verbunden war. Riesige Stützpfeiler und Querbalken versuchten mit letzter Kraft, die morsche Zimmerdecke oben zu halten. An den Wänden lehnten alte Regale, von denen zum Teil nur noch ein oder zwei Regalböden übrig geblieben waren. An einem Tisch standen zwei Stühle. Einige Kerzen auf dem Tisch. Mehrere Kisten und Truhen in dem Raum. Werkzeuge, Hammer, Sägen und Geräte, die Simon noch nie gesehen hatte. Obwohl alles alt und morsch war, wirkte es doch irgendwie aufgeräumt. Als würde hier doch jemand wohnen.

      »Hallo?« Die Stille in diesem Raum war beängstigend. Simon versuchte weiterhin, alle Ecken des Raumes gleichzeitig im Blick zu behalten. Dann entdeckte er eine Matratze auf dem Boden. Sie war mit einem modernen Spannbettlaken bezogen. Darauf lag ein Schlafsack, daneben ein Kissen. Der geheimnisvolle Eindringling, der gestern in seinem Haus gewesen war, hatte hier wohl sein Lager aufgeschlagen. Der Rucksack, den er in der Nacht noch getragen hatte, lag aber nicht dabei. Trotzdem. Nun war Simon dem Geheimnis schon sehr, sehr nahe gekommen. Wenn sein fremdes Gegenüber jetzt auch hier in der Mühle war, dann saß es in der Falle. »Komm raus!«, rief Simon und drehte sich dabei in verschiedene Richtungen. »Ich weiß, dass du da bist! Verstecken ist zwecklos!«

      Im hinteren Bereich der Mühle befand sich eine Treppe nach oben. Jede einzelne der Stufen sah aus, als würde sie bei der nächsten Berührung mit einem Menschen endgültig zusammenbrechen. »Bist du da oben?«

      Vorsichtig setzte er einen Fuß auf die unterste Stufe. Es knarrte bedrohlich. »Ich komm jetzt hoch! Und ich hab eine Waffe in der Hand! Du hast jetzt noch eine letzte Chance, dich zu ergeben!«

      Die nächste Stufe. Knarz! Simon ging weiter. Bei jedem Schritt ächzte die Treppe, als wollte sie ihn warnen, bloß nicht weiterzugehen, oder er würde von den Geistern dieses Holzgebälks verschlungen. Je höher er kam, umso mehr hatte er das Bedürfnis, sich an dem schmalen Treppengeländer festzuhalten. Aber das sah so morsch aus, dass er sich noch nicht einmal traute es anzufassen. Um nicht seitlich von der schmalen Treppe zu fallen, stützte er sich mit den Händen auf den Stufen vor ihm ab und tastete sich so nach oben. Wenn ihn die anderen in seiner Klasse so gesehen hätten, hätten sie sich totgelacht. Aber hier sah ihn niemand. Und jetzt musste er dem Geheimnis auf den Grund gehen.

      »Wo bist du? Komm raus!«

      Im oberen Stockwerk war es noch enger. Im Grunde konnte er nur hier, am Ende der Treppe, direkt unter dem Dachgiebel, aufrecht stehen. Rechts und links davon fiel die Dachschräge steil ab. Mehrere riesige Zahnräder griffen hier ineinander. Dicke Lederbänder verbanden quer durch den Raum weitere Holzräder, die ihrerseits wiederum Balken und Zahnräder bewegen sollten. Große Holztische und Holzwannen, die dazwischen herumstanden, machten es ihm fast unmöglich, sich überhaupt auf dem Dachboden fortzubewegen. Aber schon der erste Schritt