Die Enkel der Tante Jolesch. Georg Markus

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Название Die Enkel der Tante Jolesch
Автор произведения Georg Markus
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783902998514



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zum Apparat. Es war knapp nach fünf Uhr früh!

      Das Burgtheater musste brennen, anders war eine Störung zu dieser Stunde nicht erklärbar.

      Doch der Grund des Anrufes war ein ganz anderer. »Hier spricht Dr. Stern«, verkündete die verdächtig munter klingende Stimme am anderen Ende der Leitung. Haeusserman ließ sich in einen nahen Fauteuil fallen und lauschte im Halbschlaf den brillant gesetzten Worten des Strafverteidigers.

      »Mein lieber Hofrat Haeusserman«, hob der alte Stern an, »ich lasse gerade mein Leben Revue passieren. Und da fällt mir ein, dass wir uns jetzt schon seit so vielen Jahren kennen. Da hab ich mir gedacht, es wär doch nett, wir würden uns du sagen.«

      Haeusserman war gerührt, fühlte sich geehrt – nur eines konnte er sich beim besten Willen nicht erklären: Warum, um alles in der Welt, musste die Verbrüderung ausgerechnet am Telefon erfolgen.

      Und vor allem: zu dieser Stunde!

      Wie auch immer, sie riefen einander »Servus, Ernstl« und »Servus, Michael« zu, und als Haeusserman endlich den Hörer auflegen wollte, um die gestörte Nachtruhe wieder aufnehmen zu können, fügte der alte Stern schnell an:

      »Ach ja, lieber Ernstl! Weil wir grade so nett miteinander plaudern, hätt ich eine Frage an dich: Hast du noch zwei Karten für den ›Jedermann‹ am nächsten Sonntag?«

      Ich lernte Dr. Stern in den siebziger Jahren kennen, als ich eine Zeit lang für den »Kurier« als Gerichtssaalreporter tätig war. Journalisten gegenüber war der alte Stern ausnehmend höflich und entgegenkommend, und natürlich immer darauf bedacht, dass »seine« Prozesse in den Medien den entsprechenden Niederschlag fanden (was dank seiner Prominenz auch meist der Fall war). Aus diesem Grund lud er mich das eine oder andere Mal zum Frühstück in seine Kanzlei ein, die eher einem Kontor aus einem Nestroystück denn einem Büro des 20. Jahrhunderts glich.

      Für die Mitarbeiter der Kanzlei Stern war in jenen Tagen die elektrische Schreibmaschine noch nicht erfunden, und wer die Installierung eines Computers vorgeschlagen hätte, wäre vom Chef für verrückt erklärt worden. Der als geizig bekannte Dr. Stern hechelte ständig von einem Büroraum zum anderen, um darauf zu achten, dass sämtliche Lichter abgedreht würden. Ebenso war er darauf erpicht, Papier zu sparen. »Das Kanzleipapier«, lautete einer seiner unverrückbaren Grundsätze, »schneide ich immer in der Mitte durch, weil unten sowieso nichts steht.«

      Knausrig war er auch, was das Salär seiner Angestellten betraf. Dabei kam ihm entgegen, dass es jungen Juristen zur Ehre gereichte, beim alten Stern als Konzipienten tätig zu sein, wobei tatsächlich viele seiner ehemaligen Mitarbeiter später berühmte Anwälte wurden, wie etwa der beim alten Stern in die »Lehre« gegangene Strafverteidiger Dr. Herbert Eichenseder.

      Dieser war längst ein selbstständiger, überaus erfolgreicher Advokat, als eine Zeitung aus Anlass von Sterns achtzigstem Geburtstag ein Porträt über die Anwaltslegende veröffentlichte. In einem Nebensatz zwar, aber durchaus der Realität entsprechend, erzählte Eichenseder einem Reporter des Blattes, dass ihm sein früherer Chef seit Jahren einen Teil seines letzten Urlaubsgeldes in Höhe von 6783,- Schilling schuldig geblieben sei.

      Nach Erscheinen des Berichts rief Dr. Stern seinen ehemaligen Konzipienten an, um ihm mitzuteilen, dass er die Sache selbstverständlich sofort zu bereinigen wünschte. Die beiden trafen einander im Verteidigerzimmer des Wiener Landesgerichts, in dem Eichenseder endlich den seit Jahren offenen Betrag zu erhalten dachte. Der alte Stern freilich ging auf ihn zu, nahm den bedeutend jüngeren Kollegen an der Hand und sagte:

      »So, jetzt sind wir per du, und damit ist die Sache erledigt.«

      Die für alle Zeiten offen gebliebene Urlaubszahlung änderte nichts daran, dass Stern und Eichenseder etwas später gemeinsam die Verteidigung eines wegen Mordversuchs angeklagten Unterweltlers übernehmen sollten.

      Die Anwälte waren redlich darum bemüht, für ihren Mandanten einen Freispruch wegen Notwehr zu erwirken, hatten mit dieser Taktik aber keinen Erfolg. Nachdem er zu einer zwölfjährigen Haftstrafe verurteilt worden war, begleiteten Stern und Eichenseder ihren sie wüst beschimpfenden Klienten vom Gerichtssaal zu seiner Zelle im Wiener Landesgericht.

      »Zwa Anwält hab i ma g’nommen«, fluchte der Verurteilte. »Und was hat’s bracht’? In Häfen muass i.«

      »Was regen Sie sich auf«, versuchte ihn der alte Stern zu beruhigen. »Sechs Jahre für einen Mordversuch, das ist doch ein gutes Urteil.«

      Worauf der Gefangene einwandte: »Was heißt sechs – zwölf Jahr hab i kriegt!«

      »Ja, aber pro Anwalt!«, erklärte Stern, ehe die Zellentür zwischen ihm und dem Täter ins Schloss fiel.

      Ebenso wie für seine Klienten war Dr. Stern auch in eigener Sache rechtskundig tätig. Wegen einer akut aufgetretenen schweren Darmerkrankung ins Spital eingeliefert, verweigerte er gegen den ausdrücklichen Rat des Ärztekonsiliums die Operation und verlangte statt dessen auf dem Wege einer Diät wiederhergestellt zu werden (was in der Tat gelingen sollte).

      Als ihn Wochen nach seiner Entlassung eine Rechnung des Lainzer Krankenhauses erreichte, lehnte er es ab, diese zu zahlen. Und er begründete das damit, dass

      1.)die Position »Verpflegung« ungerechtfertigt sei, zumal er infolge seines Darmleidens ohnehin nichts essen durfte. Und, dass

      2.)das von ihm belegte Einzelzimmer, was Größe, Ausstattung, Komfort und Widmung betraf, eher als Sterbekammer zu bezeichnen wäre, die freilich ihren Zweck insofern nicht erfüllte, als er immer noch am Leben sei.

      Nach einem ausgedehnten Schriftwechsel gab sich die Gemeinde Wien geschlagen.

      Dr. Stern hatte wieder einmal gewonnen.

      Während eines Frühstücks, zu dem ich in die Kanzlei Stern eingeladen wurde, berichtete mir der Chef des Hauses von einer in seiner Glanzzeit, gleich nach dem Krieg, handelnden Geschichte. Damals verteidigte er im Wiener Landesgericht einen Dachdeckergehilfen, der seinen berufsmäßigen Zugang zu Wohnhäusern für ausgedehnte Diebstouren missbraucht hatte. Nachdem Dr. Stern vor Gericht eine Notlagesituation des Angeklagten zu konstruieren versuchte, die man als mildernden Umstand hätte werten können, fragte der Vorsitzende nach dem Wochenverdienst des Dachdeckers. Worauf dieser eine Summe nannte, die den Richter in Erstaunen setzte: »Na hören Sie, das ist ja mehr als mein Monatsgehalt!«

      »Natürlich, Herr Rat«, argumentierte der Angeklagte, »aber i arbeit ja auch was!«

      Das treffendste Stern-Zitat ist auf seinen Sohn Peter, den sogenannten »jungen Stern«, bezogen, der in jenen Tagen freilich auch schon um die sechzig war, sich aber, wie er selbst bekundete, »diametral vom Vater unterschied«. In Gerichtskreisen munkelte man, mit einem etwas mitleidigen Blick auf den Juniorchef der renommierten Kanzlei, dass »dem alten Stern das Zeugen vor Gericht« meist besser gelungen wäre als im Privatleben.

      Als der nun schon 88 Jahre alt gewordene Michael Stern gefragt wurde, wie lang er denn noch als Anwalt tätig sein würde, antwortete er, sorgenvoll in die Zukunft blickend:

      »Fünf Jahr muss ich noch arbeiten, bis der Bub in Pension gehen kann.«

      Der alte Stern hat dieses Ziel um wenige Monate verfehlt, er lebte (und verteidigte) von da an noch viereinhalb Jahre. Nicht lang genug jedenfalls, um »den Buben in Pension« schicken zu können. Dr. Peter Stern brachte nach dem Tod des Vaters das Kunststück zuwege, die Kanzlei und die vom alten Stern erworbenen Immobilien zu verlieren.

      Als einen weiteren »Dr. Sperber« unserer Zeit – wenn auch in ganz anderen wirtschaftlichen Verhältnissen lebend – könnte man den Wiener Rechtsanwalt Dr. Hans Gürtler bezeichnen, dessen Kanzlei nun schon in dritter Generation besteht. Auch viele seiner Konzipienten wurden später berühmte Anwälte, aber bis dahin hatten sie eine harte Schule durchzumachen. Denn während Gürtler seine gefürchtet langen Plädoyers hielt, harrten sie – im Gerichtssaal neben ihm sitzend – des Augenblicks, da er sie aufforderte: »Herr Kollege, bitte machen Sie weiter!«

      Das konnte jederzeit und ohne jede Vorankündigung passieren. Wer den Umstieg verschlief, lief Gefahr,