Dunkle Träume. Inka Loreen Minden

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Название Dunkle Träume
Автор произведения Inka Loreen Minden
Жанр Языкознание
Серия Wächterschwingen
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783963700408



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sie ihn geöffnet hatte, erkannte Kyrian allerhand Fläschchen und Beutel darin. Während Noir ihm etwas zusammenmischte, blickte er sich unauffällig im Büro um. An einer langen Wand reihte sich ein Aktenschrank an den anderen. Sie waren nicht abgesperrt. Einige Schubladen standen offen und enthielten zahlreiche Ordner. Noir hatte seit der Eröffnung ihrer Detektei vor fast einem Jahr schon sehr viele Kunden gewinnen können. Das Geschäft lief gut, besonders Suchaufträge – verlorene Artefakte, Schätze oder Dinge von rein persönlichem Wert – kamen oft herein. Vincents Goyles besaßen verschiedene Eigenschaften, die Noirs Arbeit erleichterten. Sie beschäftigte die Außenseiter und die hatten ein Dach über dem Kopf und profitierten vom Leben in einer Gemeinschaft.

      Kyrian würde, sobald die Hexe wieder einmal zu ihrer Vorsorgeuntersuchung ging, hier eindringen und sich alle Namen und Adressen einprägen.

      Sie schloss den Schrank und reichte ihm ein braunes Papiertütchen.

      »Danke.« Er schob das Tütchen in eine hintere Hosentasche. Bei der nächsten Gelegenheit würde er es entsorgen.

      »Eine Messerspitze voll in etwas Flüssigkeit gerührt, nach dem Aufstehen getrunken, müsste dir helfen«, sagte sie und setzte sich ihm gegenüber an den Tisch. »Du siehst furchtbar aus. Bist du krank? Mir ist schon öfter aufgefallen, dass du morgens recht zerknautscht aussiehst.«

      Er schüttelte den Kopf. »Das hab ich bereits fast mein ganzes Leben.«

      »Falls es nicht besser wird, lass dich lieber mal untersuchen.«

      Noir drehte einen Bilderrahmen herum, der auf ihrem Schreibtisch stand. Das Foto zeigte sie und eine Frau mit blondem Haar, die fast zwei Köpfe kleiner war als Noir. Ihre Augen leuchteten so blau wie Lapislazuli. Ein weiterer Stich fuhr durch sein Gehirn und er sah Bilder von Personen, die er sich hatte einprägen müssen, weil er sie ausliefern musste. Sie war dabei: Isla. Blondes Haar, blaue Augen, spitzes Kinn – eine elfenhafte Schönheit.

      Verdammt, wäre er doch zu dieser blöden Erstuntersuchung erschienen, zu der Noir all ihre Goyles bat, dann hätte er Isla längst gefasst und hätte mit ihr ins Dunkle Land zurückkehren können.

      Seine Gedanken verschwammen, weil er den Blick nicht von ihr losreißen konnte. Was war nur los mit ihm? Mühsam unterdrückte er ein Zittern. Normalerweise zeigte er keine Regung, wenn ihm eine gesuchte Person unterkam, aber diese Frau war vielleicht seine und Myras Karte in die Freiheit. Jahrelang war er als Sucher durch die Menschenwelt gestreift und hatte es schon als glücklichen Zufall gesehen, dass Noirs Freund Magnus ihn für Vincents Klan aufgespürt hatte, doch nie hätte er geglaubt, hier Isla zu finden. Sein König wollte sie haben, um jeden Preis.

      Noir stellte den Rahmen an seinen Platz zurück. »Das ist meine Freundin Jenna Fairchild. Sie ist Ärztin.«

      »Jenna?« Er schluckte. Da musste ein Irrtum vorliegen, das war Isla. Wenn er sich einen Namen und ein Gesicht einprägte, dann war das unwiderruflich in sein Gehirn eingebrannt. Dafür hatten sie gesorgt. Er war einer ihrer besten Jäger, ein Meisterspion. Er irrte sich nie.

      »Ja, das ist diejenige, zu der du nicht wolltest.« Offen lächelte sie ihn an.

      Kyr hatte sich erfolgreich vor der Einstellungsuntersuchung drücken können. »Ist sie auch eine Hexe?«, fragte er verwirrt, weil er dachte, die Antwort längst zu kennen. Er konnte sich unmöglich täuschen, sein Gedächtnis war zuverlässiger als ein Computer.

      Noir nickte. »Sie arbeitet mit ihrem Vater in seiner Schönheitsklinik.«

      »Sie ist Chirurgin?« Isla war Heilerin …

      »Angehende. Sie assistiert ihrem Dad.«

      Interessant. Vielleicht irrte er sich und diese Ärztin war nicht die Person, für die er sie hielt. Dennoch erschien sie ihm äußerst nützlich. Sie konnte ihm bei einem persönlichen Problem helfen und er käme über sie an weitere Namen von Hexen und Magiern. Vielleicht sollte er ihr einen Besuch abstatten.

      Kapitel 2 – Nicolas Tremante

      Nicolas schlich durch den dunklen Flur des Wohntraktes, die Schwingen dicht an den Körper gepresst. Seine nackten Füße hinterließen kein Geräusch auf dem Teppichboden, nur das raue Leder seiner langen Hose raschelte leise. Nick fühlte, dass der Kerl, den er verfolgte, etwas ausheckte. Bewegungslos verharrte der große Mann im Dunkeln und wartete offensichtlich, bis Noir ihr Büro verließ. Es war spät, sie würde es in dieser Nacht nicht mehr betreten. Seit sie schwanger war, achtete sie auf ausreichend Schlaf.

      Schon ging die Bürotür auf, Noir trat heraus und Licht flammte auf. Nick kniff die Lider zusammen. Als Dämon-Gargoyle-Hybrid sah er in der Finsternis ausgezeichnet. Noir drehte ihnen den Rücken zu und ging in Richtung ihrer Wohnung. Sie hatte ihn beauftragt, ein Auge auf ihren Bruder zu haben. Sie wusste immer noch nicht, ob sie Jamie vertrauen konnte, solange er den Zash in sich nicht beherrschte.

      Zu recht, denn als sie um die Ecke bog, huschte Jamie über den Teppich und steckte etwas, das aussah wie eine Karte, in den Rahmen, bevor die Tür zufiel. Dann blieb er im Flur stehen und lauschte. Noirs Schritte entfernten sich. Nick hörte, wie sie ihre Wohnung betrat. Sofort drückte Jamie die Tür auf und verschwand im Büro. Nick zögerte keine Sekunde und lief lautlos hinter ihm her. Schade, dass er in dieser Etage kein Dämonenportal erzeugen konnte, ansonsten hätte er sich jetzt ins Büro schmuggeln können. Doch Noir hatte vorgesorgt, also musste er Jamie auf konventionelle Art verfolgen, bevor die Tür zufiel. Er durfte nur nicht vergessen, den Kopf einzuziehen. Da er von allen Goyles der größte war, hatte er mit menschlichen Behausungen seine Probleme. Dennoch war er froh, hier zu sein, und dass die Hexe ihm den Job anvertraut hatte. So hatte er wenigstens einen Grund, dem Jungen nahe zu sein. Okay, ein Junge war Jamie nicht mehr, sondern ein Mann von fünfundzwanzig Jahren, mit allem, was dazugehörte. Trotz zwei dicker Narben an einer Wange sah er verdammt gut aus. Er hatte nur einen Makel, einen enormen sogar: Sein Körper war von einem Zash, einem Lenkerdämon, besetzt. Man konnte ihn zwar austreiben, jedoch würde das Jamies Tod bedeuten. Ein Höllenfürst hatte ihm vor vielen Jahren die Seele genommen und seitdem hielt ihn der Zash namens Zorell am Leben. Nick verabscheute diesen Widerling zutiefst.

      Die Hexe vertraute ihm, Nicolas, mehr als ihrem Bruder, obwohl Nick selbst ein halber Dämon, ein jahrhundertealter Inkubus war. Aber er hatte Noir mehr als ein Mal seine Loyalität bewiesen, schon, als er noch gar nicht Vincents Klan angehörte. Nick gefiel es, einer Gemeinschaft anzugehören. Die wenigsten Wesen waren gern allein. Er mochte die Aufgaben, die Noir ihm zuwies, und er mochte London. Falls es ihn ab und zu woandershin zog, konnte er in seiner Freizeit mittels Portalen überallhin reisen. Nur jetzt durfte er nicht an Urlaub denken – den er zu gern mit Jamie verbringen wollte, zumal der Junge dringend auf andere Gedanken gebracht werden musste –, denn der Kleine durchwühlte Noirs Schreibtisch. Porca vacca!

      Nicks langes blondes Haar, das er meist zu Zöpfchen geflochten trug, war auffällig. Jamie sollte ihn nicht schon entdecken, denn Mondlicht drang durch die Panoramascheiben der Dachterrasse. Daher verbarg er sich, so gut er es bei seiner Größe vermochte, zwischen zwei Aktenschränken, die Schwingen um den Körper gelegt, und verfolgte gebannt, was Jamie suchte. Die Daten der Klienten schienen ihn nicht zu interessieren, vielmehr hatte er es auf persönlichere Dinge abgesehen. Er förderte eine Quietscheente zutage, mit der Räuber gern spielte, ein Notizbuch, das er hastig durchblätterte, und ein kleines Fotoalbum. Dann warf er alles zurück in die Schublade.

      »Verdammt«, zischte Jamie, doch es war nicht seine Stimme. Der Zash in ihm – Zorell – hatte sich nach vorn gedrängt. Nick hasste diesen Dämon, das konnte er nicht oft genug betonen.

      Jamie schloss die Schubladen und kickte gegen den Schreibtisch. »Sie muss es in ihrer Wohnung aufbewahren.«

      Schnell trat Nick vor, sodass er den Ausgang blockierte. Da er hier nicht befürchten musste, von Zorell auf dämonische Art angegriffen zu werden, verschränkte er die Arme vor der Brust. »Was muss sie in ihrer Wohnung haben?«

      »Verdammter Schwanzlutscher!« Zorells pechschwarze Augen blitzten, und er wollte sich an Nick vorbeidrängen. »Geh mir aus dem Weg!«

      Schwanzlutscher?