Das Torhaus. Helga Dreher

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Название Das Torhaus
Автор произведения Helga Dreher
Жанр Контркультура
Серия
Издательство Контркультура
Год выпуска 0
isbn 9783749722150



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sieht, aber nicht näher kennt. Moni hatte genickt, fast freundlich, und Alma hatte für einen Moment sogar geglaubt, ein Augenzwinkern in ihre Richtung erkennen zu können, aber da hatte sie sich wohl getäuscht. Von Holger war nichts zu sehen. Der Stehtisch war gut besucht gewesen, mehrere Busfahrer in blauen Hemden und mit Kaffeetassen standen zusammen.

      Sie hatte aufgeschlossen und war dann herumgegangen, um möglichst viele Fenster zu öffnen und den muffigen Geruch hinauszulassen. Dann war sie die Treppe hinaufgestiegen, hatte das schöne halbrunde Fenster geöffnet und sich hinausgelehnt. Dabei war ihre Bluse schmutzig geworden, einer der Fensterflügel aus den Angeln gefallen und unten durch die Zugluft wohl ein Fenster zugeschlagen. Sie hatte Scherben fallen hören – oh nein, jetzt ging das Haus schon bei ihrem ersten Besuch zu Bruch – und war erschrocken nach unten gerannt. Oder wollte nach unten rennen. Sie war auf der Treppe ausgerutscht, hatte sich festhalten wollen, aber das Treppengeländer hatte ein knackendes Geräusch gemacht und war plötzlich nach links weggerutscht. Sie hatte den Halt verloren, einen scharfen Schmerz verspürt – das war es, woran sie sich erinnerte. Hatte sie bei diesem Fall aufgeschrien? Vermutlich ja, das war ihre Art. Bei Schmerzen hatte ihr schon immer kräftiges und lautes Jammern sehr geholfen.

      Als Nächstes erinnerte sie sich an die Sirene. Wie war sie in den Krankenwagen gekommen? Jemand musste den Notarzt gerufen haben. Und wie war der ins Haus gekommen? Sie hatte doch sicher die Haustür hinter sich geschlossen, und die war solide, hatte außen einen Knauf und keine Klinke.

      Du hast eine Gedächtnislücke, Alma. Einen Blackout, wie man sagt. Oder Amnesie? Du hast mit Sicherheit nicht nur einen gebrochenen Arm. Da ist mehr mit dir passiert, was immer der Arzt behauptet – womöglich nicht zu reparieren.

      Alma legte ihren Kopf resigniert tiefer in die Halsstütze und fühlte, wie Tränen kamen, wie sie schluchzen musste, einen Weinkrampf bekam.

      „Aber, aber, das wird doch alles wieder.“ Alma spürte, wie jemand ihre Hand fasste und beruhigend streichelte. Sie schaute vorsichtig auf und sah eine Frau neben ihrem Bett stehen. Sie trug ein graues T-Shirt über einer weiten Hose, stützte sich auf einen Stock und war definitiv keine Schwester. Jetzt erkannte Alma aus dem Augenwinkel, dass neben ihrem Bett ein zweites im Zimmer stand. Dem war ihre Trostfrau offensichtlich hastig entstiegen, denn die Bettdecke war aufgeschlagen und halb heruntergerutscht.

      „Sie haben sicher einen Schock, da muss man weinen, das ist ganz normal. Und dann plötzlich im Krankenhaus, man weiß ja gar nicht, wie einem geschieht. Lassen Sie Ihre Tränen ruhig fließen, lassen Sie alles heraus, dann geht es gleich besser.“

      Alma schluchzte noch einige Male, fühlte sich aber schon nicht mehr so elend wie noch eben. Nach wenigen Augenblicken war sie wieder klar und schaute ihre Bettnachbarin verlegen an.

      Die Frau war älter als sie, „Mittelalter“ pflegte Alma sonst zu denken, über vierzig jedenfalls. Sie war schlank und hatte kurzes dichtes Haar, gut geschnitten, mit blonden Strähnen über dunklen Wurzeln. Aus ihrem sehr gepflegten Gesicht, das ebenmäßige Züge und viele kleine Lachfältchen schön machten, schaute sie mitfühlend auf Alma hinunter. Ihr Lächeln wirkte heiter und fast ansteckend. Alma lächelte zurück, sie fühlte sich erleichtert und getröstet. Wie hatte ihre Bettnachbarin gesagt? Es würde schon alles werden.

      „Wir sind hier in der der Unfallchirurgie, im Zimmer 302. Ich bin Sieglinde Roth, seit zwei Tagen hier, Unterschenkelbruch und ein paar Schrammen, gut verteilt. Autounfall. War ich selber. Zum Glück nur an einem Baum vorbeigeschrammt und auf die Seite gekippt, hab keinen anderen mit hineingezogen. Darüber bin ich heilfroh, das kann ich Ihnen sagen.“

      Alma fühlte ihren Herzschlag stolpern, ein kurzes Stechen in der Brust, der Atem drohte eng zu werden. Keinen anderen mit hineingezogen … Froh … Zum Glück … Ach Mama, kein Glück für dich damals. Für Sekunden wieder dieser tiefe Fall in Trauer und Wut, dann gelang es Alma durchzuatmen und sich zu fassen.

      „Und Ihr Bein? Wird es wieder …?“ Ganz heil, wollte Alma sagen, unterbrach sich aber rechtzeitig. Wer wusste schon, welche medizinische Problemlage hier bestand?

      „Wie ich gerade zu Ihnen gesagt habe – wird schon wieder. Jedenfalls glaube ich fest daran, und der Oberarzt hat mir gute Hoffnung gemacht – Sie wissen, wie ich’s meine“, lachte sie fröhlich, „mehr medizinisch gesehen. Schön, dass Sie schon wieder ein wenig lächeln können.“

      Damit nahm Bettnachbarin Sieglinde Roth eine große Tasse von ihrem Nachtschrank und schwenkte sie ein wenig in Almas Richtung. „Kaffee, gibt’s hier auf dem Gang, jederzeit verfügbar. Soll ich Ihnen …?“

      „Vielen Dank … autsch!“ Alma wollte heftig mit dem Kopf schütteln, gab es aber sofort auf. „Ich bin sonst eine richtige Kaffeetante, aber im Moment ist mir irgendwie komisch im Magen. Vielleicht später“, fügte sie hinzu, worauf Sieglinde Roth nickte, ihre Tasse und den Stock nahm und aus dem Zimmer humpelte. Alma schloss erschöpft die Augen.

      „Hier ist sie, Herr Lenk!“, klang wenig später eine laute Stimme aus der Richtung der Zimmertür, die sich jetzt weit öffnete.

      KAPITEL 5

      Als Erstes sah Alma einen Blumenstrauß, hinter dem die Kioskfrau Moni entschlossen ins Zimmer trat und Benjamin Lenk mit einer ungeduldigen Handbewegung hinter sich hereinwinkte.

      „Bin ich froh, dass es Ihnen gut geht! Wir hatten doch alle schon das Schlimmste befürchtet.“ Moni schien Almas Lage im Halskorsett und den bandagierten Arm nicht als Zeichen von Gefahr für Gesundheit oder Leben zu sehen. „Das Genick hätten Sie sich brechen können! Gut, dass mein Kleiner gerade da war. Hatte wieder Englisch geschwänzt, der Schlawiner, aber in dem Fall das reinste Glück … Herr Lenk, am besten, Sie übernehmen kurz, ich schau mal nach einer Vase und Wasser für die Blumen.“ Damit ging sie festen Schrittes in Richtung Tür, wo sie beinahe mit einer der Schwestern zusammengestoßen wäre.

      „Nicht so hastig, Vasen sind in der 314 gegenüber, Tür ist offen. Frau Winter, lassen Sie mich Ihr Kopfteil ein wenig anstellen, sonst sehen Sie ja Ihren Besuch gar nicht richtig.“ Mit geübtem Griff verstellte die Schwester mit dem Vornamen Silke auf dem Namensschild den oberen Teil des Bettes ein wenig, jedoch so, dass Alma noch immer gut in ihrer Halsstütze lag. Nach einem prüfenden Blick zur Infusionsflasche, einem etwas strengeren in Richtung des Anwalts und den Worten „Aber nur kurz, die Patientin braucht noch viel Ruhe“ eilte sie aus dem Zimmer.

      Alma sah Benjamin Lenk erstaunt an. Jetzt konnte sie sehen, dass er ihren Koffer neben sich stehen hatte. Der Anwalt wirkte wie schon gestern gelassen und gab ihr freundlich die Hand. „Guten Tag Frau Winter. Schön, Sie wiederzusehen, wenn auch unter diesen eher misslichen Umständen.“

      Er zog zwei Stühle, die an einem Tisch neben dem Fenster standen, heran und setzte sich auf den etwas weiter von ihr entfernten.

      „Sie hatten großes Glück, Frau Winter. Wie ich inzwischen erfahren habe, hat sich der Unfall so ereignet: Als Sie im Haus die Treppe hinabgestürzt sind, haben Sie offensichtlich laut aufgeschrien. Das wurde draußen am Busbahnhofskiosk gehört und Frau John ist sofort mit ihrem Kollegen und einem der Busfahrer zum Haus gerannt. Die Haustür war geschlossen und war auch nicht aufzudrücken, Sie haben sie ja gesehen, sehr stabil.“

      „Aber zum Glück hatten Sie ja alle Fenster geöffnet.“ Moni, offensichtlich Frau John, war mit den Blumen, nun ordnungsgemäß in Vase und Wasser, zurück und setzte sich energisch auf den ersten Stuhl am Bett. „Nur – ich konnte da nicht hoch, bin zu unsportlich, und Bernd, der gerade den 221er abgestellt hatte, auch nicht – hat noch ein paar Pfunde mehr drauf als ich. Holger wäre rein, aber wer kommt in dem Moment angeschlichen? Mein Jüngerer, Sven, aus der Schule. 15 Jahre, klein und wendig. Hätte eine Freistunde, wollte er gerade ansetzen, da haben wir ihn schon hochgehoben und durch eins der offenen Fenster geschoben. Einmal drinnen, ist er sofort zur Haustür gelaufen, schlauer Kerl, mein Sveni, und hat uns reingerufen. Dann haben wir Sie gefunden, unten an der Treppe, Sie haben sich nicht mehr gerührt. Wir dachten schon … Na ja, jedenfalls hatte mein Sven schon die 112 gewählt und keine zehn Minuten später war der Notarztwagen da. Bernd hat Sie inzwischen auf stabile Seite gelegt und den Puls geprüft, war da, also musste er nicht auf