Otternbiss. Regine Kölpin

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Название Otternbiss
Автор произведения Regine Kölpin
Жанр Триллеры
Серия
Издательство Триллеры
Год выпуска 0
isbn 9783839264928



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dass Karls Hand zitterte, als er ihr hinterher winkte.

      Seelenpfad 3

      Und gehen

      … und sehen

      sehen o Wunder …

      Heinz-Albert-Heindrichs (* 1930)

      Maria hatte gleich das nächste Schiff genommen. Tant’ Mimi wohnte in der Siedlerstraße, hatte sich eines der grauen Häuser zurechtgemacht und vermietete Zimmer an die Feriengäste. Nur eines hielt sie immer frei. Für Karl. Manchmal dachte Maria, dass Onkel Karl womöglich eine Liebesbeziehung zu Mimi hatte. Aber sie konnte sich ihn nur schwer als Liebhaber vorstellen.

      Er war nicht nur äußerlich, sondern auch vom Wesen her sehr speziell. Ein prima Kumpel, ein Mann, auf den man sich in jeder Lebenslage verlassen konnte. Für so manche Frau mochte das reichen. Doch Maria fiel es schwer, sich das einzugestehen: Onkel Karl glich er einem abgeliebten Teddybären. Sein Rauschebart ließ kaum einen Blick auf die Gesichtszüge zu. Ein Rest rot geäderter Wangenhaut blinzelte unterhalb des Auges hervor, zeugte von häufigem Aufenthalt an der frischen Luft. Viel Mimik war bei ihm ebenfalls nicht zu erkennen. Einzig seine Lippen bewegten sich ununterbrochen, wie bei einem Fisch, der an Land nach Luft schnappte. Seine Augen wirkten so, als würden sie immer lächeln. An den meisten Tagen trug er eine Latzhose, die er nur hin und wieder gegen eine dunkelbraune, verwaschene Cordhose tauschte.

      Nein, Maria konnte es drehen, wie sie wollte: Onkel Karl war alles andere als attraktiv. Wobei Tant’ Mimi mit ihrer übergewichtigen Dominanz auch nicht auf den Laufstegen dieser Welt zu Hause war. Von daher waren ihre Ansprüche vielleicht nicht so hoch.

      Karl hatte bei Mimi angerufen und Marias Kommen angekündigt. Noch während des Telefonats hatten seine Hände dermaßen vibriert, dass Maria kaum hinsehen mochte. Immer wieder schüttelte Karl den Kopf, während er Tant’ Mimi die Situation klar machte.

      Maria hatte zu Hause die Tasche noch gegen Karls Trolley eingetauscht. Es machte einen Höllenkrach, als sie damit über das unebene Pflaster lief. Auch nicht besser als Autolärm, dachte sie und stellte sich vor, wie es klingen musste, wenn sich ganze Gruppen auf den Weg in das Oldenburger Heim oder zur Villa Kunterbunt, dem Mutter-Kind-Heim, machten.

      Tant’ Mimi wartete schon im Vorgarten. Sie zupfte an ein paar Blütenstängeln herum, die noch vom Vorjahr karg ins Licht schauten. Außer den vereinzelten Krokussen war noch kein Farbtupfer im Garten zu erkennen. Es war zu lange viel zu kalt gewesen. Schwerfällig stemmte Mimi ihren Oberkörper in die Höhe. Sie blinzelte in die Sonne, als Maria vor ihr stand.

      »Da bist du ja, mien Deern.« Sie strich ihr mit der erdigen Hand über die Wange. Es kratzte, als dabei ein paar Krümel zur Erde fielen. »Warst so lange nicht mehr hier. Hätte dich kaum erkannt.« Sie schürzte die Lippen. »Zehn Jahre sind das wohl.«

      Maria nickte. Im Sommer waren es zehn Jahre.

      Tant’ Mimi bugsierte sie ins Haus, in dem es etwas abgestanden und leicht schimmelig roch. Marias feine Nase hatte den typischen Geruch sofort eingefangen.

      »Tee?«, fragte Tant’ Mimi und setzte schon den Kessel auf den Herd.

      Maria verstaute derweil ihre Tasche im Zimmer.

      »Hast auch eine eigene Dusche«, hörte sie Tant’ Mimi.

      Es war Maria egal, sie hätte sich das Bad auch mit anderen geteilt. Schließlich wollte sie sich hier nicht erholen.

      »Warum bist denn du überhaupt auf der Insel?« Tant’ Mimis Stimme klang angestrengt, als recke sie sich gerade, um etwas vom Schrank zu holen. Über Marias Gesicht glitt ein flüchtiges Grinsen. Tant’ Mimi holte den Kandis von dort oben. Mimi war kein Mensch, der in seiner kleinen Welt gern etwas veränderte.

      Maria antwortete nicht, stand mit hängenden Armen vor ihrem Bett. Karl hatte es Tant’ Mimi doch am Telefon lang und breit erklärt, und auch aus ihrem Mund würde seine Cousine es nicht verstehen. Die hatte ihre eigene Sichtweise auf die Dinge. Was vorbei war, war vorbei. Wer gestorben war, war gestorben und konnte nicht wieder zum Leben erweckt werden. Besser, man verdrängte alle Erinnerungen. Sie lebte nach der Vogel-Strauß-Methode. Kopf in den Sand und abtauchen. Da war sie wie Karl.

      Achim war nun schon lange verschollen. Wenn er tot war, würde von ihm nicht mehr viel übrig sein. Wahrscheinlich gar nichts. Nicht ein Haar, vielleicht ein paar Knochen. Maria kannte sich damit nicht aus. Das Meer hatte bestimmt entsprechend dazu beigetragen.

      Gleich wollte Maria noch zum Osten raus radeln. Es war wie eine Schocktherapie und sie wusste auch nicht, ob es eine gute Idee war. Ob nicht zu viele Erinnerungen ausgegraben werden würden.

      »Tee ist jetzt fertig, mien Deern. Setz dich zu mir.«

      Maria seufzte und schlich in die Küche. Auf dem runden Eckregal tanzten noch immer zwei Porzellanfeen um eine halbnackte grüne Meerjungfrau und kleine gehäkelte Blumen schmückten die Fensterbänke. Nichts sah auch nur ansatzweise anders aus als vor zehn Jahren. Sogar das schlammfarbige Tischtuch zierte den dreibeinigen Beistelltisch noch wie damals.

      Trotz der Furcht vor der eigenen Courage fühlte Maria an diesem Ort so etwas wie ein Nachhausekommen. Sie hatte schreckliche Angst vor dem, was sie hier finden könnte. Am meisten fürchtete sie sich davor, zu viel von sich selbst zu entdecken, ihren Erinnerungen nicht gewachsen zu sein.

      Tant’ Mimi bemerkte davon nichts. Redete ununterbrochen über den zu kalten Frühling, über den Garten ihrer Nachbarin und ob die Insel in drei Wochen von den Badegästen förmlich überflutet werden würde. Sie hoffte auf eine große Ausbeute. »Immerhin habe ich viel renoviert im letzten Winter.«

      Maria blickte erstaunt zu Tant’ Mimi. Die Küche war von den Neuerungen definitiv nicht betroffen.

      Tant’ Mimi realisierte Marias fragenden Blick sofort. »In den Gästezimmern. Das muss sich jetzt auszahlen.« Sie wiegte den Kopf. Allein die Toilette habe sie ein Vermögen gekostet. Keiner müsse noch an der Strippe ziehen. Zwei runde Scheiben an der Wand waren für alles zuständig. Eine zum Wassersparen. Man käme nicht umhin, an den Aufwand zu denken, mit dem das Wasser vom Festland hierher gebracht werden würde. Die Wasserlinse unter der Insel reiche schließlich nicht, dazu sei Wangerooge viel zu sehr geschrumpft. Man munkele jetzt sogar, die Insel sei mittlerweile kleiner als Baltrum. Aber davon wollten weder die Wangerooger noch die Baltrumer etwas wissen.

      Tant’ Mimi war nicht zu stoppen. Auch die Stelle des Inselarztes sei vakant. Eine Vertretung wäre jetzt da.

      Maria trank ihren Tee, sagte aber nichts dazu. Das wusste sie noch von früher: Tant’ Mimi widersprach man besser nicht und eine Unterbrechung des Redeflusses wurde mit einem noch ausschweifenderen geahndet.

      Nach drei Tassen mochte Maria nicht mehr. Tant’ Mimi kochte den Tee so stark, dass sie bei zu großer Menge Magenschmerzen davon bekam. »Ich will los, Tant’ Mimi. Noch ist es hell.«

      »Komm ja vor Sonnenuntergang zurück!« Sie kniff die Lippen zusammen, nickte beflissen mit dem Kopf. »Hier treibt sich ein Mörder herum.«

      Maria nahm sich Tant’ Mimis Fahrrad, das sie vorher bereitgestellt hatte. Die Straße war arg uneben und die Reifen holperten über die Siedlerstraße in Richtung Osten. Der Flughafen lag sehr ruhig da, noch schlief die Insel ihren Winterschlaf. Doch schon bald würden die Maschinen in Schwärmen aufsteigen und landen.

      Je weiter Maria aus dem Dorf herausfuhr, desto freier fühlte sie sich. Sie hätte dieses Gefühl selbst nicht für möglich gehalten, aber die große Furcht, die sie eben noch in Tant’ Mimis Haus befallen hatte, war wie weggeblasen.

      Schon am ersten Dünenübergang stellte sie das Rad ab. Es zog sie an den Strand und die steilen Dünenhänge. Sie wollte die Schaumkronen vom Meer sehen, wenn die Wellen sich brachen. Egal, wie das hier ausging. Sie war über sich selbst hinausgewachsen, indem sie den Mut gefasst hatte, nach Wangerooge zu reisen. Auf dem Dünenkamm stellte sie sich auf und schaffte es zum ersten Mal nach zehn Jahren, sich gerade hinzustellen, den Rücken aufzurichten.

      Das