Otternbiss. Regine Kölpin

Читать онлайн.
Название Otternbiss
Автор произведения Regine Kölpin
Жанр Триллеры
Серия
Издательство Триллеры
Год выпуска 0
isbn 9783839264928



Скачать книгу

in einem Zug aus und winkte der Bedienung. Sein Trinkgeld fiel recht großzügig aus. Sein Gedankenparcours hatte ihm gezeigt, welchen Weg er gehen musste. Er hatte keine Chance, würde sein ganzes Leben von den Eindrücken geprägt sein. So gab es nur eines: Rothko stand so schwungvoll auf, dass der Korbstuhl hintenüber kippte. Das Personal war sofort zur Stelle und hob ihn auf. Kein böser Blick streifte ihn.

      Gerade als er den Türgriff schon in der Hand hielt, trat der Chef des Hauses auf die Terrasse und brachte der älteren Dame in der Ecke zu ihrem neunzigsten Geburtstag ein Ständchen mit der Drehorgel. Rothko nickte stumm. Das genau war es. Genau deshalb machte er diesen Job. Um solch harmlosen und netten Menschen wie in diesem Hotel ihr sicheres Leben so weit wie möglich zu erhalten. Sie sollten weiterhin unbeschwert Musik hören und Geburtstagslieder singen können. Sie sollten das Lachen in ihren Augen nicht verlieren. Es war seine Aufgabe, ihnen Schutz zu gewähren. Dafür musste er alles tun, was in seiner Macht stand. Rothko merkte, dass er seinen Oberkörper aufrichtete.

      Auf dieser Insel hatte sich ein Mensch herumgetrieben, der ein kleines Kind auf dem Gewissen hatte. Und er, er würde diesen Menschen finden!

      *

      Maria wartete, bis der Tee auf die Minute richtig gezogen hatte. Sie hatte noch den Kaffeeduft der Bäckerei in der Nase, der sich mit dem Duft des frischen Brotes vermischt hatte. Wie jeden Morgen war sie versucht, vielleicht doch einmal eine Tasse zu probieren. Aber das ließ sie nicht zu. Ihr Leben konnte nur weiter funktionieren, wenn sie funktionierte. Und zwar in festen und geordneten Bahnen. Keine Abweichung von der Norm. Sie musste Tee trinken, egal wonach ihr der Sinn stand. Sie ließ sich auf den nächstbesten Stuhl fallen, griff nach der Zeitung und schlug sie auf.

      Toter Junge in den Dünen sprang ihr als Schlagzeile entgegen. Sie quälte sich durch jedes Wort, wollte eigentlich nicht weiterlesen. Zu schmerzhaft waren die Erinnerungen, die sich aus ihrer Tiefe mehr und mehr nach oben schoben. Das alles erinnerte sie an Achim. Vielleicht war er es? Sie schüttelte den Kopf. Achim war seit zehn Jahren verschollen, wie sollte er jetzt plötzlich als Leiche in den Dünen auftauchen? Das ergab keinen Sinn. Sie las Wort für Wort, kämpfte sich durch den Inhalt. Erwürgt worden war der Kleine. Er war in etwa so alt, wie Achim es damals gewesen war.

      Marias Hände zitterten. Sie betrachtete ihre Finger. Wie konnte ein Mensch damit einen anderen auslöschen? Sie tastete über ihren Hals, erspürte die Oberfläche. Haut an Haut. Dicht dran. Man fühlte die Wärme des Körpers. Oder hatte der Täter ein Seil, ein Tuch oder Ähnliches benutzt? Sie blätterte weiter. Auf der dritten Seite blickte sie das Foto des Jungen an. Er sah fast aus wie Achims Reinkarnation. Blond, sommersprossig, in alle Richtungen abstehendes Haar. Dazu die lustigen und gleichzeitig so unendlich traurigen Augen. Eine Mischung, die Tragik suggerierte. Das Gesicht tanzte vor ihr herum. Obwohl es erheblich breiter als Achims war, nahm es nach und nach dieselbe Form und den gleichen Ausdruck an, verschmolz immer stärker zu einer Einheit mit ihrer Erinnerung.

      Maria musste mit ansehen, wie grobe Hände den schma­len Hals umfassten, wie Achims Augen größer und größer wurden. »Nein!«, entfuhr es ihr. Sie sprang auf, schleuderte die Zeitung in die Ecke. »Achim habe ich im Nebel verloren.« Sie ließ sich auf den Stuhl fallen. Ihr Kopf sank auf die Tischplatte, riss dabei die Tasse um. Ihr Haar badete in lauwarmem Teewasser. Maria merkte es nicht. Sie spürte auch nicht, dass sich die Pfütze ihren Weg bahnte und ihre nackten Füße benetzte.

      Sie wurde die Bilder nicht los. Sie hämmerten durch ihren Kopf, schlugen Schneisen in ihren kleinen Schutzwald, der nie richtig wachsen durfte. Zu oft gab es Gelegenheiten, ihn niederzumetzeln. Maria hatte kein Mittel dagegen gefunden, sie wusste nicht einmal, ob sie eines finden wollte.

      Als ihr Herz ruhiger schlug, das Zittern in ein monotones Beben übergegangen war, schoss es ihr wie ein Blitz durch den Kopf. ›Wangerooge‹, dachte sie. ›Ich muss nach Wangerooge. Nach all den Jahren gibt es für mich jetzt nur einen Weg. Ich muss mich der Sache von damals stellen.‹

      Sie stürzte in ihr Zimmer, riss die Reisetasche vom Schrank. Ein Nebel aus Staub umhüllte sie. Maria musste husten. Sie hatte die Tasche seit ihrer langen Reise nicht benutzt. Maria wischte sie notdürftig sauber, warf eine Jeans, ein paar Socken, Pullis und Shirts hinein. Sie achtete nicht darauf, ob es farblich zusammenpasste, geschweige denn, wie sie darin aussehen würde. Als sie den Reißverschluss zuzog, glaubte sie, hinter sich ein Geräusch zu hören. Sie schnellte herum. Im Türrahmen stand Onkel Karl. Das Sonnenlicht brach sich in seinem angegrauten langen Haar, das sich ohne Übergang mit einem dichten Rauschebart vermischte. Der überdimensionale Bauch versteckte sich unter seinem karierten Hemd, über dem er stets eine beigefarbene Fellweste trug. Die Arme lagen jetzt verschränkt vor seiner Brust.

      »Was hast du vor?«, fragte er mit seiner leisen Stimme, die zwar jederzeit zu Maria fand, ihn aber außerhalb des Hauses ebenso abgrenzte wie sie selbst. Onkel Karl wurde nur dort ernst genommen, wo man ihn kannte. Wo er schon hatte beweisen können, was sich hinter der Maske aus Bart und Stimme verbarg. Für die Insulaner war er ein solcher Mann. Obwohl er längst in Rente war, hatten es sich die Bewohner von Wangerooge noch nicht abgewöhnt, ihn, wie seit jeher, für alle möglichen Reparaturarbeiten anzurufen. Ruhig, wie er war, genoss er dort die uneingeschränkte Akzeptanz, die ihm auf dem Festland versagt blieb. Auch wenn er keiner von ihnen war. Aber er entsprach dem Bild des wortkargen Friesen in so einem Ausmaß, dass sie es augenscheinlich einfach vergaßen.

      Für andere war er einfach ein Niemand. Vielleicht klebten Maria und er aus diesem Grund so aneinander. Ihre Symbiose hatte beinah pathologische Züge, war von einer gewissen Abhängigkeit geprägt. Maria und Karl redeten nicht darüber. Sie wussten beide darum, fanden es aber nicht der Rede wert. Wichtig war ihnen nur, dass sie selbst damit umgehen konnten.

      »Was hast du nun vor?«, fragte Karl ein zweites Mal, nachdem Maria ihm die Antwort schuldig geblieben war.

      »Ich fahre nach Wangerooge«, sagte sie und wunderte sich, wie selbstverständlich ihr die Auskunft über die Lippen kam.

      »Nach Wangerooge«, wiederholte Karl.

      Maria sah, dass er es nicht glauben wollte.

      »Du warst seit zehn Jahren nicht mehr drüben. – Warum jetzt?«

      Sie deutete mit einer Handbewegung in die Küche. Karl trat in den Flur, blickte zum Küchentisch, auf dem die Zeitung noch aufgeschlagen lag. Maria folgte ihm. Der braune See hatte sich auf dem geblümten Wachstischtuch ausgebreitet und trocknete an den Rändern bereits an. Die Teetasse lag seitlich gekippt, der Kluntje darin hatte sich noch nicht vollends aufgelöst. Die Zeitung war vom Tisch gefallen, ihre Seiten hatten sich auf dem Boden schon mit dem ausgelaufenen Tee vollgesogen.

      Karl begriff wie immer sofort. Er hob das Tageblatt auf. Seine Augen klebten an dem Bild des toten Jungen. Wortlos legte er die Zeitung zurück. Maria stand ebenfalls stumm daneben. Karl nahm ein Tuch, wischte den Tisch sauber, stellte die Tasse wieder hin. Er rückte den Stuhl zurecht.

      »Es ist keine gute Idee«, sagte er schließlich. »Es wird dir nicht guttun.«

      »Warum hast du nichts gesagt?«, flüsterte Maria »Du musst doch gestern etwas mitbekommen haben, als du drüben warst.«

      Karl sog die Luft scharf ein. »Ich dachte, es sei besser, du weißt es nicht.« Er wollte ihr über das Haar streichen, verharrte aber ein paar Zentimeter darüber. Karl mochte keine Berührungen. »Die Sache«, er räusperte sich, »muss doch mal zur Ruhe kommen.«

      Maria drehte sich um und holte die gepackte Tasche. »Ich nehme das nächste Schiff. Ich kann bei Tant’ Mimi schlafen.«

      Mimi war die Cousine von Karl, bei der er stets Unterschlupf fand, wenn er die Insel aufsuchte. Karl zuckte mit den Schultern. Er war noch nicht so recht überzeugt, das sah Maria.

      »Ich muss dorthin, Karl.« Sie senkte die Augen. Eine Träne bahnte sich ihren Weg.

      »Aber was soll das bringen? Achim ist doch nicht umgebracht worden. Was willst du erreichen?« Karl schüttelte den Kopf.

      Maria zuckte mit den Schultern, war aber schon auf dem Weg zur Tür. »Ich glaube, es wird mir helfen. Da war jemand an dem Morgen. Ich bin mir ganz sicher. Achim ist nicht