Leben ohne Maske. Knut Wagner

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Название Leben ohne Maske
Автор произведения Knut Wagner
Жанр Биографии и Мемуары
Серия
Издательство Биографии и Мемуары
Год выпуска 0
isbn 9783957163080



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öffentlich zu lesen, was sie fühlten und dachten, ohne sich selbst ins Schussfeld SED-treuer Assistenten oder Dozenten zu bringen. In einer Zeit des Aufbegehrens und des Zorns gegen den politischen Dogmatismus benutzten sie die Gedichte für ihre eigenen Zwecke, und die Verse Jewtuschenkos waren Wolfgang wie auf den Leib geschrieben.

      Wolfgang trug Schlaghosen, hatte die Beatles im Ohr und rebellierte gegen die Väter-Welt. Er versuchte, Jewtuschenkos Draufgängertum an den Tag zu legen, und gefiel sich in der Rolle des zornigen jungen Mannes. Es machte ihm Spaß, die Gedichte Jewtuschenkos wirkungsvoll an den Mann zu bringen, in denen persönlichste Gefühle wie Enttäuschung, Einsamkeit und Depression zum Ausdruck kamen und so verstand es sich von selbst, dass er während des Rezitierens den Blick auf Judith gerichtet hatte, die in der ersten Reihe vor dem kleinen, flachen Bühnenpodest saß. „Es findet stets sich eine Frauenhand, / damit sie kühl und leicht und unverwandt, / aus Mitleid mehr als auf der Liebe Wink, / wie einen Bruder dich zur Ruhe bring“, rezitierte Wolfgang und sah dabei Judith in die großen, braunen Augen.

      Mike Mutzke sprach die Verse von Andrei Andrejewitsch Wosnessenski, einem kleinen Russen, der in Amerika mit Allen Ginsburg in einem Stadion aufgetreten war und mit seinen Amerika-Gedichten den Wortführer der Beatgeneration an die Wand gespielt hatte.

      Am Ende der Veranstaltung ließ Biene einen Hut herumgehen. Die eine Hälfte der Einnahmen kam in die Kasse der Studentenbühne, die andere Hälfte wurde, wie es Sitte war, versoffen.

      Nach Veranstaltungsschluss saßen Wolfgang und Mike noch lange auf den unbequemen, kleinen Holzhockern in einer der Kellernischen und klönten. Ab und an griffen sie nach den großen Bierhumpen, die sie neben sich auf dem flachen Bühnenpodest abgestellt hatten.

      „Ich hätte nicht gedacht, dass dieses Programm einen solchen Zuspruch finden würde“, sagte Wolfgang. Mike meinte: „Nach dem Erfolg heute Abend könnten wir doch mal einen Lyrikabend mit eigenen Gedichten machen.“ Bis März sei Zeit genug, sagte er. Gedichte seien genug da, man müsste sie nur geschickt zusammenstellen.

      Wolfgang ließ sich auf Mikes Vorschlag ohne großes Nachdenken ein, denn er merkte, dass Judith gehen wollte.

      „Abgemacht“, sagte Mike.

      „Abgemacht“, sagte Wolfgang, der es äußerst eilig hatte, Judith zu folgen.

      Auf der Straße, sie waren auf dem Weg zur Straßenbahn, sagte Judith: „Du warst großartig.“

      „Ich bin immer großartig.“ Wolfgang glaubte, dass er Judith an diesem Abend rumkriegen könnte.

      Nachdem er Judith vor der Tür des Mädchenwohnheimes lange genug geküsst, ihr ungeniert unter den Rock gegriffen und sie nach allen Regeln der Kunst befummelt hatte, nahm er an, dass sie ihn mit nach oben in ihr Zimmer nehmen würde. Aber Judith löste sich aus seiner Umarmung und stieß ihn weg. Sie habe einen festen Freund, eröffnete sie ihm. Er sei Ingenieur und älter als sie.

      Wolfgang ließ von Judith ab. Wieder einmal hatte er das Gefühl, jämmerlich versagt zu haben.

      In der Folgezeit entstanden eine Reihe von Weltschmerzgedichten über unglückliche Lieben, die Wolfgang an jenem Lyrikabend vortrug, zu dem Mike ihn überredet hatte.

      Eine Stunde lang trugen Wolfgang und Mike ihre Gedichte im überfüllten Studentenkeller vor, und Wolfgangs Gedichte waren allesamt Liebeserklärungen, zu denen er im wirklichen Leben nicht fähig war. Dass Edda und Judith an diesem Abend nicht in den Studentenkeller gekommen waren, enttäuschte ihn maßlos.

      Waren nicht fast alle Gedichte ihnen gewidmet?

      „Obwohl dieser Abend ein Erfolg war, werde ich keine Gedichte mehr schreiben“, sagte Wolfgang zu Mike. „Und die Weiber können mir gestohlen bleiben.“

      Mike sah ihn entgeistert an. Für ihn, der selbst feinfühlige Verse schrieb, war Wolfgang ein begnadeter Lyriker: „Doch nicht, weil ein FDJnik wie Hetzel meint, in einer Gesellschaft, die alle Grundlagen für die Entfremdung des Menschen überwunden habe, sei kein Platz für die Literatur der Einsamkeit?“

      „Es hat mit Hetzel, diesem Blödling, der keine Ahnung von Literatur hat, nichts zu tun“, sagte Wolfgang. „Ich habe einfach das Gefühl, mein großes Ziel, Theaterdichter zu werden, aus den Augen verloren zu haben“ In Zukunft werde er sich nur noch aufs Studium und aufs Stückeschreiben konzentrieren, kündigte er an. „Das Bearbeiten und Inszenieren von Stücken, die uns aufoktroyiert werden, führt zu nichts!“ Er habe sich entschlossen, selbst ein Stück zu schreiben. Im vierten Studienjahr komme man nicht mehr zum Theaterspielen, deshalb sei das dritte Studienjahr am geeignetsten, einen solchen Plan umzusetzen. Mit der Uraufführung des Stücks wolle er sich einen würdigen Abgang aus Jena verschaffen und sich als Dramatiker einen Namen machen.

      Mike hörte erstaunt zu, als Wolfgang das erste Mal laut über sein Stück nachdachte: „Ich denke, dass ich den Entwurf im Oktober fertig habe und im April 1968 die Uraufführung sein könnte.“

      „Und wenn du es bis Oktober nicht schaffst?“

      „Auch nicht schlimm.“ Von Schwedt her wisse er, wie es gehe, wenn ein Stück noch während der Proben fertig geschrieben werde. Das Stück heiße „Der Gast oder Der Versuch zu leben“, verriet Wolfgang. „Es ist ein Fünf-Personen-Stück, und ich werde Autor, Regisseur und Hauptdarsteller sein. Die anderen Rollen werden Doris, Biene, Edda und Wachsmuth spielen.“ Und damit er das nötige Handwerkszeug habe, werde er das Dramenseminar bei Frau Professor Doktor Wertheim belegen.

      „Ich denke, du stehst auf Osborne, Araball und den jungen Brecht?“

      „Das mag sein, dass ich Osborne verehre, weil ich gerne ein solch zorniger junger Mann wäre wie er, und dass ich nicht genug von Brechts ‚Baal‘ kriegen kann, stimmt auch“, sagte Wolfgang. „Und für Fernando Araball begeistere ich mich so, weil ich mal einen Filmbericht über ihn gesehen habe. Er saß in einer Badewanne und vor ihm, auf einem Brett, stand eine Schreibmaschine, auf die er mit zwei Fingern eindrosch. Während er, an seinem Stück schreibend, in der Wanne saß, sprangen zwei schöne Weiber um ihn herum und gossen warmes Wasser nach. Und wenn ihm nicht gefiel, was er geschrieben hatte, zog er das Blatt aus der Maschine, zerknüllte es zu einer Papierkugel und fraß sie auf.“

      „Im Seminar ‚Klassisches Drama‘ wird das nicht gefragt sein“, stellte Mike belustigt fest.

      „Aber das schließt doch nicht aus, dass man sich fit machen kann fürs Stückeschreiben. Von Schiller, glaube ich jedenfalls, kann man eine Menge lernen.“

      „Das mag sein“, sagte Mike. „Und du willst wirklich keine Gedichte mehr schreiben?“

      „Nein“, sagte Wolfgang. „Und von den Weibern habe ich auch die Schnauze gestrichen voll.“

Zweiter Teil (1967 bis 1969)

       6. Kapitel

      Schon eine Woche später hatte Wolfgang vergessen, was er Mike über das Gedichteschreiben und die Frauen gesagt hatte. Da nämlich begegnete er Heidi zum ersten Mal.

      Er saß im Arbeitsraum des Germanistischen Instituts, und Heidi, die sich auf ein Hölderlin-Seminar vorbereitete, sah sinnend vor sich hin. Sie schien so in Gedanken zu sein, dass sie gar nicht mitbekam, wie lange Wolfgang sie durchdringend musterte.

      Heidi hatte große, hellblaue Augen, und was er von ihrer Brust unter ihrem langärmligen rosa Strickpullover sehen konnte, gefiel ihm sehr.

      Als sie aufstand und ihre Bücher in die Bibliothek zurückbrachte, sah er sie von hinten. Er sah ihre auffallend breiten Hüften und wie gebannt starrte er auf ihren Hintern. Als sie zurückkam, auf dem Weg zu ihrem Arbeitsplatz war, sah er ihre breiten Schenkel, die sich unter ihrem schwarzen Rock abzeichneten. Was für eine Frau, dachte er, und als sie wenig später im Seminarraum nebenan verschwand, fragte Wolfgang Lieschen, die studentische Hilfskraft war, wer die Studentin mit dem schwarzen Rock und dem rosa Pullover gewesen sei.

      „Meinst du Heidi?“, fragte Lieschen, die in der