Das Fußvolk der "Endlösung". Thomas Sandkühler

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Название Das Fußvolk der "Endlösung"
Автор произведения Thomas Sandkühler
Жанр Историческая литература
Серия
Издательство Историческая литература
Год выпуска 0
isbn 9783534746217



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fand in Dnjepropetrowsk (Ukrainische SSR) der wichtigste öffentliche Strafprozess in der UdSSR gegen ehemalige Wachmänner des Vernichtungslagers Bełżec statt. Er war kein Schauprozess nach stalinistischem Muster.64 Während sich die Beschuldigten des etwa gleichzeitigen bundesdeutschen Verfahrens gegen Oberhauser u. a. im Allgemeinen zurückhaltend über ihre Tätigkeit in den Vernichtungslagern äußerten, sagten ehemalige Wachmänner im sowjetischen Zuev-Verfahren sehr viel konkreter über das grausige Geschehen in Bełżec aus.65

      Der Grund für diese Offenheit war vermutlich, dass die Befragten, die meist bereits in der Stalinära verurteilt worden waren, eine erneute Verurteilung nicht fürchten mussten und daher gefahrlos die Wahrheit sagen konnten:

      »Im Ermittlungsverfahren und in der Gerichtsverhandlung in meiner Sache [bei seiner früheren Verurteilung] habe ich die Tatsache meines Dienstes im Todeslager Belzec und der dort begangenen Verbrechen verschwiegen, weil ich Angst vor der Verantwortung deswegen hatte. Ich habe verstanden, dass ich ein schweres Verbrechen begangen habe, deshalb habe ich es verschwiegen, da ich gewusst habe, dass ich viel härtere Folgen hätte tragen müssen, wenn ich vom Dienst in Belzec und den von uns dort begangenen Verbrechen erzählt hätte. Jetzt habe ich eine Strafe für den Dienst bei der SS verbüßt und weiß, dass man sich nicht zweimal wegen eines Verbrechens verantworten muss, deshalb habe ich beschlossen, alles so zu erzählen, wie es gewesen war. Aus diesem Grund ist alles, was ich über das Todeslager Belzec und die dort begangenen Verbrechen sowie die Personen, die ich genannt habe, die Wahrheit.«66

      Trotz der dubiosen rechtsstaatlichen Qualität sowjetischer Aussagen ist ihr Stellenwert für die historische Forschung hoch. Was sowjetische Beschuldigte in den späten 1940er und frühen 1950er Jahre aussagten, war oftmals das Erste, was man über die Vorgänge in den Vernichtungslagern der »Aktion Reinhardt« überhaupt erfahren konnte, sieht man von den Berichten Kurt Gersteins und Wilhelm Cornides' ab, die in der Bundesrepublik publiziert wurden.67 Ermittlungen wegen der Verbrechen in diesen Lagern kamen in der Bundesrepublik erst deutlich später in Gang.

      Zudem muss zwischen den Urteilen jener Jahre und den Vernehmungen als solchen unterschieden werden: Erstere waren gewissermaßen vorgefertigt; letztere hingegen haben oft einen hohen Informationswert, weil die Vernehmungsbeamten des NKWD den Werdegang und die Einsätze der Betreffenden genau erfragten. Den Ermittlern lagen meist Versetzungslisten aus dem Lager Trawniki vor, mit denen die Beschuldigten konfrontiert werden konnten. Auf diese Weise kamen weitere Details zum Vorschein, die sich aus den genannten Urkunden nicht unmittelbar entnehmen ließen.68

      Als Zwischenfazit lässt sich feststellen, dass die sowjetischen Verfahren rechtsstaatlichen Anforderungen nicht genügten. Bei den geheimen Schnellverfahren der frühen Nachkriegszeit kann von einem fairen Strafprozess keine Rede sein, obgleich das Urteil in vielen Fällen Angeklagte getroffen haben dürfte, die tatsächlich schuldig waren. Für die zweite Welle sowjetischer Verfahren gegen ehemalige Wachmänner ist eine Konzentration auf tatsächliche NS-Verbrechen und größere Sorgfalt zu konstatieren, doch auch dort war mit der fast sicheren Verurteilung der Angeklagten zu rechnen. Die Rechtsstaatlichkeit kann aber nicht der alleinige Maßstab für die Verwendbarkeit sowjetischer Vernehmungen sein. Für den Historiker sind sie wertvolle Ergänzungen des vorhandenen Wissensstandes. Ich schließe mich insgesamt der Auffassung des Historikers Dieter Pohl an, dass aus pragmatischen Gründen »eine intensive Beschäftigung mit der Geschichte nationalsozialistischer Verbrechen in Osteuropa ohne die Auswertung der Justizakten kaum möglich erscheint.«69

      Dass in den deutschen Vernichtungslagern in Ostpolen »Fremdvölkische« anwesend waren, wusste man in der Bundesrepublik seit der Pubikation des Gerstein-Berichts, also seit den 1950er Jahren.70 Auch in Berichten polnischer Augenzeugen, die von einer staatlichen Kommission zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen erhoben wurden, spielten diese Hilfskräfte eine gewisse Rolle.71 Jedoch konzentrierten sich die Ermittlungen der bundesdeutschen Strafverfolgung auf deutsche Tatverdächtige. Von den umfangreichen Ermittlungs- und Strafverfahren des KBG gegen »Trawnikis« wusste man im Westen nur wenig. Immerhin gelangten einige sowjetische Aussagen in die Akten des umfangreichen Bełżec-Verfahrens der Staatsanwaltschaft München gegen Josef Oberhauser u. a. Es scheiterte de facto.72

      In den Strafverfahren gegen mutmaßliche Angehörige der Vernichtungslager Sobibór und Treblinka sowie des Konzentrationslagers Majdanek, in denen zahlreiche Angeklagte zu lebenslanger Haft, andere zu langjährigen Freiheitsstrafen verurteilt wurden, spielten die »Ukrainer«, »Schwarzen« etc. zwar eine gewisse Rolle, wurden aber nicht als Gruppe ins Auge gefasst.73 Dies tat hingegen das umfangreiche Verfahren der Staatsanwaltschaft Hamburg gegen Karl Streibel, den ehemaligen Kommandanten des SS-Ausbildungslagers Trawniki, und zahlreiche weitere deutsche und nichtdeutsche Beschuldigte wegen nationalsozialistischer Gewaltverbrechen in Vernichtungslagern, Arbeitslagern und Ghettos im Generalgouvernement Polen, vorrangig in den Distrikten Lublin und Warschau.74 Das Hauptverfahren vor dem Landgericht Hamburg endete nach dreieinhalb Jahren im Sommer 1976 mit dem Freispruch aller Angeklagten. Die Akten des Trawniki-Verfahrens, die maßgeblich von der Staatsanwältin Helge Grabitz verfasste Anklageschrift und das Urteil gegen Streibel u. a. sind jedoch eine nach wie vor wesentliche Grundlage für Forschungen über die Trawniki-Männer.75

      In der seinerzeit bahnbrechenden Text- und Fotoedition über Massenmörder in den Vernichtungslagern der »Aktion Reinhardt«, welche die Historiker Ernst Klee und Volker Rieß und der Staatsanwalt Willi Dreßen 1988 vorlegten, waren Fotos von »Ukrainern« teils mit falschen Namen versehen76; auch vermittelte das Buch keine Vorstellung über die beträchtliche Zahl nichtdeutscher Täter in den Tötungslagern. Impulse zur Erforschung der Trawniki-Männer gingen seit den 1990er Jahren zunächst von der bereits dargestellten Erforschung osteuropäischer Tatorte aus. Auf die wichtige Rolle dieser Handlanger hatte der Historiker Wolfgang Scheffler, Sachverständigengutachter in zahlreichen Strafverfahren wegen NS-Gewaltverbrechen, schon frühzeitig hingewiesen.77

      Entscheidende Impulse kamen jedoch aus den USA. Dort untersuchte eine dem FBI angegliederte Dienststelle für Sonderermittlungen (Office of Special Investigations, OSI), systematisch die Einbürgerungsanträge ehemals osteuropäischer Einwanderer aus der Zeit nach 1945. Ließ sich nachweisen, dass Angehörige dieses Personenkreises seinerzeit falsche Angaben gemacht, beispielsweise ihre Zugehörigkeit zu deutschen Hilfspolizeieinheiten verschwiegen hatten, übergab das OSI den Fall der Justiz, die ein Verfahren zur Ausbürgerung und Abschiebung der Betreffenden in Gang setzen konnte.78

      Um Beweise für falsche Einbürgerungsangaben führen zu können, stellte das OSI umfangreiche Bestände von Fotokopien aus deutschen Akten in sowjetischen Archiven sowie von Zeugenaussagen ehemaliger Trawniki-Männer zusammen. Dieser als »Trawniki Central« bezeichnete Quellenbestand ist seit 2009 öffentlich zugänglich, soweit er nicht in laufenden Ermittlungsverfahren verwendet wird.79 Er bildet eine wesentliche Grundlage auch des vorliegenden Buches.80 Das OSI erwarb durch seine Ermittlungen beträchtliche Expertise. Der Historiker Peter Black, ehemals Chefhistoriker des OSI, ist der beste Kenner der Materie und hat eine Reihe grundlegender Aufsätze über die in Trawniki ausgebildeten Hilfspolizisten vorgelegt.81 Sein Nachfolger im Amt des Chefhistorikers, David Rich, charakterisierte die Trawniki-Männer als »Reinhard‹s Footsoldiers«82.

      Die Ausbürgerung ehemaliger »fremdvölkischer« SS-Helfer konfrontierte die Justizbehörden der zur Aufnahme verpflichteten Staaten mit der Frage, ob sie Ermittlungen gegen diese oft schon hochbetagten Männer in Gang setzen sollten. Spektakulär war das Verfahren gegen den ehemaligen Wachmann Ivan Mykolajovyč (John) Demjanjuk. Er wurde von den Vereinigten Staaten nach Israel ausgeliefert und dort zum Tode verurteilt, weil man ihn mit einem letztlich nicht ermittelten Wachmann »Iwan der Schreckliche« im Vernichtungslager Treblinka verwechselt hatte.83 Das Oberste Gericht Israels sprach Demjanjuk 1993 frei. Er kehrte in die USA zurück, wo das OSI seine erneute Ausbürgerung betrieb, weil Demjanjuk nachweislich im Vernichtungslager Sobibór gedient hatte. Er wurde im Mai 2009 nach Deutschland abgeschoben, wo die Staatsanwaltschaft München ein Strafverfahren gegen den 89-jährigen Beschuldigten vorbereitete.

      Demjanjuk wurde im Mai 2011 der Beihilfe