Das Fußvolk der "Endlösung". Thomas Sandkühler

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Название Das Fußvolk der "Endlösung"
Автор произведения Thomas Sandkühler
Жанр Историческая литература
Серия
Издательство Историческая литература
Год выпуска 0
isbn 9783534746217



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Auschwitz-Birkenau wurden im großen Maßstab seit Juni 1942 durchgeführt. Im Konzentrationslager Lublin-Majdanek, das offiziell als Kriegsgefangenenlager firmierte, fanden seit Herbst desselben Jahres ebenfalls Vergasungen statt. Hierzu verwendete man, wie in Auschwitz, das Blausäurepräparat Zyklon B zur Ermordung der Juden. Die Zahl der Todesopfer von Majdanek ist allerdings deutlich geringer, als zunächst angenommen wurde.20

      Die Erforschung der Massenmorde am osteuropäischen »Tatort« begann spät, erst in den 1990er Jahren.21 Das hatte politische Gründe in der erstmaligen Zugänglichkeit vormals sowjetischer Archive nach dem Ende des Kalten Krieges. Es hatte generationelle Gründe im Nachwachsen von Historikerinnen und Historikern, die im Unterschied zu ihren akademischen Lehrern keine Scheu hatten, die Empirie des Massenmordes in den Blick zu nehmen. Es hatte sozialpsychologische Gründe in der fortdauernden Verdrängung des Geschehenen bis zum Ende der deutschen Teilung. Nichts belegt eindrucksvoller den Schrecken des nationalsozialistischen Zivilisationsbruchs als die Tatsache, dass ein halbes Jahrhundert vergehen musste, bis dieses zeitgeschichtliche Erbe im vollen Umfang angenommen werden konnte.22

      Der genaue Blick auf die deutsche Besatzungspolitik in Osteuropa zeigte, dass es Konkurrenz zwischen verschiedenen Instanzen des nationalsozialistischen Herrschaftsapparats gab, so zwischen dem Beamtenapparat auf der einen und dem SS- und Polizeiappparat auf der anderen Seite, dass diese »Polykratie« die Ermordung der antisemitisch Verfolgten jedoch nicht behinderte, sondern beschleunigte. Es gab Konkurrenz um die radikalsten Projekte zur Judenvernichtung, zugleich eine funktionale Arbeitsteilung zwischen zivilen und polizeilichen Funktionären. Im Detail mochte man unterschiedlicher Auffassung sein, etwa in der Frage jüdischer Arbeitskräfte, aber im Grundsatz gab es keinen Dissens über die Ermordung von Juden und anderen ›unerwünschten‹ Bevölkerungsgruppen.23 Die Forschung trug nun auch der Tatsache Rechnung, dass mindestens ein Drittel der Opfer nationalsozialistischer Judenvernichtung durch Erschießungen getötet wurde, von einem »fabrikmäßigen Töten«, das man in Auschwitz meinte realisiert zu sehen, also nur bedingt die Rede sein konnte.

      Diese Studien waren, insbesondere in Deutschland, meist politik- und gesellschaftsgeschichtlich ausgerichtete »Täterforschung«, wie man in Anlehnung an die strafrechtliche Terminologie formulierte.24 Man geht von nicht weniger als 200 000 Tätern des Holocaust aus, ganz überwiegend Männer.25 Kollektivbiographien, wie sie, herausragend, der Berliner Historiker Michael Wildt über das Führerkorps des Reichssicherheitshauptamts verfasste, zeigten, dass diese Männer keine Randgestalten der deutschen Gesellschaft waren, sondern aus deren Mitte kamen und nach dem Krieg auch wieder dorthin zurückkehrten, sofern sie nicht durch Ermittlungs- und Strafverfahren der bundesdeutschen Justiz aus der bürgerlichen Bahn geworfen wurden.26 Andererseits gehörte es zum Selbstverständnis dieser Vordenker nationalsozialistischer Vernichtungspolitik, bei der Durchführung selbst Hand anzulegen.27 Schreibtischtäter, lange Zeit das Paradigma zeitgeschichtlicher Reflexionen innerhalb und außerhalb Deutschlands, konnten, mit anderen Worten, auch Direkttäter sein. Sie leiteten ihr professionelles Selbstverständnis daraus ab, dieser Aufgabe im vermeintlichen Interesse der »Volksgemeinschaft« gerecht geworden zu sein.

      Die Ermordung der europäischen Juden war ein deutsches Massenverbrechen, das in in Ost- und Südosteuropa durchgeführt wurde. Zunehmend rückt aber ins öffentliche Bewusstsein, dass der Ermordung der Juden Frauen, Männer und vor allem Kinder aus allen Staaten des damaligen Kontinents sowie aus Nordafrika zum Opfer fielen. Mit Blick auf die Verfolgten und Getöteten ist eine europäische Gesamtdimension per se gegeben.28 Folglich lässt sich seit rund zwei Jahrzehnten eine Tendenz zur Europäisierung der Holocaust-Erinnerung beobachten.29 Von einer »Europäisierung« kann man aber auch sprechen, weil Nazi-Deutschland Unterstützer rekrutiert hatte, von der staatlichen Ebene bis hinab zu Tätern der Massenmorde. Die gesamteuropäische Dimension dieser Beteiligung zeichnet sich erst allmählich ab.30

      Verbündete Regierungen beteiligten sich aus Opportunismus, Antisemitismus oder Gewinnsucht am Holocaust. Der Völkermord gab diesen Staaten Gelegenheit, ihre Bündnistreue unter Beweis zu stellen, die nichts kostete, vielmehr auch pekuniär etwas einbrachte.31 Der Antisemitismus etwa der ungarischen Regierungen vor und unter deutscher Besatzung erwies sich als radikalisierender Faktor, der erheblich zur Ermordung der ungarischen Juden in der letzten Kriegsphase beitrug.32 Solche Zusammenarbeit lässt sich nicht einfach als »Kollaboration«, also Landesverrat, abtun.33 Eine begiffliche Akzentverschiebung zur »Kooperation« soll dem Umstand Rechnung tragen, dass die Eliten der betreffenden Staaten keine passiven »Satelliten« des Deutschen Reiches waren, sondern meist eigenständige Agenden verfolgt hatten.34

      Ferner rekrutierten die Deutschen in den besetzten und abhängigen Ländern hunderttausende Freiwillige zur Auffüllung ihrer zunehmend dezimierten militärischen Verbände. So dienten in der Wehrmacht nicht weniger als eine Million Sowjetbürger und bestand im letzten Kriegsjahr die vermeintlich »germanische« Waffen-SS überwiegend aus Ausländern und »Volksdeutschen«.

      Und letztlich zog der NS-Staat ein Heer von ›freiwilligen‹ Hilfskräften für die Durchführung seiner Massenverbrechen heran, weil das eigene Personal nicht ausreichte. Auch hier gab es Entgegenkommen landeseigener Politik. So zeigte sich am Beispiel Ungarns, der Westukraine und Litauens, dass rechtsradikale Milizen eine erhebliche Rolle bei der Ingangsetzung und Durchführung des Judenmords in den besetzten Gebieten Osteuropas gespielt hatten. Sie führten als »Vergeltungsaktionen« camouflierte Pogrome gegen den angeblich »jüdischen Bolschewismus« durch und stellten später den Nukleus von Hilfspolizeieinheiten, die an der Verhaftung und Erschießung jüdischer Menschen mitwirkten.35 Die Aufmerksamkeit der Forschung richtete sich zunächst auf »Schutzmannschaften« und ähnliche militarisierte Einheiten in den zivilverwalteten Gebieten der Sowjetunion. Schutzpolizisten, Gendarmen im Einzeldienst und andere nichtdeutsche Einheiten blieben zunächst außen vor.

      Von zweien dieser Formationen ist in diesem Buch die Rede: den Wachmännern des Lubliner SS- und Polizeiführers, die nach dem Namen ihres Ausbildungslagers meist als »Trawniki-Männer« bezeichnet werden, und ukrainischen Hilfspolizisten, die der deutschen Schutzpolizei zur Hand gingen. Auf das Konto der Hilfspolizei gehen Massenverhaftungen und Erschießungen, die der Deportation polnischer Juden in die Vernichtungslager vorangingen. Trawniki-Männer bewachten diese Lager und führten die Giftgasmorde mit durch.36 Mit dieser Konzentration auf die lokale Ebene von Ghettos und Lagern fügt sich das Buch in einen wichtigen Trend der neueren Kollaborationsforschung ein.37

      Das Zahlenverhältnis zwischen deutschen und nichtdeutschen Tätern lag in den Lagern der »Aktion Reinhardt« zwischen eins zu sechs und eins zu zehn, in der Schutzpolizei bei eins zu zwei und mehr. Die Zahl der nichtdeutschen Beteiligten war also deutlich höher als diejenige ihrer deutschen Vorgesetzten. Und auch der Tatbeitrag der Hilfspolizeiformationen war erheblich. So verhafteten im August 1942 ukrainische Hilfspolizisten mindestens die Hälfte der aus der Hauptstadt Ostgaliziens, Lemberg, nach Bełżec deportierten Juden. In der Mordstätte, in die man sie mit dem Güterzug brachte, verrichteten Nichtdeutsche unter deutscher Aufsicht das eigentliche Tötungshandwerk.38

      Die Studie gehört dem polizeigeschichtlichen Zweig der Täterforschung an. Den bahnbrechenden Auftakt bildete hierzu das Buch des amerikanischen Historikers Christopher Browning über die mörderischen Aktivitäten einer aus Hamburg stammenden Schutzpolizeiformation, des Reserve-Polizeibataillons 101, im Distrikt Lublin des Generalgouvernements.39 Brownings Interesse galt einerseits der Ereignisgeschichte der zahlreichen Untaten, die diese im mittleren Lebensalter stehenden Polizisten im Herzen nationalsozialistischer Finsternis verübt hatten.

      Andererseits und vor allem wollte er Antworten auf die drängende Frage geben, warum sie gemordet hatten, obwohl die Reserve-Polizisten keine ideologische Kerngruppe des NS-Apparats dargestellt hatten und nach Brownings Auffassung auch nicht in besonderem Maße ideologisch indoktriniert worden waren. Im Ergebnis beschrieb Browning ein Ursachenbündel, darunter Gruppendruck und »Kameradschaft« innerhalb einer militärisch organisierten Gemeinschaft, Gewöhnung ans Töten und eine ausgeprägte Gehorsamsbereitschaft.40

      Der amerikanische Politologe Daniel Goldhagen, Autor einer seinerzeit