Grimmelshausen. Dieter Breuer

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Название Grimmelshausen
Автор произведения Dieter Breuer
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783534402779



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nicht aufhebbar. Alternativen zur solchermaßen beschränkten condicio humana sind zwar vorstellbar, würden aber den Menschen als Gattung überfordern und werden durch die Realität der Romanhandlung ständig widerlegt. Das ideale Bild, das Simplicius vor dem Sylphenkönig von seiner Zeit entwirft, daß nämlich die „Weltliche hohe Häupter und Vorsteher“ in einer friedlich zusammenlebenden Sozietät „allein ihr Absehen auf/die liebe Justitiam [haben], welche sie dann ohne Ansehen der Person einem jedwedern/Arm und Reich/durch die Banck hinauß schnurgerad ertheilen und widerfahren lassen“151, kann daher keine in eine bessere Zukunft weisende Utopie sein, da es die Menschen zu Sylphen degradiert. Grimmelshausen nimmt, indem er von Simplicius die Verkehrtheit der Menschenwelt satirisch darstellen läßt, die menschliche Willensfreiheit ernst, nicht nur wie Erasmus deren positive Aspekte, sondern gerade auch deren unaufhebbare negative Seite. Das ermöglicht ihm schließlich einen glaubwürdigen Zugang zum Theodizee-Argument152:

       Was könnte die Güte Gottes davor/wenn euer einer sein selbst vergisset […]/seinen viehischen Begierden den Ziegel schiessen läst/sich dardurch dem unvernünfftigen Viehe/ja durch solchen Ungehorsam gegen Gott/mehr den höllischen als seeligen Geistern gleich macht? Solcher Verdammten ewiger Jammer/worein sie sich selbst gestürtzt haben/benimmt drum der Hoheit und dem Adel ihres Geschlechts nichts/sintemal sie so wol als andere/in ihrem zeitlichen Leben die ewige Seeligkeit hätten erlangen mögen/da sie nur auff dem darzu verordneten Weg hätten wandlen wollen.

      Bleibt noch die Möglichkeit eines friedlichen Zusammenlebens innerhalb einer kleineren, außerstaatlichen Sozietät zu erwägen, die freiwillig, durch strenge Selbstdisziplin die negativen Aspekte der Willensfreiheit einschränkt und in Abkehr von der verkehrten Welt in Frieden lebt. Simplicius „erfindet sich“ daher eine Art zu leben, „die mehr Englisch als Menschlich seyn könnte“; er orientiert sich dabei sehr konkret an der „Manier“ der Wiedertäufer und der jüdischen Esseer153:

       da war kein Zorn/kein Eifer/kein Rachgier/kein Neid/kein Feindschafft/kein Sorg umb Zeitlichs/kein Hoffart/kein Reu! Im Summa/es war durchauß eine solche liebliche Harmonie, die auff nichts anders angestimbt zu seyn schiene/als das Menschlich Geschlecht und das Reich Gottes in aller Erbarkeit zu vermehren […].

      Simplicius verwirft diese Möglichkeit als für ihn aufgrund äußerer (politisch-konfessioneller) und innerer Widersprüche (idealistische Überforderung der menschlichen Natur) nicht realisierbar. Selbst die nun noch verbleibende Möglichkeit der Einsiedelei auf dem Mooskopf wird als eine solche Überforderung veranschaulicht und eingeschränkt. Die „mehr Englisch als Menschliche“ zweite Einsiedelei auf der exotischen Kreuzinsel setzt, wie die Continuatio folgerichtig zeigt, eine besondere Begnadigung voraus, sie ist für Simplicius aus eigener Willenskraft nicht erreichbar. Einzig in dieser paradiesischen Einsamkeit, fern von der europäischen Kriegsgesellschaft, scheint ein friedliches Leben im Einklang mit dem Liebesgebot Christi möglich. Doch Grimmelshausen ironisiert abschließend dieses Argument, mit dem Simplicius sich gegenüber den holländischen Seefahrern zu rechtfertigen versucht, die ihm die Rückkehr nach Europa anbieten. Indem Simplicius sich auf den Propheten Jonas beruft154, widerlegt er sich selbst. Der selbstgerechte Jonas mußte von Gott erst gezwungen werden, das sündige Ninive zur Umkehr aufzurufen; Feindesliebe läßt sich eben nur unter Feinden praktizieren, nicht im bequemen menschenleeren Südseeparadies. Dem tragen die simplicianischen Schriften Rechnung. Im Seltzamen Springinsfeld, im Rathstübel Plutonis und im Ewigwährenden Kalender begegnet der Leser dem zurückgekehrten alten Simplicissimus, der sich vorbildlich, mit Rat, wirksamen Schriften und sozialer Tat, um den christlichen Frieden wenigstens in seinem begrenzten oberrheinischen Wirkungskreis müht.

      IV

      Für Erasmus folgte aus der Willensfreiheit des Menschen zugleich die Freiheit, ungeachtet trüber historischer Erfahrungen einen neuen Anfang zum Frieden zu machen. Grimmelshausen beurteilt die menschliche Willensfreiheit skeptischer. Gleichwohl sieht er nicht in der quietistischen Weltflucht, in der Resignation gegenüber der für ihn im Grunde unverbesserlichen verkehrten Welt die zwingende Konsequenz, sondern in der besonderen Verantwortung des einzelnen Christen, gerade auch des Schriftstellers, für den Frieden. Daher ist es nicht verwunderlich, daß man auch in den auf den Simplicissimus folgenden Schriften erasmianische Argumentationen findet. So kritisiert er im Rathstübel Plutonis (1672) scharf die kriegstreiberische Besitz- und Profitgier des Fürstenstandes, dessen Vertreter, Secundatus, fälschlicherweise den Krieg als Mittel zur Bereicherung ansieht. Im WunderbarIichen Vogelnest (2. Teil, 1675) illustriert er die Motivation zum Krieg andererseits am Verhalten eines Kaufmanns, der als solcher eigentlich alles daran setzen müßte, den Krieg zu verhindern, und der dennoch, durch Geldgier und Ruhmsucht disponiert, der Kriegspsychose erliegt und als Freiwilliger in den Krieg zieht155. Am weitesten wagt Grimmelshausen sich in der satirischen Höllenwanderung Die verkehrte Welt vor, einer Ständesatire anhand der jeweiligen Höllenstrafen. Analog zu ihren irdischen Schandtaten müssen hier auch die Soldaten büßen. Die Strafe für den Werber besteht z.B. darin, daß er statt der verlogenen Werberede nun eine Rede über die wahre, d.h. schlimme Situation der Soldaten halten muß, eine Rede gegen den Krieg, und anschließend von den Geworbenen, die für ihre irdischen Untaten gleichfalls büßen müssen, zu kleinen Spänen zerhauen wird156. Über die Topoi der erasmianischen Kriegskritik hinaus führt der satirische Bericht des simplicianischen Erzählers über „der Christen Einigkeit/ihrer Treu/ihres Gottseligen Seelen=Eifers/und in Summa einer so seltenen in der Welt niemahls erhoerten Harmonia“, die sich bei der Kolonialisierung und gewaltsamen Christianisierung der außereuropäischen Völker inzwischen glänzend bewährt habe157. Die verwunderte Nachfrage, wie die in den vorausgegangenen Kriegen ruinierten christlichen Staaten die Kosten für „so grosse Armaturen zu Wasser und zu Land“ aufgebracht hätten, wird damit beantwortet, daß „sich nunmehr ihre Kriege wider die Unglaubige nicht allein selbst führten und ernaehrten/sondern auch Europam aus den auslaendischen Schätzen von Gold und Silber dermassen bereicherten/als vor Jahren Salomon durch den Frieden und seine grosse Weisheit zu Jerusalem immer gethan“158. Des Erasmus Aufruf an die christlichen Staaten, gegen die „Feinde des christlichen Namens“ einig zusammenzustehen und nicht untereinander Kriege zu führen, ein Gedanke, den noch 1671/72 Leibniz seinem „Consilium Aegyptiacum“ für den kriegslüsternen König Ludwig XIV. zugrundelegte, ist, das zeigt Grimmelshausen mit bitterem Sarkasmus, von der Realität längst eingeholt und zur Verbrämung eines widerchristlichen Imperialismus größten Stils pervertiert worden.

      Neben solcher Aufklärung über scheinheilige Rechtfertigungen von Krieg und Eroberungspolitik im allgemeinen hat Grimmelshausen, offenbar auch durch sein Amt als Schultheiß von Renchen, nach wie vor Anlaß, der Versuchung der jungen, unerfahrenen „Schnautzhahnen“ zum Söldnerdienst entgegenzuwirken. In seiner Flugschrift „Stoltzer Melcher“ (1672) versammelt er noch einmal alle Argumente gegen den Krieg, kritisiert seine theologische Rechtfertigung, kommt jedoch zu einer differenzierten Darstellung des Problems der Verteidigung der eigenen Heimat159. Daß schon ein Jahr später der Krieg die Ortenau und Renchen überrollte, daß er selbst 1676 in den Kriegswirren starb, widerlegt seine unbeirrbare schriftstellerische Arbeit gegen den Krieg und die Versuchung zum Kriege nicht. Mit der Verkehrtheit der Welt hatte er immer gerechnet.160

      Grimmelshausens Darstellung der Vorurteile gegenüber den Juden

      Jede Geschichte, die in Deutschland handelt, so schreibt Günter Grass in seiner Gelnhausen-Erzählung, fing vor mehr als dreihundert Jahren an.161 Die Geschichte der Vorurteile gegenüber den Juden ist zwar erheblich älter, aber die heutige Einsicht, daß es sich bei diesen Urteilen um Vorurteile, betrüglichen Wahn handelt, hat in der Tat eine dreihundertjährige Vorgeschichte. An ihrem vorsichtigen Anfang steht neben wenigen anderen auch Johann Jakob Christoffel von Grimmelshausen. Wie jeder Romanschriftsteller hatte er freilich nur begrenzte Möglichkeiten, das Denken, die Einstellungen, das Handeln seiner Zeitgenossen zu beeinflussen. Selbst ein Lessing, hundert Jahre später, hat es ja nicht vermocht, der Diffamierung der Juden und der Mordlust gegenüber dieser Minderheit auf Dauer in den Köpfen die Grundlage zu entziehen. Dem Rückfall der Deutschen des zuendegehenden 19. und des 20. Jahrhunderts in