Ein Kuckuckskind. G. Ungewiss

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Название Ein Kuckuckskind
Автор произведения G. Ungewiss
Жанр Контркультура
Серия
Издательство Контркультура
Год выпуска 0
isbn 9783956836718



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nicht mal für ein Eis zwischendurch. Durch das Putzen in anderen Haushalten bekam sie abgelegte Kleidung von den Kindern ihrer Arbeitgeber. Die durften ihre Kleinen dann auftragen, beginnend von dem Großen über jedes weitere Kind. Dabei spielte es keine Rolle, ob es sich um eine Jungenhose oder einen Mädchenpullover handelte. Hauptsache, es hielt warm, war heil und sauber.

      Jeder trägt das, was ihm passt. BASTA.

      Die Tiere wollten schließlich auch sieben Tage die Woche und das zweimal am Tag versorgt sein. So kam Willi nicht mehr so oft nach Hause. Nur noch zu den Mahlzeiten und zum Schlafen. Die Gaststätte lag auf dem Weg nach Hause und hatte für die Bauern stets geöffnet. Außerdem warteten die jungen Frauen, die während des Krieges auf ihn gehofft hatten und dann so unverschämt enttäuscht wurden. Man hatte so seine Verpflichtungen. Irgendwann kam er nicht einmal mehr zu den Mahlzeiten heim. Die Kinder nervten. Sie forderten ihren Tribut. Henny ward allein gelassen. Die Abende nahmen zu, an denen ihr Ehemann spät und betrunken nach Hause kam. Da war der Streit vorprogrammiert. Es hagelte Vorwürfe. Wut sprang ihm entgegen. Tränen flossen. Statt nach der Arbeit ihr unter die Arme zu greifen, ließ er sich volllaufen und hurte sich durch fremde Betten. Bei seiner Familie wurde er jähzornig und aggressiv. Der Vorwurf, er würde das bisschen Geld versaufen, das sie eigentlich nicht hatten, saß tief. Im Jahr war das Geld immer knapp, es wurde sich etwas geborgt und dann fiel es schwer, es zurückzuzahlen. Dafür gab es das dreizehnte Monatsgehalt, die Jahresendprämie, die an die Genossenschaftsbauern im Januar ausgezahlt wurde. Davon wurden die Schulden beglichen und die Taschen waren wieder leer. Er begann in seiner Wut zu schlagen. Zuerst seine Frau und später die Kinder. Irgendwann kippte das Ganze. Dann schlug er erst die Kinder, und da die Mutter dazwischen ging, fing sie die Hiebe ab, die dann auch mit einem Ledergürtel oder einer Peitsche verstärkt wurden.

      Die Versöhnung endete oft im Bett. Sie liebte ihn. Sie nahm Wilhelm, wie er war und verzieh ihm. Stets kam er zu ihr zurück. ›Also liebt er mich doch‹, dachte sie. ›Man kann nicht immer gleich auseinander rennen. Außerdem, wo soll ich denn hin mit den Kindern?‹

      HENNY wollte VIELE Kinder. Sie selbst war ein Einzelkind. Begab sich somit in eine Abhängigkeit, die später zu einer Ausweglosigkeit führen sollte. Sie war aufgewachsen ohne Geschwister, ohne Vater. Er sei im Krieg gefallen, hieß es. In ihrer Ehe sollte alles anders sein. Sie wollte Kinder, und für diese einen liebevoller Vater und für sich einen fürsorglichen Ehemann. Wenn Wilhelm sich dann mal fünf Minuten um ein Kind gekümmert hatte, entschädigte das seine Fehltritte für drei Monate. Warum war Henny nur so genügsam? Also, wieder ins Bett, Sex und das Ergebnis war eine Schwangerschaft. Dann ließ er sie wieder in Ruhe. Nach neun Monaten gebar sie eine Tochter. Ursel. Es war wieder alles neu. Alle kamen, um das Baby zu bewundern. Dinge für die Ausstattung wurden im Dorf zusammengetragen und Henny zur Verfügung gestellt. Ein Grund zum Feiern. Die Männer kippten sich die Birne zu.

      Das Kind war erst einmal versorgt. Es gedieh gut. Auch Wilhelm wurde wieder etwas ruhiger. Es schien, als sei seine Sturm-und-Drang-Zeit vorbei. Verhütung schien nicht in dem Umfang wie heute möglich gewesen zu sein. Die Antibabypille gab es im Osten noch nicht. Nur in Ausnahmefällen wurde diese als ein Medikament an ausgewählte Frauen verschrieben. Erst Anfang der 70er-Jahre gab es diese auf Rezept für jedermann. Sicherlich auch eine Versorgungslücke. Oder zu teuer für den Staat. Denn Medikamente wurden zum Teil mit Devisen eingekauft und den Bürgern kostenfrei zur Verfügung gestellt. Das Kuriose war: Die Pille wurde wohl in der DDR hergestellt, aber eben für Devisen an die BRD verkauft. Krankheitskosten wie Medikamente, Krankenhausaufenthalte, Untersuchung und alle Arztbesuche mussten hier nicht von den Patienten bezahlt werden. Leider standen sie gleichwohl nicht in ausreichendem Maß zur Verfügung.

      Kondome wurden allerdings verkauft. Im Konsum oder HO. Gekauft wurden sie aber in der nächsten Stadt. Aus Scham. Ja, man schämte sich damals zu bekennen, Sex mit der eigenen Ehefrau zu haben. Manche Männer hatten Angst, dass irgendjemand womöglich nachzählt, wie viele man verbraucht. Außerdem war das sowieso Frauensache. Die Dinger waren zudem rationiert wie alles andere. War es Scham, dass sie nicht damit verhüteten? Fehlte der Spaß, weil sie beim Sex störten? Schließlich ist denkbar, dass die Qualität der Überzieher nicht so ausgereift und geschmeidig war wie heute. Oder fehlte das Geld, um ›Mondos‹ zu kaufen? Es spielte wohl alles eine Rolle.

      Ein Jahr später wurde Kind Nummer fünf geboren. Mit jetzt vier Kindern galt man als kinderreich. Es war ein Junge. Der Michi. Wieder eine Feier. Dafür war immer Geld da. Klamotten waren noch genug vorhanden. Es wurde ja nichts weggeworfen. Wiederverwendung hieß das Zauberwort. Das war auch gut so. Denn eineinhalb Jahre später ward der nächste Sohn geboren. Die sechste Geburt, das nun fünfte Kind. Aber der kleine Mann verstarb noch in der Klinik. »Henny, du hast ja noch genug Kinder«, meinte der Arzt. Man kannte sich inzwischen. Taktgefühl war etwas anderes. Und gefeiert wurde trotzdem. Ohne Rücksicht auf die Gefühle der Mutter.

      Im Ort wandten sich immer mehr von ihr ab. So viele Kinder weisen auf asoziales Verhalten hin. Damit wollten viele nichts zu tun haben. Bestehende Standesdünkel wurden wieder hervorgekehrt. Es wäre nicht sauber in so einem Haushalt. Stete Unordnung, laute Verständigung. Man schrie sich an. Das wäre kein guter Umgang. Keine Manieren. Die Mutter war allein, überfordert, genervt. Leider bestätigte sich das meiste.

      Bei so vielen Kindern erziehen diese sich gegenseitig, meinte Henny. Das macht das Leben einfacher, so heißt es. Fragt sich nur für wen? Der Große, Rudi, war inzwischen neun Jahre alt. Henny wusch einmal in der Woche die Wäsche. Das erstreckte sich allerdings über zwei bis drei Tage. Und die Wäsche musste oft gewaschen werden, weil nicht ausreichend vorhanden war. Damals trug man schon mal die Hosen eine Woche. Der Waschkessel wurde nur am Samstag angeheizt. Fließend Wasser gab es in der Wohnung nicht. Man holte es aus der Pumpe, die auf dem Hof stand. Zehn Eimer Wasser à zehn Liter schluckte der Kessel. Der wurde dann beheizt, die Wäsche darin gekocht, mit einer Wäschestange daraus entnommen und in verschiedenen Zinkwannen gespült. Ein Waschkessel war meist zu wenig. Oft musste er ein zweites Mal neu mit sauberem Wasser befüllt und angeheizt werden, und die Prozedur wiederholte sich. Das Spülen und Auswringen erfolgte mit den Händen. Die Mädchen mussten früh mit zufassen und helfen. Das Wasser war kalt, die Wäsche schwer. Es war beschwerlich. Der Rücken, die Arme und Hände schmerzten. Es wollte kein Ende nehmen. Später gab es zu allem Luxus eine, nein, zwei Rollen, die an die alte Holzwaschmaschine angebaut wurden. Der Nachbar brauchte sie nicht mehr. Er hatte sich eine neue Maschine gekauft – die WM 66 oder so. Sie konnten sich das leisten, sie hatten nur ein Kind. Diese Rollen dienten zum Auswringen. Man presste damit das Wasser aus den Textilien, damit wurden die Sachen für einen Moment leichter. Bis zum Spülen. Dann ging alles von vorn los. Ein Waschvollautomat war zu dieser Zeit pure Utopie.

      In einer Holztrommel drehte ein Kreuz in der Seifenlauge das Waschknäuel hin und her. Auch hier wurde zuvor das Gerät mit vorgewärmtem Wasser befüllt. ›Turmperle‹ hieß die große Waschhilfe nach dem Waschbrett. Kein Wunder, dass die alten Menschen früh unter Rheuma litten.

      Die Jungen mussten schon im eigenen Stall mitarbeiten. Die Tiere füttern, ausmisten und den Mist in den Garten fahren. Wer etwas essen will, muss auch mit zupacken, sagte der Vater. Das war die Vorbereitung auf die Verantwortung, die Leben heißt. Es gab keine Wahl. Zufassen musste jeder, sonst gab es Hiebe.

      VOLKSFEST

      Einmal im Jahr fand ein Volksfest statt. In manchen Gegenden nannte man es auch Kirmes, Rummel oder Schützenfest. Das war der kulturelle Höhepunkt in dieser Region. Schließlich führte es nicht nur die Menschen aus dem eigenen Dorf, sondern auch aus den Nachbarorten zusammen. Schon eine Woche vorher wuchs die Aufregung und Vorfreude auf das Ereignis. Wenn die Wagen der Schausteller dann durch die Straßen rollten, liefen die Kinder herbei und bildeten ein Spalier. Später trafen sie sich auf dem Sportplatz, wo die Fahrgeschäfte aufgebaut wurden. Es war so spannend! Welche Überraschungen verbargen sich wohl in den großen Wagen? Oh, es dauert noch so lange, bis sich die Türen der geheimnisvollen Waggons öffnen würden. Die Aufregung war groß.

      Als es dann so weit war, freuten sich die jungen Erwachsenen auf Musik und Tanz. Die Kinder fuhren mit der Berg- und Talbahn, mit der Luftschaukel, dem Kettenkarussell und standen mit großen Augen