Ein Kuckuckskind. G. Ungewiss

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Название Ein Kuckuckskind
Автор произведения G. Ungewiss
Жанр Контркультура
Серия
Издательство Контркультура
Год выпуска 0
isbn 9783956836718



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Grenzen nach Westdeutschland waren provisorisch geschlossen. Die politischen Abgrenzungen wurden immer drastischer und nahmen zu. Das Land sollte geschützt und gesichert werden, aber vor wem? Ein neues Feindbild wurde von staatlicher Seite aufgebaut und vermittelt. In der Freizeit betrieben viele Propaganda. Später auch ganz offiziell während der Arbeitszeit. Die Stallarbeit blieb liegen. Die politische und gesellschaftliche Verantwortung wurde im sogenannten Ehrenamt verwirklicht.

      Henny und ihre Familie befanden sich in der Ostzone, eine der vier Besatzungszonen, die es nach dem zweiten Weltkrieg gab. Das Gebiet war von den Russen besetzt und die Verwaltung wurde von der sowjetischen Staatsmacht diktiert. In Russland gab es schon den Sozialismus. Hier sollte dieser ebenfalls praktiziert werden – nach dem Vorbild der großen Sowjetunion. Sie nannten sich ›Freunde‹. Jahre später wurden sie ›Brüder‹ genannt, weil man zwar das gleiche Ziel verfolgte, man sich schließlich aber die Freunde aussuchen konnte, aber Brüder nicht. Viele hätten lieber andere Wege eingeschlagen, hatten aber keine Wahl. Sie hatten sich zu beugen. Schließlich waren es die Deutschen, die über die Menschheit großes Unglück, Leid, Elend, Armut und Krankheiten gebracht hatten. Somit hatten sie demütig das letzte Hemd herzugeben und zu tun, was die Siegermächte verlangten. Es bestand eine Diktatur. Nach Karl Marx war es die »Diktatur des Proletariats«. Nach der zunehmenden Auffassung der hier lebenden Bürger war es aber eine Diktatur der Russen über die Ostdeutschen. Über den restlichen Teil Deutschlands befanden die Engländer, Franzosen und Amerikaner. Nur die Deutschen hatten nichts mehr zu sagen.

      Im Osten sollte der Sozialismus aufgebaut werden. Eine Staatsform, in der es allen gut gehen sollte. Es war schwer, aus Schutt und Asche Optimismus aufzubauen. Sie sollten etwas Neues, Wunderbares schaffen. Eine Gesellschaft, in der alle gleich sind. Ohne Standesdünkel. Ohne Vorurteile. Jetzt sollten die, die die Arbeit leisteten und die Früchte anbauten, diese auch ernten und verzehren. Ja, da machen alle gern mit, oder? Deshalb entschied auch Wilhelm, eine politische Schulung über sich ergehen zu lassen. Er gehörte dazu und verstand die aktuelle Entwicklung besser. »Was ist denn dabei, alles gemeinsam anzupacken, aufzubauen und zu nutzen?«, sagte er. »Das kann nur richtig sein.«

      Im Westen hielt man an dem Konkurrenzkampf fest. Der Kapitalismus blieb erhalten. Der Aufbau ging dort durch die amerikanische Unterstützung viel schneller voran. Der Wohlstand wuchs dort im Vergleich zum Osten drastisch. Trotz Ausbeutung der Arbeiterklasse. Und hier? Hier baute man wohl auf Bescheidenheit und Dankbarkeit.

      Hier hieß es: sozialistischer Wettbewerb. Es mangelte an Rohstoffen und materiellen Wirtschaftsgütern. Das, was funktionierte, wurde von den Russen abgebaut und in das gelobte Land geschickt. Man sollte im Osten der Republik aus Scheiße Geld machen. Das Rezept dafür war noch unbekannt. Deshalb wuchs auch der Drang, in den goldenen Westen abzuhauen, um dort ein üppigeres Leben führen zu können. Nach der Zeit des Darbens war jetzt leben angesagt. Dies gelang im Westen besser. Viele junge Menschen wollten sich der Diktatur im Osten nicht fügen. Selbstbestimmt wollten sie ihr Land aufbauen und sich nicht sofort wieder unter einer anderen Knute wissen. Deshalb träumten viele von einem Leben in der Bundesrepublik Deutschland. Die gründete sich nach dem Ausruf des Grundgesetzes der BRD im Mai und ein paar Monate später, im September 1949, mit der Wahl des Bundetages. Vier Monate danach zog die sowjetische Regierung nach und gründete die DDR. Ab dem 7. Oktober 1949 begann man in Deutschland zweisprachig zu sprechen: Westdeutsch und sozialistisches Deutsch. Der Traum von der Wiedervereinigung war ausgeträumt und der Bau der bereits auf dem Papier gezogenen Grenze begann – erst mit Zäunen, Mauern, Gräben, dann mit Stacheldraht, Minenfeldern und auch Selbstschussanlagen.

      Um die Flucht einzugrenzen und letztlich auch zu beenden, brauchte man Helfer der Volkspolizei, die mit einschreiten sollten, wenn Republikflüchtige unterwegs waren. Die Grenzen wurden allmählich sicher geschlossen. Neben dem herkömmlichen Stacheldraht wurden bewaffnete Posten aufgestellt, sogar mit abgerichteten Wachhunden und zum Teil eben auch mit mörderischen Selbstschussanlagen, die gegen die eigene Bevölkerung gerichtet waren. Aber Genaues wussten die Grenzschützer nicht. Alles das war geheime Verschlusssache.

      Die ausgebildeten ehrenamtlichen Polizisten nannte man hinter vorgehaltener Hand die »Hilfsscheriffs«. Wilhelm war einer von ihnen. Das machte nicht nur die Männer, sondern auch deren Frauen stolz. Sie wurden zu einer Gemeinschaft. Zusammenarbeit wurde großgeschrieben. »Gemeinsam sind wir stark!«, lautete die Parole. Gegenseitige Hilfe wurde selbstverständlich. Keiner blieb mit seinen Sorgen allein. Allerdings wachsen in so einer Gemeinschaft auch das Misstrauen und die Zweifel. Leider! Man erfuhr aber erst Jahre später, dass Menschen bei einer geheimen Mission die eigenen Freunde und Nachbarn ausspionierten und an die Staatssicherheit verrieten, um sich selbst ein paar Mark dazuzuverdienen und einen Posten zu sichern.

      Dafür erhielten sie Geld? Um ihre Mitmenschen zu verraten? Sogar vor Provokationen schreckten diese Mitmenschen nicht zurück. Sie provozierten ein brisantes Thema am Kneipentisch, und am nächsten Tag war der ehrliche Nachbar nicht mehr zu erreichen. Allein eine unbestimmte Aussage wie: »Ich haue ab!«, brachte die Stasi später auf den Plan.

      Es war nicht zu verstehen, nur verwunderlich, wieso die Stasi immer so gut informiert war, trotz der spärlich vorhandenen Technik. Heute wissen wir es. Nicht die Menschen mit einer anderen Meinung waren Verbrecher, sondern die Spitzel der Stasi. Das war Verrat an der Menschlichkeit. Auch in unserer Familie gab es so einen Verräter. Ein junger Mann, dem ich vertraute. Ein Mensch, der durch seinen Fleiß und seine Weltoffenheit meinen Respekt und meine Bewunderung hatte. Davon ist heute nichts mehr übrig.

      DER ALLTAG HIELT EINZUG

       Arbeit, Familie, Kinder, Streit, Versöhnung und die nächste Schwangerschaft.

      Wieder wurde ein Sohn geboren. Er wurde nicht einmal ein Jahr alt. Das Kind verstarb im Alter von elf Monaten an Ernährungsstörungen. Was auch immer das heißen sollte. Die Muttermilch reichte nicht mehr aus und die Ersatznahrung vertrug der Kleine nicht. Wer Beziehungen hatte, ließ sich Trockenmilch aus dem Westen schicken. Doch Henny hatte keine Beziehungen zum Westen und verzweifelte an dem Leid des Kindes. Stets war er krank. Bauchschmerzen. Vertrug keine Kuhmilch. Die Ärzte waren ratlos. Norbert starb. Trauer zog in das Haus am LPG-Hof ein. Bisher gab es hier nur Lebensfreude. Sex, Tanz, Arbeit, Singen, Kaffeeklatsch, Federn schleißen …

      Nun der Tod. Eine Welt brach zusammen. ›Warum kann es nicht so fröhlich und bunt in unseren Herzen bleiben?‹, fragte sich Henny. Weinend zog sie ihre Kleinen an sich und drückte sie fest an ihr Herz. Sie fand Trost in ihren beiden Rackern, die noch so unbekümmert schienen. Und gut, dass es Freunde gibt. Die halfen ihr, in den Alltag zurückzufinden. Ihre zwei Kinder beanspruchten sie zusehends und lenkten sie ab. Sie wurde vom Alltag aus den bedrückenden Grübeleien herausgeholt und flüchtete sich in die Arbeit.

      Durch die Bodenreform gingen viele der Dorfbewohner in die neu gegründeten Landwirtschaftsbetriebe und halfen im Feldbau oder der Tierproduktion. Dadurch erhielten die Menschen, die auf dem Land blieben, Ställe oder andere Gebäude, die sie sich zu Wohnungen aus- oder umbauen konnten. Material zum Bauen gab es per Zuteilung von der LPG oder einer entsprechenden Einrichtung namens BHG – die Bäuerliche Handelsgenossenschaft. Ähnlich wie bei den Lebensmittelkarten musste man sich auch hierfür anmelden und warten, bis man dran war, um Zement oder Fliesen zugewiesen zu bekommen – das aber oft nur in unzureichender Menge. Das konnte schon mal ein paar Jahre dauern, eh man seine bereits begonnenen Baumaßnahmen zu Ende bringen konnte. Vitamin B war erforderlich. Zu jeder Zeit brauchte man seine Gönner. Auch hier. Leider!

      Die Aufgaben innerhalb der Familie hatten sich sondiert. Der Vater ging in den Stall und versorgte die Tiere der LPG. Melkte, mistete aus und fütterte die Rinder und seinen Haflinger Lotte, der dort untergestellt war. Zu Hause hielt man sich zusätzlich Schweine, um die Versorgung über den Winter für die Familie zu sichern. Da fiel halt von der LPG auch Futter für das eigene Vieh ab. Das spart. Schließlich reichte es bei den meisten vorn und hinten nicht. (»Sozialistisch umlagern« nannte man das. Ich hätte gesagt: Das Futter wurde geklaut.)

      Die Mutter versorgte die Kinder, immerhin zwei an der Zahl, den Haushalt, den Mann, half im Stall und putzte in fremden Haushalten, um die Familienkasse aufzubessern. Es war schwer,