Wie die Sonne in der Nacht. Antje Babendererde

Читать онлайн.
Название Wie die Sonne in der Nacht
Автор произведения Antje Babendererde
Жанр Учебная литература
Серия
Издательство Учебная литература
Год выпуска 0
isbn 9783401807621



Скачать книгу

rechts und links, bevor er über die Straße zum Schaufenster des Ladens ging. Mara folgte ihm, und er deutete auf die beiden kleinen Bären aus Ton, die sich umarmten.

      »Die Bären?«

      Er nickte wieder und machte ihr ein Zeichen, dass er etwas aufschreiben wollte. Mara griff in ihre Tasche und reichte ihm Stift und Schreibblock.

      meine Mutter hat sie gemacht

      Maras Augen begannen zu leuchten. »Na, das ist doch etwas. Komm, wir gehen rein und fragen. Vielleicht wissen die ja, wo deine Mom wohnt.«

      Die junge Frau hinter dem Ladentisch warf mir einen ärgerlichen Blick zu und schien zu überlegen, ob sie mich diesmal ignorieren sollte.

      »Tut mir leid«, sagte ich, »ich dachte, ich hätte ihn verloren.« Ich deutete auf Kayemo, der die junge Frau mit der Nestfrisur und den roten Lippen mit offenem Mund anstarrte. »Was kostet denn die Bärenskulptur?«

      »Zwanzig Dollar«, antwortete die Verkäuferin kaugummikauend. »Ist übrigens die Letzte, ich habe sie gestern beim Aufräumen im Lager gefunden.«

      »Okay, ich nehme sie.«

      Sie holte die Figur aus dem Schaufenster und gab sie mir. Auf der Unterseite stand Merina R. in den Ton geritzt. Ich zeigte Kayemo den Schriftzug, und er schluckte hart, bevor er nickte.

      »Wissen Sie, wofür das R. steht und wo die Künstlerin herkommt?«, fragte ich, als ich ihr meine Kreditkarte reichte.

      Achselzucken. »Da musst du den Chef fragen, ich bin erst seit einer Woche hier. Aber ich nehme mal an, aus Taos Pueblo. Die machen doch dort diese Goldglimmerkeramik.« Sie zog die Karte durch den Automaten, gab sie mir zurück und ich unterschrieb den Beleg. »Soll ich sie euch einpacken?«

      Kayemo hielt die Bärenskulptur in den Händen wie einen wertvollen Schatz. Seine Lippen bebten, und ich konnte sehen, wie er versuchte, seine Gefühle in Schach zu halten, während er sich das Gehirn zermarterte.

      »Nicht nötig«, antwortete ich. »Danke.«

      Wir verließen den Laden und stiegen wieder in den Pick-up.

      Kayemo sah furchtbar aus, völlig fertig, und ich war mir nicht sicher, ob er noch lange durchhielt.

      »Willst du zurück nach Hause oder sollen wir noch zum Taos Pueblo fahren? Ist nicht weit und vielleicht stammst du ja von dort.«

      Kayemo nickte. Er umklammerte die Bärenskulptur, war immer noch völlig durcheinander.

      Ich seufzte. »Taos Pueblo?«

      Nicken.

image

      Ich fuhr den Paseo del Pueblo Norte bis fast zum Ende der Stadt und lenkte den Pick-up auf den Veterans Highway, der zum Pueblo abzweigte. Es war eins der beiden Indianerdörfer in der Nähe von Taos, die schon seit Jahrhunderten bewohnt waren.

      Wenn Kayemo aus dem Pueblo stammte, würde ihn ganz sicher jemand erkennen und sich das Ganze schnell aufklären. Sein Zuhause wäre nur ein paar Kilometer vom Haus der Elliots entfernt, und ich könnte ihn besuchen, wann immer ich wollte. Kayemo würde mir dankbar sein und vielleicht …

      Zugegeben, ich fühlte mich zu ihm hingezogen. Zwischen Kayemo und mir war schon bei unserer ersten Begegnung etwas in Bewegung geraten, etwas, das zerbrechlich war und jeden Moment davongeweht werden konnte, aber von ungeheurer Intensität. Das hatte ich noch bei keinem Jungen gespürt, nicht einmal bei Nils. Warum also ausgerechnet bei Kayemo?

      Ich wusste ja nicht einmal, was für ein Mensch er war. Fremdartig, ja. Geheimnisvoll. Doch wie sah er die Welt? Welche Musik mochte er, welche Bücher? Was war sein Lieblingsfilm? An was glaubte er? Worüber lachte er? Liebte er ein Mädchen mit dunkler Haut und schwarzem Haar?

      Schwer, Antworten auf diese Fragen zu finden, wenn derjenige nicht sprechen und sich nicht einmal an seinen Nachnamen erinnern konnte. Kayemo gab mir so viele Rätsel auf.

      Nachdem wir das stammeseigene Taos Mountain Casino passiert hatten, bog ich am Ende der Straße rechter Hand auf den unbefestigten Parkplatz direkt vor der Friedhofsmauer des Pueblos. In den Sommermonaten war Taos Pueblo ein Touristenmagnet und auch jetzt parkten etliche Autos hier. Wir stiegen aus und Kayemo strebte sofort magnetisch angezogen zum Eingang des Adobe-Dorfes. Ich hielt das für ein gutes Zeichen, trotzdem musste ich ihn zurückhalten.

      »Warte, nicht so eilig!«, rief ich. »Wir müssen erst Eintritt bezahlen – na ja, ich zumindest.«

      Die Frau an der Klasse erkannte Kayemo leider nicht, also kostete mich der Eintritt für uns beide inklusive Fotoerlaubnis schlappe zweiunddreißig Dollar.

      Mit einem Plan vom Pueblo, auf dem auch ein paar Verhaltensregeln standen, liefen wir am Friedhof vorbei, der linker Hand vor den Häuserkomplexen lag und von einer altersschwachen Adobe-Mauer umgeben war. Kayemo blieb einen Moment stehen, um den halb eingefallenen Glockenturm der alten Kirche und die umgefallenen Holzkreuze zu betrachten. Er hielt den Kopf leicht schief gelegt und schien angestrengt nachzudenken. Sein langes schwarzes Haar glänzte in der Sonne bläulich wie Zambos Rabengefieder.

      Mein Herz schlug schneller und ich ertappte mich schon wieder beim Träumen. Kayemos Mund sah so aus, als könne er gut küssen.

      »Erinnerst du dich an diesen Turm?«

      Er zuckte mit den Schultern und wir liefen weiter, vorbei an der hüfthohen Umfassungsmauer der San-Geronimo-Kirche. Neben dem weiß gestrichenen, gezackten Torbogen mit dem kleinen Kreuz blieb Kayemo stehen und ich hörte ihn scharf einatmen.

      Sein Blick wanderte über die weitläufige, vom Red Willow River durchflossene Plaza des Pueblos. Zu beiden Seiten des Flusses, dessen Ufer von hohen Pappeln und Weidendickicht gesäumt war, ragten zwei Häuserpyramiden auf, die sich wie Riesenstufen vom ersten bis zum vierten, auf der Nordseite sogar bis zum fünften Stockwerk erhoben.

      Die Lehmwände der Gebäudekomplexe und der einzelnen Häuser hatten denselben Farbton wie der festgetretene Boden der Plaza, deshalb schien es, als wäre der Pueblo direkt aus der Erde hervorgegangen. Hinter dem nördlichen Teil erhoben sich die bewaldeten Flanken des Pueblo Peak, hinter dem südlichen der Capulin Peak und über allem strahlte ein mak ellos blauer Himmel.

      Am Rand der Plaza tollten drei dunkelhäutige Kinder mit jungen Hunden herum und wälzten sich mit ihnen im Staub – doch sonst sah man nur wenige der Bewohner.

      Obwohl ich zusammen mit meinen Gasteltern und Rosaria bereits dreimal hier gewesen war, zog mich der Anblick des alten Indianerdorfes erneut in seinen Bann. Und Kayemo schien es nicht anders zu gehen. Völlig versunken stand er da, und sein Blick schweifte über die uralten Gemäuer mit ihren an die Dachkanten gelehnten Leitern, den vorstehenden Dachbalken – den Vigas – und verschwand in den unbefestigten Gassen zwischen den schachtelartigen, noch bewohnten Häusern, deren Zugang für Besucher gesperrt war.

      »Erkennst du etwas wieder?«

      Seine Hände antworteten, aber ich verstand sie nicht. Wieder kramte ich in meiner Tasche und reichte ihm Zettelblock und Kuli.

      Ich war schon mal hier, schrieb er, aber das ist lange her.

      »Es ist also nicht dein Zuhause?«

      Kopfschütteln.

      Okay, Fehlanzeige. Aber das war ja auch der erste Versuch. Mit Sicherheit stammte Kayemo aus der näheren Umgebung. Rund zehn Meilen in südlicher Richtung lag Pueblo Quemado, viel kleiner als Taos, mit Adobe-Häusern, die nur zwei Stockwerke hoch waren und nicht fünf. Im Gegensatz zu den Leuten von Taos hatten sich die Bewohner von Quemado für die Abgeschiedenheit entschieden und verweigerten sich dem Tourismus ganz. Nur an bestimmten Festtagen luden sie Fremde in ihren Pueblo ein.

      Insgesamt gab es neunzehn bewohnte Pueblos in den Tälern des Rio Grande. Und wenn es sein musste, würde ich