Die Eiswolf-Saga. Teil 1-3: Brudermord / Irrwege / Wolfsbrüder. Drei historische Romane in einem Bundle. Holger Weinbach

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wirst du alles erfahren und begreifen.“

      Faolán verstand zwar kein Wort des Cellerars, doch er nahm sich vor, den Ratschlag des Mönches zu befolgen. Er nickte zustimmend und der Cellerar war sichtlich erleichtert. Ein zufriedenes Lächeln zeigte sich wieder auf Ivos Lippen. „Ein Mädchen war es also die ganze Zeit. Ich Narr, ha!“

      Noch einmal erklang sein herzhaftes Lachen im sonst so stillen Wald, während sich der Wagen unaufhaltsam weiter von der Stätte dieser außergewöhnlichen Begegnung entfernte.

      „Willst du mir nicht ihren Namen verraten?“, fragte der Kellermeister ganz beiläufig. Faolán schwieg. Nein! Er würde ihren Namen nicht preisgeben. Weder Bruder Ivo, noch seinen Freunden würde er ihn nennen. Es sollte sein Geheimnis bleiben, das er mit niemandem teilen wollte.

      Der Wagen holperte weiter über Steine und Wurzeln. Noch einmal blickte Faolán zurück, sah in der Ferne die Stelle, wo Svea gestanden hatte. War es tatsächlich Liebe, die er für sie empfand? Oder war es nur eine besondere Freundschaft, die beide miteinander verband? Er wusste es nicht. Nur eines war ihm klar: Was immer es auch sein mochte, es war zumindest etwas Besonderes und Einzigartiges. Alles andere interessierte ihn im Augenblick nicht.

      Anno 963 – Nach dem Winter

      Auf der Innenseite der trüben Fensterscheiben hatten sich Eisblumen gebildet, während draußen stetiger Schneefall die Umgebung in ein sanftes Weiß hüllte. Faolán konnte die Landschaft durch das vereiste Glas nur erahnen, welches selbst bei guter Witterung nicht durchsichtig, sondern gräulich wie dünnes Pergament schimmerte.

      Mit kalten Fingern rieb der Novize eine kleine Stelle vom Eise frei, wie er es schon mehrere Male getan hatte, und starrte durch die trübe Scheibe, ohne etwas erkennen zu können. Es war zwecklos, denn in den kalten Gebäuden des Klosters schlug sich die Feuchtigkeit seines warmen Atems sogleich auf der eisigen Glasfläche nieder und überzogen sie erneut mit Frost. Doch Faolán musste auch nicht hinter die Scheiben blicken, denn in seiner Erinnerung fand er sich in den sommerlichen Wäldern jenseits der Klostermauern wieder.

      So saß er, mit einem Buch auf dem Schoß, auf einer der Bänke des Lehrsaales und gab vor zu lesen, wie es alle Novizen aufgetragen bekommen hatten. Mit einem frostigblauen Finger fuhr er langsam die Zeilen entlang, ohne seine Augen folgen zu lassen. Es war Faolán unmöglich, sich auf die Worte zu konzentrieren. Er vergaß sogar die Kälte, die sich in seinen Gliedmaßen festgesetzt hatte, denn seine Gedanken weilten im Sommer und Herbst des vergangenen Jahres, lange vor dem frühen Wintereinbruch im November. Immer wieder durchlebte er die sonnigen Nachmittage, die er gemeinsam mit Svea verbracht hatte. Wie sehr er sich nach ihr sehnte!

      Das war eine ganz neue Erfahrung für ihn, jemanden zu vermissen. Wenn er daran dachte, wie lange er Svea nicht gesehen hatte und wie lange es bis zu einem Wiedersehen wohl noch dauern mochte, konnte der Frühling nicht schnell genug kommen. Es war ein merkwürdiges Verlangen, das er verspürte.

      Inzwischen leugnete Faolán nicht mehr, dass er für dieses außergewöhnliche Mädchen mehr als nur Freundschaft empfand – er hatte Svea regelrecht in sein Herz geschlossen. Sein Freund Ering hatte es von Beginn an richtig gedeutet und Faolán hatte nichts dagegen unternehmen können. Er wollte es auch gar nicht, denn im Grunde genoss er dieses Gefühl. Lediglich die gegenwärtige Einsamkeit quälte ihn. Doch das bestärkte wiederum Faoláns Auffassung, dass seine Gefühle für Svea rein und tiefgründig waren und nicht nur eine vorübergehende Laune.

      Was so harmlos mit ein paar Blickkontakten auf dem Markt begonnen hatte, entwickelte sich schon bald zu regelmäßigen Treffen. Um diese zu ermöglichen, unterbrach Bruder Ivo nach jedem Markt die Rückfahrt, und zwar genau dort, wo der Pfad zum verborgenen Tümpel führte. Viele Nachmittage verbrachten Faolán und Svea am versteckten Weiher, wo sie sich lange unterhielten. Diese Gespräche waren zu Faoláns Überraschung viel mannigfaltiger als jene im Kloster, ja nahezu unbegrenzt, und der Novize erhielt Einblicke in das vielseitige Leben außerhalb der Bruderschaft.

      Obwohl Svea gerade in Hinsicht auf die Abtei anders dachte als Faolán, wurde sein Glaube dadurch weder erschüttert, noch wollte er dem Kloster und seinem bisherigen Leben entsagen. Allerdings erkannte der Novize, dass ein Leben außerhalb der Abtei von weitaus größeren Nöten als dem eigenen Seelenheil bestimmt wurde. Für viele war es ein Kampf um das bloße Überleben. Den trugen die meisten Menschen Tag um Tag, Jahr um Jahr aufs Neue aus, und es war niemals gewiss, wer bei diesem Ringen die Oberhand behalten würde. Während Mönche in einer großen und starken Gemeinschaft lebten, waren die Menschen außerhalb der Abtei meist auf sich allein gestellt.

      Durch die Gespräche erfuhr Faolán auch viel über Svea. Nie hätte er geglaubt, jemals so viel über einen Menschen erfahren zu können oder zu wollen, wie über sie. Inzwischen wusste er, dass sie die einzige Tochter eines armen Bauern aus Neustatt war, jedoch nicht mehr bei ihm lebte. Ihre Mutter war kurz nach ihrer Geburt gestorben und über das zweite Eheweib ihres Vaters verlor das Mädchen kaum ein Wort. Den Grund, weshalb Svea nicht mehr bei ihrer Familie lebte, obwohl sie oft von ihren Brüdern erzählte, verschwieg sie, selbst als Faolán danach fragte.

      Dass sie schon seit einigen Jahren bei einer Kräuterkundigen namens Alveradis lebte, die irgendwo in den Wäldern zwischen Neustatt und dem Kloster hauste, schien für sie ganz normal zu sein. Ebenso normal schien es, dass die Weise Frau das Mädchen in ihr Wissen einweihte, beinahe in gleicher Weise wie Faolán von den Mönchen unterrichtet wurde.

      Svea besaß gute Kenntnisse über Pflanzen und Tiere, ganz gleich ob Baum oder Blume, Käfer oder Fuchs. Sie wusste Dinge, von denen Faolán noch nie etwas gehört hatte, denn diese waren mit der christlichen Lehre alles andere als vereinbar. Darüber hinaus wurde Svea von Alveradis auch noch in anderen Bereichen unterwiesen, die weit über Faoláns Verständnis hinausgingen. Die wilde Frau hatte als erste bemerkt, dass Svea die besondere Gabe des Gesichts besaß.

      Faolán hatte das Mädchen früh auf diese Fähigkeit angesprochen und gefragt, ob sie in die Zukunft blicken könne. Zu seiner Verwunderung sprach Svea zu Beginn nur sehr wenig darüber. Sie besaß eine Gabe, die sie oft selbst nicht so recht verstand und die sie anfangs auch geängstigt hatte. Doch einfach in die Zukunft zu blicken, das vermochte sie nicht.

      Alveradis war jedoch sehend, wie Svea es nannte. Sie besaß die Fähigkeit, Dinge wahrzunehmen, die den meisten Menschen verborgen blieben. Dadurch konnte sie Svea helfen mit mit ihrer besonderen Begabung umzugehen, sie richtig anzuwenden und die Bilder ihrer Eingebungen zu deuten. Darin lag nämlich die größte Schwierigkeit und Herausforderung. Allerdings erhielt die Schülerin bislang nur wenige Eindrücke aus der anderen Welt, wie sie es nannte, und diese kamen meist spontan, ohne dass sie dies beeinflussen konnte. Bilder tauchten dann unerwartet vor ihrem geistigen Auge auf, begleitet von starken Empfindungen, die sie als wichtige Begebenheiten für bestimmte Menschen deutete.

      Svea lernte von Alveradis auch, ihr besonderes Können vor anderen Menschen zu verbergen. Die Kräuterfrau war davon überzeugt, dass derartige Fähigkeiten für ihren Besitzer schnell zum Verhängnis werden konnten, sollten sich andere davor fürchten. Alveradis sorgte sich um ihre Schülerin wie eine Mutter. Gegen den Rat ihrer Mentorin vertraute das Mädchen Faolán mit der Zeit einiges über ihre Gabe an. Unter anderem auch, dass sie niemals sicher sein konnte, ob ihre Deutung des Gesehenen auch der Wahrheit entsprach. Was bedeutete es zum Beispiel, wenn das Haupt eines Mannes plötzlich von einem silbernen Schein umgeben war? Sie wusste es nicht und Faoláns Gedanke, dieser Mensch könnte ein zukünftiger Heiliger sein, tat er selbst schnell als Unfug ab. Manchmal waren es Gegenstände, die Svea sah, manchmal auch nur fremde Gefühle, die sie überkamen. Faolán begriff allmählich, dass diese Fähigkeit keine leichte Bürde war.

      Einige Male wollte der Novize wissen, ob Svea auch bei ihm etwas Ungewöhnliches sehen oder wahrnehmen konnte, doch er wagte nicht danach zu fragen. Seine Furcht vor einer schlechten Nachricht war viel zu groß, und so schwieg er lieber. Er würde warten, bis Svea ihn von selbst darauf ansprach. Doch sie tat es nicht und so glaubte er, dass es bei ihm schlichtweg nichts Außergewöhnliches wahrzunehmen gab.

      Faolán genoss jeden Augenblick mit Svea, ohne sich Gedanken darüber zu machen, was alles passieren könnte. Um sich Sorgen zu machen waren die kurzen Momente am verborgenen