Die Eiswolf-Saga. Teil 1-3: Brudermord / Irrwege / Wolfsbrüder. Drei historische Romane in einem Bundle. Holger Weinbach

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Menschen würden dem Angriff hilflos ausgesetzt sein, sollten sie keine Warnung erhalten, dachte Sigrun. Die Gräfin konnte sie nicht einfach so zurücklassen. Schnell fand Sigrun eine Magd, die sie schon viele Jahre kannte, ließ Rogar zu Boden und weckte sie. Die schlaftrunkene Frau erkannte ihre Herrin nicht sofort und blickte verstört auf. Als sie jedoch die Sorge im Gesicht der Gräfin bemerkte, war sie hellwach. Besonnen erklärte Sigrun ihr die Lage. Die Magd schlug erschrocken die Hände vor den Mund, Sigrun ließ ihr jedoch keine Zeit für Verzweiflung und fuhr fort:

      „Die Angreifer sind bereits im Hof. Leistet keine Gegenwehr! Verhaltet euch ruhig. Nur dann wird man euch verschonen. Macht nichts Unüberlegtes und schützt die Kinder! Gebt den Eindringlingen alles, wonach sie verlangen, sonst bezahlt ihr womöglich mit eurem Leben.“

      Mehr gab es nicht zu sagen. Sigrun vergewisserte sich, dass die Magd sie auch verstanden hatte. Sofort schritt die alte Frau zur Tat und weckte ihre Nachbarin. Sigrun wusste, dass sie für diese Aufgabe niemand Besseren hätte auswählen können. Mit dieser Gewissheit raffte sie sich wieder auf, um sich und ihren Jungen endlich in Sicherheit zu bringen.

      Am gegenüberliegenden Ende der Halle trat sie mit Rogar an der Hand durch eine kleine Tür, die auf den Burghof führte. Die Eindringlinge erstürmten bereits die Gebäude und vereinzelt hörte man schnell verstummende Schreie. Sigrun wusste, dass sie vorsichtig und flink zugleich sein musste. Sie durfte nicht lange im Schatten des Hauptgebäudes auf einen geeigneten Augenblick warten. Geschwind huschte sie mit ihrem Jungen über einen Teil der freien Hoffläche und verschwand im abgelegenen Kochhaus. Hastig durchquerten die beiden den kleinen Bau. Im Vorbeigehen griff Sigrun nach einem Laib Brot und stopfte ihn Rogar in den Hemdausschnitt. Dann hatten sie schon die nächste Tür erreicht und es galt noch einmal auf den unsicheren Hof hinauszugehen. Vorsichtig öffnete Sigrun die Tür einen Spalt und spähte hinaus.

      Die Stallungen der Herrschaft waren ihr nächstes Ziel, doch sie lagen aufgrund der Brandgefahr des Kochhauses recht weit entfernt. Ohne zu zögern rannte sie zu dem großen Gebäude hinüber, so schnell es ihr mit Rogar möglich war. Wenige Augenblicke später schlüpfte sie unversehrt durch das Tor in das Dunkel zu den Pferden und hoffte, dass niemand sie bemerkt hatte.

      Die Tiere waren nervös. Ihnen war die Unruhe in der Burg nicht entgangen und sie witterten den Tod, der mit dem Angriff Einzug gehalten hatte. Sigrun lief zu ihrer grauen Stute. Das Pferd war ein sanftes und ruhiges Tier, das selbst bei dem herrschenden Chaos die Nerven behielt. Mit besänftigenden Worten führte Sigrun das Pferd zu dem Holzgestell, auf dem sich ihr Sattel befand. Rogar blieb ruhig stehen und schaute seiner Mutter zu. Dabei umklammerte er den Laib Brot unter seinem Hemd, als gäbe er ihm einen sicheren Halt. In seinen Augen konnte Sigrun seine innere Unruhe und Fragen erkennen, die ihn quälten, doch er ließ nichts davon nach außen dringen, kein einziges Wort. ‚Wie sein Vater, dachte sie liebevoll und ein gewisser Stolz erfüllte sie. Dann ergriff sie den Sattel, zog ihn vom Gestell und legte ihn auf den Rücken der Stute.

      Noch bevor Sigrun die ledernen Riemen schnüren konnte, wurde eine Nebentür des Stalles mit Wucht aufgestoßen. Zwei grobschlächtige Männer mit blutigen Schwertern betraten den Stall. In ihren Augen glühten der Irrsinn des Kampfes und der Rausch des Tötens.

      Sigrun erkannte sofort die Unberechenbarkeit dieser Männer. Schnell warf sie den hölzernen Sattel zu Boden, ergriff Rogar mit beiden Händen und hob ihn auf den Rücken des Pferdes. Im Gesicht des Jungen zeichnete sich jetzt offene Furcht ab. Sigrun blickte in die Augen ihres Kindes. Tränen bahnten sich auf beiden Gesichtern ihren Weg, als sie begriffen, was jetzt geschehen musste. Rogar versuchte das Unvermeidliche mit einem Kopfschütteln zu verneinen, doch Sigrun wusste keinen anderen Ausweg. Sie löste ihren Umhang mit einer Hand, während sie mit der anderen ihren Jungen auf dem Pferd hielt. Das schwere Leinen warf sie um Rogar und hüllte ihn darin ein.

      Die beiden Barbaren stießen plötzlich ein wildes Gebrüll aus, als sie Mutter und Sohn entdeckten. Jetzt blieb keine Zeit mehr. Sigrun führte das Pferd an der Mähne die letzten Schritte durch das Tor des Stalles. Das dumpfe Stampfen der herbeieilenden Stiefel dröhnte in ihren Ohren, doch sie versuchte es zu verdrängen. Sie dachte nur noch an Rogar und Farold, die Männer ihrer Liebe. Noch einmal nahm Sigrun die Hand ihres Kindes fest in die ihre, drückte und küsste sie.

      Der Junge wollte immer noch nicht glauben, was soeben geschah. Seine fragende Stimme klang tränenerstickt. „Mutter …?“

      „In den Wald, hörst du? Verstecke dich dort!“ Sigrun hatte Mühe zu sprechen und ihrer Kehle entkam nicht viel mehr als ein Flüstern.

      „Mutter …!“

      „Schnell, bring dich in Sicherheit.“

      Auf dem Burghof herrschte Chaos. Herrenlose Pferde liefen umher, wild aussehende Männer verschafften sich Zutritt zu Gebäuden oder waren auf der Suche nach einem Kampf. Rogar versuchte, vom Rücken der Stute zu steigen, doch die starke Hand seiner Mutter hielt ihn oben. Erst als sein Widerstand größer wurde, schrie sie in Verzweiflung ihren Jungen an. „ROGAR, bleib oben und halte dich fest!“

      Rogar erstarrte augenblicklich und seine Mutter sprach mit normaler Stimme weiter.

      „Fürchte dich nicht, mein Junge. Ich werde immer bei dir sein. Meine und deines Vaters Liebe werden dich stets begleiten, ganz gleich wo du sein magst.“

      Mehr Zeit blieb ihnen nicht. Mit einem Schlag auf die Flanke des Tieres versetzte Sigrun das Pferd so abrupt in Bewegung, dass Rogar sich nur mit Mühe festhalten konnte. Das Tier preschte in vollem Galopp über den Hof, bahnte sich seinen Weg wie ein Pfeil durch das Getümmel. Mit ausgestrecktem Arm versuchte Rogar noch einmal, nach seiner Mutter zu greifen, doch es war zu spät. Es gab kein Zurück mehr.

      „MUTTER …!“

      Die Stallungen im Rücken sah Sigrun ihrem Sohn nach und obwohl sie wusste, dass es kein Zurück mehr gab, streckte auch sie die Hand nach ihm aus. Sie behielt Rogar so lange im Auge, bis er das Haupttor passiert hatte. Dann erst kehrte Ruhe in ihr ein.

      Sigrun bewahrte das Bild ihres entschwindenden Sohnes im Herzen und schloss die Augen. Die polternden Stiefel der Barbaren waren jetzt unmittelbar hinter ihr und sie glaubte, den faulen Atem des Verderbens bereits riechen zu können.

      Wie durch einen Nebel vernahm sie noch den lauten Aufschrei eines Mannes, der das nahende Unheil mit einem lauten „NEEEIIIN…!“ zu stoppen versuchte. Doch es half ihr nicht. Die Welt um sie herum zerriss mit einem Mal.

      Ein kurzer, schneidender Schmerz in ihrer Brust war alles, was sie noch verspürte. Sie war schon nicht mehr von dieser Welt, als ihr Körper auf den harten, trockenen Erdboden sank, der ihr Blut gierig aufsog.

      Anno 956 – Brandolfs Kampf

      Brandolf erwachte, als sich eine merkwürdige Unruhe in der großen Halle ausbreitete. Als Gast auf der Burg des Grafen verbrachte auch er die Nacht hier, wie die meisten Bewohner. In dieser Feste schliefen deutlich mehr Menschen als auf der kleinen Burg seines Vaters und die Nachtruhe wurde oft unterbrochen, sei es von einem weinenden Kind oder von dem Schnarchen der Männer. Jetzt allerdings regten sich auf einmal viele Menschen. Brandolf wurde neugierig und erhob sich von seinem Lager.

      Aus den Augenwinkeln sah der Krieger, wie eine seitliche Tür geöffnet wurde. Er glaubte, die Silhouette einer Frau mit einem Kind an der Hand zu erkennen, die das Gebäude verließen. In diesem Augenblick ertönte vom Hof lautes Poltern von Hufen. ‚Reiter!’, ging es Brandolf durch den Kopf, doch er konnte sich nicht vorstellen, weshalb der Graf, der Dienstherr seines Vaters, die Burgbesatzung mitten in der Nacht mobilisierte.

      Er trug bereits seine Stiefel und wollte nach dem Rechten sehen, als Brandolfs Augenmerk abgelenkt wurde. Die Menschen in der Halle richteten gleichzeitig ihre Blicke auf die schmalen Fensteröffnungen, durch die plötzlich flackerndes Licht zu sehen war. Diabolisch tanzende Schatten wurden an die Wände der Halle geworfen. Es war unmissverständlich: Eines der Hofgebäude stand in Flammen. War das der Grund, weshalb solch ein Trubel auf dem Burghof herrschte?

      Einige der Männer in der Halle begannen, sich zu organisieren und wollten den Brand bekämpfen. Als sie jedoch die Hauptpforte öffneten, drang Kampfeslärm in den Saal. Ein