Hamburgliebe. Stefanie Thiele

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Название Hamburgliebe
Автор произведения Stefanie Thiele
Жанр Книги о Путешествиях
Серия
Издательство Книги о Путешествиях
Год выпуска 0
isbn 9783957802019



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Bürgerlichkeit annehmen zu müssen. Das ist das Schöne an Hamburg: Du kannst »Hanselette« werden, Gucci tragen und in Eppendorf Latte macchiato mit Zahnarztgattinnen trinken. Aber du musst es nicht.

      MindStuff – Part of the Game

       Was bedeutet das Kiezleben für dich?

      Ein Kiez ist ja erst einmal jedes Viertel, das von Menschen als vielfältig, urban und mit seinen außergewöhnlichen Lebensbedingungen als besondere Heimat empfunden wird. Also das politisch eher linksorientierte Dorf mitten in der Großstadt. Das kann auch die wilde Schanze oder das bis zur Unbezahlbarkeit gentrifizierte St. Georg sein. Aber wer, wie ich, sein Herz an St. Pauli verloren hat, der liebt wohl die Ehrlichkeit vom Kiez. Alles Menschliche, dazu zählen der Schmutz und die Schattenseiten, aber eben auch aufrechte Freundschaften, bedingungslose Unterstützung und echte Wertschätzung. Wenn dich St. Pauli einmal aufgenommen hat, dann hast du bewiesen, dass du dich vom ersten Eindruck eines Menschen weder blenden noch abschrecken lässt und auch selbst nicht in Schubladen gesteckt werden möchtest. Dass du für deinen eigenen Erfolg niemanden opferst. Echtes Kiezleben ist fair und die Währung besteht nur selten aus Geld, ist also im wahrsten Sinne des Wortes »unbezahlbar«. Witzig, dass die meisten Menschen genau das – rund um die Reeperbahn – niemals vermuten würden. Und dennoch ist es so, die Menschen, die auf St. Pauli leben und lieben, ticken so. Vielleicht sind wir hier aber auch einfach die letzten verklärten Romantiker, wer weiß?

       Der beste Suizid ist immer noch, sich tot zu leben

       Welche sind deine Hamburger Lieblingsorte? Und wo trifft man dich sicher nicht?

      Man trifft mich mit großer Wahrscheinlichkeit mittags auf einen schnellen Kaffee im »Lieblings« auf St. Pauli oder an einem freien Tag irgendwo vor dem »Café Mey«, wenn ich als Raucherin pflichtbewusst »draußen« schreibe. Wenn alle Touristen weg sind, irgendwann spätnachts an den Landungsbrücken oder in einem der vielen Hamburger Theater. Die sind Glückselixier pur für mich und irgendwann werde ich unbedingt noch 4 Wochen Urlaub opfern, um eine Regie-Hospitanz im Schauspielhaus hinzubekommen. Das ist seit Jahren ein großer Traum. Möglicherweise könnte man mir auch auf der Elbe, Höhe Wedel, zuwinken, wenn mich besonders liebe Freunde hin und wieder auf ihr wunderbares, kleines, fast antikes Segelboot einladen. Ganz sicher trifft man mich selten bei hippen VIP-Italienern in Eppendorf und niemals in Blankenese oder Othmarschen. Extrem dankbar bin ich dem Leben aber auch, dass (leider eher) unglückliche Viertel wie Jenfeld, Mümmelmannsberg u. Ä. ausscheiden.

       Das Leben ist kein verdammter Roman

       Aus welchem Fehler in deinem Leben hast du gelernt?

      Ich habe hoffentlich aus allen Fehlern gelernt, auch wenn viele davon zu ihrer Zeit richtig oder zumindest notwendig waren. Schlimm ist ja eigentlich immer nur der eine Fehler, der sich niemals wirklich »weglernen« lässt: unüberlegte und verletzende Worte, der Satz zu viel, der Satz zu wenig. Verlorene anstatt verschenkte Zeit. Gut gemeint anstatt gut gemacht. All das, was jeder in seiner dunkelsten Herzkammer bereut. Und ich mache da ganz sicher keine Ausnahme.

      Auf den ruinierenden Kauf einer aufgeschwatzten Schrottimmobilie im Osten hätte ich aber tatsächlich gut und gerne verzichten können. Manchmal kann dich eine unüberlegte Unterschrift das halbe Leben kosten. Außer, du bist eine Bank, dann lebt es sich wohl ganz gut damit.

      RedLightStuff – Big Spender

       In deinem neuen Buch »Eine neutrale Tüte bitte« erzählst du Geschichten aus deinem Alltag im Sex-shop. Magst du uns auch eine deiner Geschichten verraten?

      Ich mag menschliche Geschichten. Alles, was uns berührt und überrascht, weil wir es so an einem bestimmten Ort nicht erwartet hätten. Deshalb schreibe ich und deshalb funktioniert vermutlich »Eine neutrale Tüte bitte« bei den LeserInnen so gut, obwohl dem Titel im Vorfeld »leider keine Zielgruppe« prognostiziert wurde. Aber kugelrunde Rocker, die unter der Kutte Lackfummel tragen, sind eben genauso liebenswert zu betrachten wie die Menschen von nebenan, die sich ihre geheimen Sehnsüchte eingestehen.

      Ich liebe es, wenn grundsympathische Touristen aus dörflichen Regionen die »Boutique Bizarre« entern und alles, was sie sehen, mit Sätzen honorieren wie: »Komm, Hilde, schau doch mit rein! Hier gibt’s des all’s in echt! Die schwarz’n, besonder’n Sachen wie im Tatort und in dene Reportagen!« Oder ein seriöses, gut situiertes Paar aus der Schweiz, das sich nach einem Ein kauf von mir mit den Worten verabschiedete: »Merci vielmals, Gott segne und beschütze Sie!« Das sind wunderbare Anekdoten, wie man sie in einem Sexshop nicht vermuten würde. Und davon gibt es natürlich eine Menge.

      Es ist ein Buch mit wahren Geschichten geworden, die man ohne Scham überall genießen kann. In denen man sich mit seinen Wünschen, aber vielleicht auch mit seinen Vorurteilen wiederfindet und die man anschließend möglicherweise revidiert. Weil man feststellt, dass es völlig irre ist, sexuelle Themen als billig oder ordinär abzuwerten.

      HeartStuff – die Sterne vom Himmel holen

       Was sollte man in Hamburg unbedingt einmal gemacht haben?

      (lacht) Vergiss einfach den ganzen »Elbphilharmonie-und-Strandperle«-Scheiß. Man sollte unbedingt in einer heißen Sommernacht mit seinem Liebsten unten am Hafen »Pollersitzen«. Mit einer kühlen Flasche Astra im Ausschnitt, wild knutschend, während die Elbe gegen die Kaimauer schwappt … das ist legendär. Aber man sollte im Winter mit seinem fröhlichen Kind auch unzählige Male den »Berg« am Wasserturm mitten im Schanzenpark herunter gerodelt sein.

      Oder mit einer Gruppe depressiver UKE-Mitpatienten einen Ausflug aufs Dach des Planetariums machen, um zu lernen, dass doch keiner springt. Man sollte seinen Geburtstag einmal in der einzig wahren Kneipe der Welt, dem »Crazy Horst«, verbracht und dort alle alten Heuler der Musikbox durchgespielt und mitgesungen haben und erst weit nach Sonnenaufgang nach Hause gehen. Und wenn man das wilde Herz Hamburgs auch nur ansatzweise verstehen möchte und selbst über eines verfügt, dann sollte man sich anstatt eines klassischen Reiseführers die DVD »Robert Zimmermann wundert sich über die Liebe« besorgen. Wer nach diesem Film mit Tom Schilling und dem Sound von Element of Crime nicht ganz genau weiß, wie und wo er diese geile Stadt wirklich fühlen kann … der sollte einfach nach Wuppertal fahren.

      BluePianoStuff – schöne Aussichten

       An welchem Ort in Hamburg hat man die beste Aussicht?

      Wer auf Höhe steht, steigt den Michel hoch, fährt auf den Fernsehturm oder lässt sich mit der Ballon-Plattform vor den Deichtorhallen in die Lüfte heben. Was man sieht, ist dann eine Hamburger Miniaturlandschaft. Vergleichbar langweilig, wie es der Blick »von oben« bei fast allen Dingen ist. Mein Tipp für die beste Aussicht geht immer in die Weite, schließlich sind wir hier im Norden. An einem dekadenten »Aperol-Spritz-Tag« bietet das »a.mora« vor dem Hotel Atlantic die schönste Weite. Die Außengastronomie liegt direkt auf dem Alsteranleger, wo man auf Liegen und Sonnenstühlen herumlümmelt und einfach stundenlang den Segelbooten zusieht. Wer es größer, rauer und bodenständiger mag: immer runter an die Elbe! Vielleicht nach Övelgönne – und dort mit einem Bier in der Hand einfach auf den Steinen sitzen und den Frachtern zusehen, oder rüber zu den Docks.

      Nichts bläst besser den Kopf durch und nordet einen wieder ein als Größe und Weite. Und dann ist auch ganz persönlich wieder Platz für »beste Aussichten«.

       Ich hatte gedacht, sagte sie

       Welche Frage wolltest du schon immer mal in einem Interview gestellt bekommen und wie lautet die Antwort?

      Verwegen schön wäre vermutlich: »Candy Bukowski, wie fühlt es sich an, über Nacht mit einem Bestseller berühmt geworden zu sein?« Und ich würde dann vermutlich total intellektuell antworten: »Es fühlt sich nett an. Aber ich wage zu behaupten, dass die meisten Autorinnen und Autoren nicht schreiben, um berühmt zu werden. Dann hätten wir versucht, Rock-star zu werden.

      80 Prozent unserer Arbeit findet in selbst gewählter Einsamkeit vor einem