Название | Shana, das Wolfsmädchen, und der Ruf der Ferne |
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Автор произведения | Federica de Cesco |
Жанр | Учебная литература |
Серия | |
Издательство | Учебная литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783401802909 |
»Hallo!«, rief sie mit vollem Mund. »Irgendetwas, das ich für Sie tun kann?«
»Ja, ich suche Marion Hoffmann.«
»Die hat heute ihren freien Tag, sorry. Kann ich ihr etwas ausrichten?«
»Eigentlich nicht«, sagte ich. »Vielen Dank trotzdem.«
»Keine Ursache!«
Sie nickte mir freundlich zu, bevor sie mit spitzen Fingern das nächste Stück von der Pizza abriss. Ich schielte kummervoll auf ihren Bauchumfang und ging.
Gerade wollte ich den Raum verlassen, als ich hinter mir Schritte hörte. Ich wandte mich um, sah eine ältere Frau aus einem Büro kommen. Höflich hielt ich ihr die Tür auf.
Sie lächelte mich an.
»Danke!«
Ich ließ ihr den Vortritt und folgte ihr dann nach draußen. Doch sie blieb stehen und musterte mich.
»Wir kennen uns noch nicht«, sagte sie. »Sind Sie von hier?«
Ich nannte meinen Namen. Ihr scharfer Blick leuchtete freudig auf.
»Ach, die berühmte junge Dame mit der Wolfsgeige! Ich bin Leona Cooper.« Sie schüttelte mir die Hand. »Schön, dass wir uns kennenlernen. Das freut mich aber, dass ich dich hier treffe!«
Leona Cooper musste um die sechzig sein. Sie war erstaunlich hochgewachsen, überragte mich mit ihren breiten Schultern. Sie war füllig, aber harmonisch gebaut, mit harten Muskeln, sodass ihre Gestalt etwas Machtvolles an sich hatte. Ihr bereits ergrautes Haar, das ziemlich tief an der Stirn ansetzte und in der Mitte durch einen Scheitel geteilt war, hatte sie im Nacken zu einem langen Pferdeschwanz gebunden. Ihre Augen waren tiefschwarz, ihr Gesicht von trockenen Falten zerfurcht. Doch es war nicht erschlafft, sondern hatte seine Konturen bewahrt. Ein wundervolles indianisches Gesicht.
Auch sie war dabei, mich lächelnd und sehr genau zu betrachten.
»Ich esse mittags nur ein Sandwich. Und ich brauche meinen Kaffee. Kommst du mit? Ich lade dich ein!«
Ich dankte ihr, überrascht und beglückt. Sie ging wie ein Mann, mit weiten, ausholenden Schritten. Sie trug schwarze Hosen und einen ebenfalls schwarzen Blazer – einen sogenannten Businessanzug, der ihr gut stand. Dazu gehörten eigentlich High Heels. Aber Leona dachte offenbar praktisch. Ihre bloßen Füße steckten stattdessen in Sandalen.
»Ich habe viel von dir gehört«, sagte sie auf dem Weg zu unserer kleinen Snackbar. »Wie lange bleibst du hier?«
»Nicht lange. Ich fahre heute Abend nach Vancouver zurück. Mein Freund holt mich ab.«
»Da bleibt uns immerhin etwas Zeit, um uns zu unterhalten.«
Wir fanden noch einem freien Tisch, holten uns zwei Hühnersandwichs an der Theke. Dazu bestellten wir Kaffee in Pappbechern. Er war so heiß, dass wir uns fast die Lippen verbrannten.
»Früher war hier der Kaffee abscheulich«, sagte Leona leise zu mir. »Aber eines Tages hat Chief Thunder ein Machtwort gesprochen und jetzt haben sie eine neue Maschine gekauft.«
Sie biss mit Appetit in ihr Sandwich und ich fragte: »Wie geht es Chief Thunder?«
Ihr ausdrucksvolles Gesicht wurde ernst.
»Nicht gut, leider. Er muss operiert werden und es ist wirklich besser für ihn, dass er sich jetzt ausruht.«
Zögernd hakte ich nach: »Werden Sie seine Nachfolgerin?«
Sie zeigte ein kleines Lächeln.
»Aha, das Buschtelefon! Na gut, ich hätte ja Nein sagen können, dann hätte man einen anderen vorgeschlagen. Was bedeutet es heutzutage schon noch, ein Chief zu sein? Früher musste der Chief das Vertrauen seines Volkes erst gewinnen. Seine Worte wurden keineswegs wie Orakelsprüche empfangen. Wir hielten nicht viel von Hierarchie, eine ausübende Gewalt gab es nicht. Einem Chief folgte man freiwillig – oder überhaupt nicht. Man musste von ihm überzeugt sein. Heute trifft der Chief kaum noch wesentliche Entscheidungen. Aber wenn er will, kann er sich mit einer Federkrone präsentieren, was stets imposant aussieht. Er ist zu einer dekorativen Figur geworden, mit jeder Menge Papierkram am Hals. Chief Thunder hat seine Sache immer gut gemacht. Was mich betrifft, wir werden ja sehen. Aber erzähl lieber von dir!«
»Von mir?«, fragte ich, ein wenig befangen. »Was soll ich sagen? Ich bin noch auf der Musikhochschule…«
Sie hob rasch die Hand. Die Geste war nicht ungeduldig, sondern präzise und etwas gebieterisch.
»Hör zu, Shana, ich weiß mehr von dir, als du denkst. Stanley Egger, dein ehemaliger Lehrer, hat mir vieles erzählt. Was du geleistet hast, ist bemerkenswert. Ich habe mir auch deine erste CD angehört.«
»Das Violinkonzert von Brahms«, sagte ich, mit einer Spur von Stolz.
Sie nickte.
»Ja, du spielst auf eine sehr ergreifende Art. Ich kenne die Geschichte von Lela. Und…«, sie machte eine Pause, »und von der Wölfin habe ich auch gehört.«
Ich senkte die Augen.
»Manchmal… wenn ich daran denke… kommt es mir vor, als ob ich das alles nur geträumt hätte. Es war wie im Märchen, verstehen Sie?«
Leona trank ihren Kaffee in langsamen Schlucken. Ihr Blick war fest auf mich gerichtet. Ihre Augen waren unvergleichlich. Glänzend wie schwarze Opale. Und unergründlich.
»Märchen kann man erleben«, sagte sie eindringlich. »Und man kann sie wahr werden lassen. Wusstest du das nicht?«
Ich nickte mit zugeschnürter Kehle.
»Irgendwie hatte ich immer das Gefühl, dass ich beschützt wurde.«
»Natürlich wirst du beschützt.«
»Von Lela?«, flüsterte ich. »Oder von meiner Mutter?«
Sie schüttelte leicht den Kopf.
»Von allen, die hier sind.«
Ein Frösteln überlief mich.
»Woher wissen Sie das?«
In ihren Augen tanzte ein winziger Funken Schalk.
»Nun, sagen wir mal, ich habe mich eine Zeit lang mit diesen Dingen befasst. Aber du kannst ruhig Leona zu mir sagen. Wir sind ja schließlich verwandt…«
Sie kaute gemächlich ihr Sandwich.
»Wenn ich sage, wir, dann gilt es für alle, für die Lebenden und die Toten.«
»Lela ist tot. Meine Mutter auch. Und die Wölfin…«
Sie schüttelte den Kopf.
»Die Unsterblichkeit umfasst alle Lebewesen. Menschen, Tiere, Pflanzen und sogar Steine. Unsere Erdmutter bringt alles immer wieder neu hervor. Sterben wir, wird unser Körper zu Staub. Unser Geist aber lebt weiter, mit dem Atem und dem Herzschlag aller Lebewesen.«
Sie sah mich fest an. Jetzt waren ihre Augen dunkle Spiegel, die mein Bild reflektierten.
»Ich konnte das nie mit Worten erklären …«, sagte ich.
»Das ist auch nicht nötig. Du vertraust deine Gedanken der Musik an. Deswegen sind Menschen und Tiere so berührt, wenn sie dich spielen hören.«
Mir kam die Zeichnung in den Sinn, die Mike von mir gemacht hatte. Und plötzlich zuckte eine Erkenntnis in mir auf.
»Stimmt!