Shana, das Wolfsmädchen, und der Ruf der Ferne. Federica de Cesco

Читать онлайн.
Название Shana, das Wolfsmädchen, und der Ruf der Ferne
Автор произведения Federica de Cesco
Жанр Учебная литература
Серия
Издательство Учебная литература
Год выпуска 0
isbn 9783401802909



Скачать книгу

traute meinen Ohren nicht. Mein Gott, wie hatte er sich verändert! Eine neue Lebensfreude hatte das weite Feld seiner Gedanken in Schwingungen gebracht. Aber auch ich hatte mich verändert. Die Musik hatte meine Wahrnehmung geschärft. Ich hatte gelernt, das Gute vom Bösen zu unterscheiden und die richtige Wahl zu treffen, auch wenn es manchmal schwerfiel. Eine Zeit lang hatte ich meinen Vater gehasst, bevor ich merkte, dass er nur ein Opfer war. Jetzt bemerkte ich, dass auch er dies jetzt wusste. Ich lächelte ihn an, mit aller Zärtlichkeit, die ich hatte. Zum ersten Mal seit langer Zeit fühlte ich mich glücklich und ihm sehr nahe. Ich hatte ein Gefühl, als sähe ich jetzt die Welt, wie die Raben oder die Adler, wenn sie hoch über den Bäumen kreisen. Ja, die Musik hatte mir Kraft gegeben! Die Kraft, die Dinge so zu sehen, wie sie waren, und auch die Kraft, zu mir zu stehen und – wenn notwendig – für mich selbst zu kämpfen.

      Zum Nachtisch gab es einen tollen Apfelkuchen, mit dem Honig der eigenen Bienen gesüßt. Allein bei der Erinnerung daran konnte ich trotz der stickigen, feucht riechenden Londoner Stadtbahn, in der ich mich gerade befand, den süß-würzigen Geschmack auf der Zunge spüren. Elliot ließ Mike erst weiterfahren, nachdem er den starken indianischen Kaffee getrunken hatte, der den Puls zum Flattern bringt und die Aufmerksamkeit steigert. Und er schenkte ihm ein großes Glas Honig für seine Eltern. Danach brachte er die Küche in Ordnung und ich begleitete Mike zu seinem Wagen.

      »Ich möchte dich gerne küssen«, sagte er. »Aber ich bin sicher, das ganze verdammte Dorf schaut zu.«

      »Darauf kannst du Gift nehmen«, sagte ich. »Aber küssen kannst du mich trotzdem.«

      Er beugte sich zu mir, legte beide Arme um mich und verpasste mir einen filmreifen Kuss. Ich lachte und stieß ihn zurück.

      »Hör auf! Du musst noch über den Pass.«

      »Kein Problem!«

      Von Beaver Creek nach Kamloops gab es keine Autobahnverbindung, nur ein Asphaltband, das hügelauf und hügelab führte. Zum Glück war der Verkehr gering, aber sobald die Nacht kam, wurde es stockdunkel. Und dann konnte die einsame Strecke gefährlich sein.

      »Hau ab!«, drängte ich Mike.

      »Ach, willst du mich loswerden?«

      »Ja!«

      Mike winkte grinsend mit dem Schlüssel, ging zum Wagen und ließ den Motor an. Auch Elliot kam aus dem Haus. Wir sahen dem Auto nach, das in einer rötlichen Staubwolke der Sonne entgegenfuhr. Dann gingen Elliot und ich gemeinsam zurück ins Haus.

      Er ist nett«, sagte Elliot zu mir. Dann zögerte er kurz und warf mir einen Seitenblick zu. »Werdet ihr heiraten?«

      Ich wurde ein wenig rot.

      »Wir verstehen uns sehr gut, das schon. Aber heiraten? Ich weiß es nicht. Wir haben noch nicht darüber gesprochen.«

      »Lebt ihr zusammen?«

      »Seit einem halben Jahr. Vorher waren wir ja im Internat.«

      »Und seine Eltern?«

      »Oh, die sind super!«, rief ich lebhaft. »Du würdest sie auch mögen, denke ich. Sie sind ganz unkompliziert, weißt du? Feine Menschen. Mikes Schwester Carolyn lebt jetzt in London, mit einem Engländer. Ich werde sie besuchen, wenn ich dort bin.«

      Er nickte nur und schien abwesend und etwas verlegen. Was hatte er auf dem Herzen? Wir gingen ins Wohnzimmer zurück, wo er mich fragte: »Noch etwas Kaffee?«

      »Ja, gerne.«

      Ich setzte mich. Die Kanne aus blauer Emaille stand noch auf den Tisch. Auch die Zuckerdose. Elliot brachte zwei Tassen und setzte sich mir gegenüber. Ich goss ihm Kaffee ein, den er schwarz trank, aber drei Löffel Zucker hineinrührte, bevor er einen langen Schluck nahm. Ich ließ die Tasse zwischen meinen Fingern kreisen und wartete. Schließlich brach Elliot das Schweigen.

      »Hör zu, Shana. Da wir gerade von solchen Dingen reden… Ich habe eine Frau kennengelernt.«

      Es kam nicht unerwartet für mich. Trotzdem spürte ich einen Stich im Herzen. Ich dachte an meine Mutter. Aber ich sagte nichts, wandte nur die Augen ab. Elliot schien zu spüren, was in mir vorging.

      »Es tut mir leid. Ich wollte dir nicht wehtun.«

      Ich schüttelte den Kopf.

      »Wie heißt sie?«

      »Marion Hoffmann, du kennst sie doch.«

      In meiner Erinnerung stieg das Gesicht einer jungen Frau auf, mit einer Brille und einem langen Zopf im Rücken. Ihr Haar hatte einen schönen rötlichen Schimmer. Ihr Vater und ihre Großeltern waren Weiße gewesen. Nur die Mutter stammte aus Beaver Creek.

      »Ich habe sie lange nicht mehr gesehen«, sagte ich.

      »Sie war in Toronto auf der Highschool. Danach hatte sie einen Job in einer Buchhandlung. Jetzt ist sie wieder hier und arbeitet bei der Verwaltung.«

      »Will sie bleiben?«

      »In Toronto hat sie einen Urban geheiratet. Aber die Ehe ging kaputt, weil der Mann trank.«

      »Oh«, entfuhr es mir, »dass will sie sicher kein zweites Mal.«

      Kaum hatte ich das gesagt, bereute ich es. Elliot war in diesen Dingen empfindlich. Doch zu meinem Erstaunen lachte er auf.

      »Das sagte Marion auch!«

      Ich sah ihn perplex an.

      »Und?«

      »Und da habe ich ihr gesagt, ich gebe mir Mühe, dass es bei mir nicht wieder so weit kommt. Ich will das nicht mehr.«

      Ich erwiderte sein Lächeln, denn ich glaubte ihm.

      »Habt ihr vor zu heiraten?«

      Er schüttelte leicht den Kopf, doch das Lächeln blieb auf seinen Lippen. Halb im Ernst, halb im Scherz antwortete er:

      »Zunächst werden wir zusammenleben. Vielleicht gibt es andere Dinge an mir, die Marion nicht mag. Das kann man nie im Voraus wissen, oder?«

      Ich nahm einen Schluck und nickte.

      »Jaja, da kann man Überraschungen erleben.«

      »Klar ist es am Anfang nicht leicht«, sagte Elliot. »Aber allmählich lernt man sich kennen, Tag für Tag ein bisschen mehr. Das ist etwas Schönes. Finde ich jedenfalls.

      »Und wie denkt Marion darüber?«

      »Sie ist einfach wunderbar«, sagte Elliot.

      In Elliots Mund hörten sich diese Worte sonderbar an. Wie in einer Soapopera, dachte ich und hätte fast gelacht.

      »Dann darfst du sie nicht gehen lassen.«

      Er lächelte. Mir wurde klar, dass er sich vor diesem Gespräch sehr gefürchtet haben musste. Man sah ihm an, dass er sich jetzt besser fühlte.

      »Nein«, fügte er bestimmt hinzu. »Sie wird bleiben. Chief Thunder geht es nicht gut, musst du wissen. Das Herz. Marion nimmt ihm viel Arbeit ab.«

      »Er ist doch schon alt«, sagte ich.

      »Er wird achtundsiebzig.«

      »Himmel!«, rief ich. »Will er nicht zurücktreten?«

      »Doch. Er soll im kommenden Monat operiert werden.«

      »Hat er schon einen Nachfolger?«

      »Man spricht von Leona Cooper.«

      »Oh!«, rief ich, freudig überrascht, »dann wird sie also Chief?«

      »Ja. Der ›Rat der Mütter‹ hat die Wahl bereits gebilligt. Die Sache muss nur noch offiziell bekannt gegeben werden. Aber in Beaver Creek weiß jeder schon Bescheid.«

      Ich wusste, dass der »Rat der Mütter« – neben vielem