Shana, das Wolfsmädchen. Federica de Cesco

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Название Shana, das Wolfsmädchen
Автор произведения Federica de Cesco
Жанр Учебная литература
Серия
Издательство Учебная литература
Год выпуска 0
isbn 9783401803180



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Bäumen. Alec fasste mich an der Hand.

      »Komm, ich bringe dich nach Hause. Sonst kannst du morgen nicht tanzen.«

      Ich hielt mich an seiner Schulter fest. Mein ganzer Körper schmerzte, besonders die Beine und der Bauch. Auch meine Augen waren trocken und brannten. Ich war so müde, dass ich kaum den Kopf hoch halten konnte.

      »Fall nicht!«, warnte er und führte mich durch die Dunkelheit.

      Überall zirpten jetzt Grillen. Das Zirpen verstummte, wenn wir vorübergingen, und begann wieder, sobald wir vorbei waren.

      »Morgen tanzt du mit mir, ja?«, sagte Alec. »Womöglich gewinnen wir einen Preis!«

      Ich machte ein zustimmendes Zeichen. Der Gedanke, mit Alec zu tanzen, gefiel mir. Melanie war tot, daran konnte ich nichts ändern. Aber ich konnte ihr Kleid tragen und für sie tanzen. Vielleicht machte ich ihr wirklich eine Freude damit.

      Es wurde schon hell, als Alec mich vor dem Gartentor ablud. Ich nahm den Helm ab und gab ihn Alec zurück. Wir hielten uns noch eine Weile umschlungen. Alec drückte sein Gesicht an meines.

      »War schön mit dir. Bis nachher, also? Ich freue mich.«

      »Ich freue mich auch«, sagte ich.

      Ein leichter Wind kam auf. Bald würden die Wolken rot werden und die Mücken im Morgenlicht tanzen. Wir küssten uns ein letztes Mal. Dann stand ich da und sah zu, wie Alec den Starter betätigte und den Anlasser kickte. Das Motorrad setzte sich knatternd in Bewegung. Ich dachte, der Lärm scheucht die ganze Nachbarschaft auf, aber wenn Powwow war, hatten die Leute Verständnis. Alec fuhr an der Tankstelle vorbei, der Scheinwerfer hüpfte über den Asphalt und war einige Sekunden später verschwunden. Ich ging auf das verrostete Gartentor zu und schob mit steifen Fingern den Riegel zurück. Das Tor sprang quietschend auf. Ich stapfte die Treppenstufen hinauf, stolperte und fiel der Länge nach auf die morsche Veranda. Es gab einen dumpfen Knall. Ich rappelte mich auf, rieb mir das schmerzende Knie. Scheiße!, dachte ich. Jetzt meinen die Leute, ich wäre betrunken nach Hause gekommen. Ich schloss die Tür auf, hinkte durch die Diele. Im Haus war es still, nicht einmal die Wanduhr, die auf halb elf zeigte, obwohl es längst vier Uhr sein musste, tickte. Die Tür des Zimmers, wo Elliot schlief, war nur angelehnt. Ich stieß sie leise auf. Der Raum war stickig heiß. Trotz der Dunkelheit konnte ich sehen, dass das ungemachte Bett leer war. Ich fühlte eine tiefe, todesähnliche Traurigkeit in mir aufsteigen, eine Traurigkeit, für die ich keine Erklärung wusste. Ich schleppte mich die Treppe hinauf, zog das verschwitzte Zeug aus, duschte mich lange. Mein Knie war geschwollen und blau; ich bewegte es vorsichtig. Nicht schlimm. Ich schlurfte in mein Zimmer, warf mich im Pyjama aufs Bett. Ich wollte schlafen, aber ich brachte die Augen nicht zu. Das ganze Zimmer schien sich wie ein Karussell zu drehen. Draußen zwitscherten Vögel. Der Spalt Licht aus der Ritze zwischen Mauer und Fensterladen wurde immer heller. Ich dachte an das Kleid meiner Mutter und auf einmal hatte ich das Bedürfnis, es anzuprobieren, zu sehen, ob es mir passte, egal, wie müde und benommen ich jetzt war. Ich setzte mich hoch, stellte vorsichtig die Füße auf den Boden und ging in den kleinen Raum, wo wir die Sachen meiner Mutter aufhoben. Weder Elliot noch ich hatten jemals den Mut gefunden, die Dinge auszurangieren. Das Kleid lag in der untersten Schublade der Kommode. Leder verträgt keine eingeschlossene Luft. Ich entsann mich, dass Melanie das Kleid ein paar Mal im Jahr ausschüttelte und nach draußen hing. Dann bewegte sich das Kleid im Wind, flirrte wie eine tanzende Figur im Sonnenlicht. Jetzt, im roten Schein des anbrechenden Tages, kauerte ich mich unbeholfen nieder, zog die Schublade auf. Mein Atem setzte aus. Das Kleid war verschwunden.

      Ich kniete vor der Schublade – wie lange, wusste ich nicht. Ich dachte an gar nichts, lauschte nur auf das vertraute Knarren des alten Holzhauses, auf meinen eigenen Herzschlag.

      Nach einer Weile dachte ich, vielleicht hat Elliot das Kleid in eine andere Schublade gelegt oder in einen Schrank oder in einen alten Koffer. Aber ich machte mir nicht die Mühe, im Gerümpel zu suchen, denn ich wusste bereits die Wahrheit. Jemand hatte das Kleid gestohlen. Es war mein Kleid gewesen. Und wer es gestohlen hatte, wusste ich auch.

      Ich stand lautlos auf, ging in die Küche und machte mir einen Kaffee, den ich in eine schmutzige Tasse goss. Der Kaffee war heiß, viel zu stark und schmeckte ekelhaft. Ich würgte ihn herunter, spülte mir den Mund im Spülbecken aus. Dann setzte ich mich oben auf die Treppenstufen und wartete. Jedes Mal, wenn ich mich bewegte, gab das Holz kleine, quietschende Geräusche von sich, die mir durch Mark und Bein gingen. »Sei ruhig!«, flüsterte ich, als ob das Holz ein Lebewesen wäre, zu dem ich sprechen konnte. Ich hatte das merkwürdige Gefühl, dass mein Körper sich weitete, größer und immer größer wurde wie eine Luftblase, die das ganze Haus ausfüllte.

      Es war heller Tag, als Elliot nach Hause kam. Ich musste eingeduselt sein, denn plötzlich hörte ich schwere, unsichere Schritte. Ich zuckte zusammen, war in einer Sekunde hellwach. Die Haustür flog auf. Elliot torkelte in die Diele. Ich saß oberhalb der Treppe im Schatten, sodass er mich zuerst nicht sah. Er knallte die Haustür zu, wankte zum Klo, ich hörte sämtliche Geräusche. Die Klospülung zog er nicht. Dann, stur vor sich hin brummelnd, quälte er sich die Treppe hinauf, zwei Schritte für jede Stufe. Auf einmal erblickte er mich, blieb stehen. Seine Haare waren zerzaust, das schmutzige Hemd klebte an seinem Körper und verlieh ihm ein lächerliches Aussehen. Ich roch den süßlichen Geruch seines Erbrochenen.

      »He, was machst du da?«, lallte er.

      »Wo ist mein Kleid?«, fragte ich.

      Er hielt sich am Geländer fest.

      »Dein Kleid? Welches Kleid?«

      »Melanies Festkleid. Es gehört jetzt mir.«

      »Dir?« Er kniff die Augen zusammen. »Wer hat das gesagt?«

      Ich hob herausfordernd den Kopf.

      »Melanie. Und ich will es jetzt haben. Ich tanze heute für sie.«

      Er rieb sich mit den Händen übers Gesicht, sein ganzer Körper zitterte. Er schien unfähig auch nur einen Ton über die Lippen zu bringen.

      Ich richtete mich auf. Da ich drei Stufen höher stand und er mich von unten sah, war mir, als sei ich fast doppelt so groß. Dass ich noch stärker zitterte als er, merkte er wahrscheinlich nicht.

      »Wo ist das Kleid?«

      Unbarmherzig betonte ich jede Silbe. Elliot schluckte würgend. Das erbärmliche Grinsen eines Einfältigen, eines Idioten, verzerrte sein Gesicht.

      »Verkauft«, sagte er. »Ich habe es verkauft. Ich brauchte Geld. Musste einem Kumpel was zurückzahlen.«

      Schweigen. Ich hatte das Gefühl, dass mein Kopf wie eine Rassel hin und her schlug. Endlich konnte ich sprechen. Ich fragte: »Wem hast du es verkauft?«

      »Einem Urban. Und der ist weg.« Elliot murmelte schwerzüngig vor sich hin, aber das Echo seiner Worte setzte sich in meinen Ohren für alle Ewigkeit fest. »Die Leute von hier, die haben Melanie tanzen gesehen. Die hätten das Kleid nie gekauft.«

      »Nein«, flüsterte ich rau.

      Er atmete gepresst, kratzte sich die schwitzende Brust.

      »Was ich sagen wollte … ambesten, du denkst nicht mehr daran. Deine Mutter, sie ist ja nicht mehr da.«

      »Doch«, erwiderte ich.

      »Wie?«, knurrte er.

      Ich schluckte schwer.

      »Doch, sie ist da. Sie hört und sieht alles.«

      Es waren die einzigen sicheren Worte, die mir einfielen. Elliot fuhr sich mit dem Ellbogen über die nasse Stirn, atmete laut durch die Nase.

      »Hatte Probleme«, sagte er tonlos. »Bin reingeschliddert. Musste zahlen …«

      Er zog sich mühsam am Geländer hoch, bis er dicht unter mir stand. Er streckte die Hand aus, um mir über den Kopf zu streichen. Sein Gesicht