Shana, das Wolfsmädchen. Federica de Cesco

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Название Shana, das Wolfsmädchen
Автор произведения Federica de Cesco
Жанр Учебная литература
Серия
Издательство Учебная литература
Год выпуска 0
isbn 9783401803180



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ihn dann in seinem Zimmer rumoren, zum Klo torkeln. Manchmal fand er den Schlüssel nicht und kippte vor der Haustür einfach um. Ich wurde wach, weil es draußen laut polterte, ging im Pyjama vor die Tür und zerrte ihn ins Haus. Ich konnte den Schweiß und den Whisky an ihm riechen und schüttelte mich vor Ekel. Ich zog ihm die Schuhe aus, warf eine Decke über ihn und ließ ihn auf dem Boden schnarchen. Einmal fiel er die Treppe herunter, ein andermal fuhr er unseren Wagen zu Schrott. Bald hatten wir nicht einmal mehr Telefon: Elliot hatte die Rechnungen nicht bezahlt und man hatte uns die Leitung gesperrt. So vergingen Monate. In der Schule war ich eine Katastrophe. Ich glaube, wenn mein Vater mich geschlagen oder sich auf die eine oder andere Weise brutal gezeigt hätte, wäre ich sofort davongelaufen. Aber er war ein sanfter Mensch und tat keiner Fliege was zu Leide. Was die Sache noch komplizierter machte, weil ich keine Wut auf ihn hatte, bloß Mitleid. Und weil es an manchen Tagen fast wie früher war. Kam ich aus der Schule, arbeitete er im Garten und begrüßte mich mit einem Witz: »He, Shana, hat dir die Lehrerin heute was beigebracht?«

      Anne Shriver war nicht unbedingt die Lehrerin, die sich indianische Schüler erträumen. Sie hatte hellbraunes, sorgfältig frisiertes Haar und ein kühles blasses Gesicht, auf dem ständig ein Lächeln berufsmäßigen Wohlwollens lag. Denn es war schließlich eine wichtige Aufgabe, störrische Halbwüchsige zu unterrichten. Sie wies oft darauf hin – was ganz unnötig war –, dass einige von uns Sozialfälle waren und zwangsläufig schon in jungen Jahren verdorben. Sie hatte bereits Elliot in der Klasse gehabt und nicht viel von ihm gehalten.

      Zu mir sagte sie: »Pass auf, dass du nicht wie dein Vater wirst! Ich fürchte, du bist wie er und hast nichts drauf.«

      Und ob ich vielleicht magersüchtig sei? Oder unter Wachstumsstörungen litt?

      »Mit fünfzehn und noch so klein, das ist nicht normal!« Dass es bei uns einfach zu wenig zu essen gab und Elliot Lebensmittel von der Wohlfahrt bezog, sagte ich ihr nicht. Das Dosenfleisch konnte ich nicht vertragen und kotzte es sofort wieder heraus. Also doch magersüchtig?

      Eines Tages sagte Anna Shriver zu meinem Erstaunen zu mir: »Du bist nicht dumm. Du bist sogar gescheit, wenn du dir Mühe gibst. Du könntest Lehrerin werden.«

      »Warum sollte ich Lehrerin werden?«, fragte ich sie.

      »Damit du deinem Stamm helfen kannst. Indianerkinder zu unterrichten wie ich, wäre das nicht schön?«

      Was soll daran schön sein, du eingebildeter Pfannkuchen!, dachte ich und erwiderte: »Nein.«

      Sie wurde etwas rot im Gesicht.

      »Ich weiß, dass du es nicht leicht hast, aber du solltest mehr Vertrauen haben. Ich bin doch auf deiner Seite, wirklich.«

      Ich schwieg verstockt und sie seufzte.

      »Was soll denn später aus dir werden?«

      »Ist mir egal.«

      »So«, sagte Anna Shriver und reckte den Hals, »dann wundere dich also nicht, wenn aus dir nichts wird.«

      »Als ich mit sechs in ihre Klasse kam«, erzählte mir Elliot einmal, »gab sie mir einen Brief für meine Eltern mit. Sie sollten mir entweder die Zöpfe abschneiden oder mich zu Hause behalten. Meine Mutter schnitt mir das Haar akkurat hinter den Ohren weg. Ich weinte die ganze Nacht.«

      Mein Vater hatte wunderschönes Haar, das fast purpurn schimmerte. Er konnte nach Alkohol stinken, völlig durchgeschwitzt sein und sich tagelang nicht waschen, aber das Haar sah immer sauber aus.

      An diesem Tag war er weniger betrunken als sonst. Es war Frühling und noch kalt, Elliot hatte im Küchenherd Feuer gemacht und auch das Geschirr abgewaschen.

      »Die Shriver ist eine blöde Kuh«, sagte ich.

      »Du sollst nicht so von deiner Lehrerin reden«, sagte Elliot. »Übrigens habe ich gehört, dass sie geht.«

      »Wohin?«, fragte ich überrascht.

      »Sie geht in Rente«, sagte Elliot. Ich starrte ihn an. An diese Möglichkeit hatte ich nicht gedacht. Ich hatte immer das Gefühl gehabt, dass Anna Shriver ewig und für alle Zeiten bei uns Lehrerin blieb.

      »Vielleicht kriegen wir einen jungen, hübschen Lehrer«, rief ich entzückt.

      »Ein Lehrer hat nicht jung und hübsch zu sein«, erwiderte mein Vater mit gespielter Strenge. »Er hat euch etwas beizubringen.«

      Ein paar Tage später erklärte uns Anne Shriver, dass sie, im Bewusstsein einer voll erfüllten Lebenspflicht, den Unterricht aus Altersgründen aufgeben müsse. Nach den Ferien würde eine neue Lehrerin die Klasse übernehmen. Keinen Lehrer also, schon wieder eine Lehrerin. Alle waren sehr enttäuscht.

      Das Dorf Beaver Creek befand sich in einer kleinen Talsohle unweit der kanadischen Grenze. Von der nächsten größeren Ortschaft aus – Clinton – führte die Landstraße einen bewaldeten Hügel hinauf. Hier verkehrten nur vereinzelt Fahrzeuge, meistens Traktoren, Geländewagen oder mit Baumstämmen beladenene Trucks. Vor dem Sägewerk wendete sich die Straße nach Süden und eine Abzweigung führte nach Beaver Creek. Die Ortschaft war klein. Es gab nur einige Straßen, eine alte Kirche, den Supermarkt, die Schule. Die meisten Blockhütten hatten Dächer aus Wellblech, aber es gab auch Häuser aus Backsteinen mit Parabolantennen. Eine Reihe Getreidespeicher, grauen Wehrtürmen ähnlich, überragte die Felder. Beaver Creek wurde fast ausschließlich von Chippewa-Indianern bewohnt und funktionierte auf seine Weise ganz gut.

      Zu dem Powwow-Fest im August kamen die Teilnehmer sogar aus Calgary oder Seattle. Unsere Tänzer und Sänger waren berühmt. Es gab Indianer, die bei möglichst vielen Powwows dabei sein wollten und sich aus weiten Entfernungen nichts machten.

      »Urbans« nannten wir die Indianer, die in Großstädten lebten. Wir, im Reservat, waren die »Skins«. Das Tanzfest dauerte zwei Tage. Man hatte Tipis aufgestellt und ich hatte zugeschaut, wie die Männer Zeltstangen in den Boden rammten und dann über die festgepflockten Rippen Segeltuch spannten. Als alles fertig war, sah das Ganze sehr eindrucksvoll aus. Weißes Sonnenlicht zitterte auf den Tipis. Der Duft der Herdfeuer erfüllte die Luft, es roch nach Fladenbrot, gegrilltem Fleisch und Zuckerwatte. Liebliche Gerüche, denn ich wusste, dass ich an diesem Tag nicht hungern brauchte: Wo ich hinkam, wurde mir Essen angeboten. Ich überquerte die Tanzfläche, ein breiter, grasbewachsener Kreis. Gegen Osten stand die »Medizinhütte«, ein besonders schönes, mit Jagdszenen bemaltes Tipi. Die zehn heiligen Puppen hingen von den Verschnürungen der Zeltstangen herab. Nur die Anführer durften diesen Tipi betreten. Meine Mutter gehörte zum Stammesrat. Als ich acht Jahre alt war, hatte sie mich bei der Hand genommen und verstohlen in das Tipi geführt. Die Puppen waren in bunte Gewänder gekleidet, mit Federn, Adlerklauen und Türkisen geschmückt. Sie trugen Masken, schwarz oder rot, mit Augen aus Abalone-Muscheln, die merkwürdig schillerten. Ich spürte ihre besondere Macht und allein ihr Anblick erfüllte mich mit Staunen und Ehrfurcht. Sie waren die Geister der Natur, der Fruchtbarkeit und der Ernte, die Lichtbringer. Unter den schrägen Sonnenstrahlen schienen die Figuren zu atmen. Das Tipi war ein Globus, eine ganze Welt, gefüllt mit Zauber und Geheimnissen. Melanie hatte lächelnd ihren Finger auf die Lippen gelegt.

      »Sag nicht, dass ich dir die Puppen gezeigt habe. Die Alten würden es nicht verstehen.«

      Sie trug an jenem Tag ein prachtvolles Gewand aus Hirschleder mit langen Fransen. An dem Kleid hatte sie monatelang gearbeitet, das Leder nach traditioneller Art gegerbt und aufwändig mit Perlensträngen bestickt. Ein Kreis aus orangefarbenen und gelben Perlen in Brusthöhe stellte die Sonne dar. Rundherum erkannte man die Tiere des Waldes: Grislybär, Adler, Wolf, Fuchs, Otter. Beinlinge mit Fransen und Mokassins aus cremefarbenem Leder, ebenfalls mit Perlen bestickt, gehörten dazu. Ein großer Fächer aus Adlerfedern verlieh der Tracht einen besonderen Zauber.

      »Diese Dinge sollst du später haben«, hatte Melanie zu mir gesagt. Sie war eine zarte Frau und oft hatte ich mich gefragt, wie sie in diesem schweren Kleid tanzen konnte, waren doch ihre Schritte stets vollkommen und anmutig. Seit ihrem Tod lag das